Henri Lefebvre hat diesem Thema drei Bücher gewidmet. Diese erschienen in französischer Erstausgabe in den Jahren 1947, 1961 und 1981. Es handelt sich also um eine Beschäftigung beinahe über die gesamte Spanne eines langen und schaffensreichen Lebens. Neben der Kritik des Alltagslebens beschäftigte sich Lefebvre sehr eindringlich mit Urbanistik, was unter anderem zu seiner Rezeption in der Kunstszene beitrug, die ihn allerdings auch oft auf dieses Thema reduziert. Lefebvre war jedoch einer der ganz großen Theoretiker der Neuen Linken des 20. Jahrhunderts, der sich mit diversen Fragen des Marxismus, der Philosophie, des Staates, einer allgemeinen Theorie der Moderne und vielen weiteren Themen beschäftigte. Sein Ruhm und seine Bedeutung haben auch damit zu tun, dass der Pariser Mai quasi von seinen Studenten an der Universität von Paris Nanterre verursacht wurde, wo er einen Lehrstuhl in Soziologie der Stadt innehatte. Bis zu 2000 Student_innen besuchten Lefebvres Vorlesungen, darunter Daniel Cohn-Bendit und andere zukünftige 68-Revolutionäre. Diese Universität war eine neue, im funktionalistischen Stil erbaute Campus-Universität außerhalb des Pariser Zentrums. Wie Lefebvre selbst in einer Rückschau erklärte, war es kein Zufall, dass dort der Unmut über die Verhältnisse an der Universität und in der Gesellschaft hochkochte. Die nach Geschlechtern getrennt in funktionalistischen Wohnheimen gestapelten Student_innen sollten zu zukünftigen Kadern und Technokraten ausgebildet werden, ganz im Stil der heute so verbreiteten Fachhochschulen. Eine vollumfängliche, also wirklich universitäre Bildung war nicht angedacht. Die Student_innen von Paris Nanterre machten ihre eigenen Lebensumstände zum Ausgangspunkt einer Revolte, die Paris und Frankreich erschüttern sollte. Lefebvre selbst reflektierte den Mai 1968 als einen globalen Wendepunkt, an dem die Mechanismen und Modalitäten des Fordismus einer grundsätzlichen Kritik
unterworfen wurden.
Die philosophischen und gesellschaftlichen Wurzeln dieser Eruption reichen jedoch weiter zurück. Lefebvre wurde im Paris der 1920er aktiv, als er die Zeitschrift und Gruppe Philosophies gründete, die mit den Surrealisten und der Kommunstischen Partei Frankreichs in Kontakt stand, welcher er 1928 beitrat. Die Zeit ist geprägt von Auseinandersetzungen mit den philosophischen Frühschriften von Marx und Engels aber auch der in Frankreich spät aber intensiv einsetzenden Hegel-Rezeption. Lefebvre ging es darum, das Gedankengut von Marx frisch erscheinen zu lassen, von unverminderter Resonanz, und nicht auf die Wirtschaft reduzierbar. Lefebvre und andere sahen immer deutlicher den Schaden, den der wissenschaftliche Marxismus der stalinistischen Prägung verursachte, der sich vorwiegend auf das dreibändige Hauptwerk Das Kapital von Marx bezog. Im orthodoxen Marxismus der Sowietunion wurde ein mechanistisches Bild vom Zusammenwirken von Basis und Überbau erzeugt, wobei die gesellschaftliche Sphäre – der Überbau - als völlig von der ökonomischen Basis bestimmt gedacht wurde. Um dem etwas entgegenzusetzen, schrieb Lefebvre bereits 1938 »Dialektischer Materialismus« eine brillante philosophische Abrechnung mit dem orthodoxen Kommunismus. Doch schon damals muss die Kritik des Alltagslebens ihn sehr beschäftigt haben. Denn die Kritik des Alltagslebens führt diese philosophische Diskussion über das Wesen des Marxismus auf eine andere Ebene, weg von der politischen Ökonomie hin zu einer unklaren Kategorie: dem Alltag. Dieser wird in Bezug zu einer ganz anderen Kategorie gesetzt: jener der Revolution. Die Avantgarden in Paris, Moskau, Berlin um 1920 wollten Kunst und (Alltags-)Leben zusammenbringen. Lefebvre beobachtete, wie sich durch die Modernisierung dazu die Ausgangsbedingungen änderten.
Der Kapitalismus hatte eine Art Maschinensystem erfunden, den Fordismus. Dieser war mehr als nur eine Produktionsmethode, sondern verwandelte die Gesellschaft als Ganzes in eine Fabrik, in ein Ensemble funktionaler Einheiten, die das System der industriellen Massenproduktion ermöglichten. Im Fordismus waren die Sphären der Arbeit und der Freizeit strikt getrennt, was sich auch in der Stadtgestaltung auswirkte. Lefebvre erkannte, dass die Struktur von Freizeit und Arbeit im Fordismus sich wechselseitig bedingten: auf der einen Seite die Arbeit, das Reich der Notwendigkeit, auf der anderen Seite das Reich der Freiheit, Kultur, Genuss. Doch Genuss und die Weihen der Kultur waren nur für jene bestimmt, die nicht arbeiteten. Im selben Ausmaß jedoch wie die Industriegesellschaft und damit auch die Arbeiter Fortrschritte machten, erlaubte es der durch das Maschinensystem des Fordismus hergestellte Wohlstand, dass die Arbeitszeiten reduziert wurden und auch die Arbeiter_innen zunehmend über Freizeit verfügten. So entstanden neue gesellschaftliche Bedürfnisse, die durch die sogenannte Massenkultur beliefert weurden. Lefebvre beobachtete dabei ein »Ausmisten« des Überbaus aus dem feudalen Zeitalter, der ganze Aberglaube und Formen der Spiritualität verschwanden, damit aber auch viel kulturelle Vielfalt. Zugleich handelte es sich dabei um Mystifizierungen, das verdinglichende Denken einer vergangenen Epoche. Lefebvre beobachtete, dass der moderne Mensch der 1950er und 1960er Jahre in einem ausgeholzten Wald stand, seine inneren Welten waren nicht mehr von antiken Mythen durchdrungen, sondern von Bildern aus den Massenmedien. Viele Städte waren in diesen Jahren rasch gewachsen, Landbevölkerungen zu Stadtbevölkerungen geworden, die nun in den Wohnsilos am Stadtrand gestrandet waren und keine andere Kultur mehr hatten als jene, die aus der Retorte kam. Dabei sinkt das, was an dem früheren Religiösen, Mystischen zum Teil noch einen Aspekt des Wundervollen hatte, auf das tiefste Niveau hinab, das Wunderbare Übernatürliche reduziert auf das Bizarre und Verrückte.
Lefebvre erkannte, dass eine wirkliche Revolution nicht nur darin bestehen konnte, dass die Arbeiterklasse die Macht im Staat ergreift, sondern sich der Alltag grundlegend wandelt. Doch der Alltag war bis zu Lefebvre‘s Intervention ein relativ schwach ausgeleuchteter Begriff. Wenn die Welt sich in eine der Arbeit und der Freizeit aufteilt, und letztere sich wiederum verteilt auf eine bürgerliche Kultur und eine proletarische, dann bliebe dem Alltag selbst nur noch eine Nischenfunktion. Es bliebe noch die Familie und das Leben der Reproduktion, sofern man daraus nicht eine eigene Kategorie bildet. So ist Lefebvre‘s Werk eine Rekonstruktion des Alltags, verstanden als eine philosophische Strukturbereinigung. Kapitel haben Titel wie »Kurze Notiz«, diese ist aber über 100 Seiten lang. Ein anders Kapitel heißt »Das Unterholz klären.«[1] Es ging darum, ein adäquates Bedeutungsfeld zu finden, auf dem die Diskussion angesiedelt werden konnte. Der Weg zur Revolution führte über eine Umwälzung im Alltagsleben, beziehungsweise zunächst dessen philosophische Rehabilitierung, war Lefebvre überzeugt.
Den Schlüsselbegriff dazu bildete die Entfremdung. Der Alltag war von Entfremdung gezeichnet und eine echte Revolution müsste zu ihrer Überwindung führen. Das hieß aber auch, dass die Arbeit nicht ausgespart bleiben konnte. Die Lohnarbeit besteht oft in Tätigkeiten, die für sich genommen wenig interessant sind. Die Arbeit stumpft ab, anstatt den Menschen zu bilden, zu seiner Entwicklung beizutragen. Das ist Arbeit als entfremdete Tätigkeit. Die Arbeit ist aber auch insofern entfremdet, als ihr Objekt von jemand anderem vereinnahmt wird. Das Produkt der Arbeit bleibt nicht beim Arbeiter, sondern wird zur Ware, die in den Warenkreislauf eingeschleust wird. Das bedeutet einerseits, dass der Arbeitgeber den Mehrwert für sich einstreicht. Der Arbeiter, der auf einem Lebensminimum gehalten wird, erhält nur genau so viel, wie er zur Erhaltung braucht, den Mehrwert behält der Kapitalist. Diese Formen der Entfremdung sind strukturell. Die erste hat mit dem Charakter der kapitalistischen Arbeitsteilung zu tun, die zweite mit dem ökonomischen Modell. Darüber hinaus gibt es noch eine dritte Form der Entfremdung, die Wahrnehmung, ein entfremdetes Dasein zu führen, nicht in Einklang mit sich selbst zu sein, abgeschnitten zu sein. Diese sozusagen existenzialistische Entfremdung wurde in den 1950er und 1960er Jahren besonders stark gefühlt, als Trabantenstädte und Stadtautobahnen aus dem Boden schossen. Die Aufhebung der Entfremdung in der Arbeit ist sozusagen eine Kernidee des Marxismus. Arbeiter können frei sein, nur wenn sie den Charakter, Inhalt und die Art der Ausführung ihrer Arbeit selbst bestimmen können. Doch eben das war im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts schwer möglich. In den sozialistischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Kult der Arbeit und der Arbeiter, der aber allein auf das abstrakte Gebilde der Arbeiterklasse projiziert war. Die Arbeit selbst war keinen qualitativen Veränderungen im Vergleich zum Kapitalismus unterworfen. Den einzigen Unterschied bildeten die sogenannten Schockarbeiter_innen, die freiwillig besonders hart und besonders lang arbeiteten, um den Kommunismus aufzubauen.
Im ehemaligen Jugoslawien herrschte jedoch ein anderes System, dort gab es den »selbstverwalteten Sozialismus.« Nach Josip »Broz« Titos Bruch mit Stalin 1948 gab sich Jugoslawien eine andere ideologische Ausrichtung und fand sie im Begriff der Arbeiterselbstverwaltung. Das bedeutete, dass es in allen Betrieben Arbeiterräte gab, die Mitbestimmungsrechte hatten. Sie konnten z.B. über die Verteilung des Mehrwerts bestimmen. Damit wurde einer fundamentalen Forderung von Marx entsprochen. Zumindest eine der Formen der Entfremdung ist aufgehoben, wenn Arbeiter_innen selbst über die Verteilung des Mehrwerts bestimmen konnten. Von 1950 an wurden immer mehr Selbstverwaltungseinheiten geschaffen, auch in Kommunen, Kindergärten, Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern. Die Idee stand im Zentrum, dass im selben Ausmaß, wie der Sozialismus geschaffen wurde, der Staat absterben würde. Der Staat wurde im Einklang mit Marx und Engels als repressives Organ der Klassenherrschaft gesehen. In einem Land wie Jugoslawien aber, in dem der Sozialismus sichtbare Fortschritte machte, werde diese repressive Funktion des Staates unnötig. Diese Ideen waren in Anlehnung an die Pariser Kommune von 1871 zunächst von Marx angedeutet, dann von Engels und Lenin weiter ausgeführt worden. Doch die Sowjetunion hatte diese sozialistische Utopie vom Absterben des Staates Lügen gestraft, hier war eine neue Klasse von Machthabern entstanden, die Bürokratie als Auswuchs der Partei, die sich in jeden Lebensaspekt drängte, die Nomenklatura, der »Apparat«. In Jugoslawien entstand zumindest tendenziell ein anderer, nicht-stalinistischer Sozialismus, beruhend auf Selbstverwaltung. Eine Zeit lang mobilisierte diese Idee gewaltige gesellschaftliche Kräfte. Ab 1953 wuchs die jugoslawische Wirtschaft jährlich mit mehr als 10%, ähnlich wie bis vor kurzem China. Kritiker sagten zwar, dass die Arbeiter-Räte letztlich stark unter dem Einfluss des örtlichen Parteisekretärs standen. Außerdem wurde kritisiert, dass es Selbstverwaltung nur auf dieser lokalen Ebene gab, Entscheidungen von übergeordneter, landesweiter Bedeutung wurden weiterhin von zentralen Parteigremien in Belgrad getroffen. Die Selbstverwaltung auf der Ebene der Firma oder anderer logischer organisatorischer Einheiten jedoch existierte, sie war nicht nur eine ideologische Fabrikation. Und dieser Geschmack der Mitbestimmung ließ den Wunsch nach mehr Selbstorganisation wach werden.
Das Beispiel fand auch im Ausland Anklang, vor allem in Frankreich. Lefebvre begann, sich mit franz. »autogestion« zu beschäftigen. Andere Gruppen, die das gleiche taten waren »Sozialismus oder Barbarei« eine vom griechisch-französischen Philosophen Cornelius Castoriadis und dem Franzosen Claude Lefort gegründete Zeitschrift und Aktionsplattform. Castoriadis ging in der Frage der Selbstorganisation noch weiter, diese sollte nicht nur das Bestehende verwalten, sondern als radikales kollektives Imaginäres die Entstehung von Neuem ermöglichen. Castoriadis sprach von der selbstinstituierenden Gesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen Institutionen selbst erschafft, diese aber auch wieder abberufen kann, wenn sie versagen. Beeinflusst von Castoriadis und Lefebvre begannen auch die Mitglieder der Situationistischen Internationale S.I. sich gegen Ende der 1950er Jahre mit Selbstorganisation zu beschäftigen. Auch sie glaubten, dass die Revolution im Alltag stattfinden musste, und erfanden dazu künstlerische »Spiele« wie die Derivé oder urban drift. Anfangs noch stark von künstlerischen Ideen geprägt, wie dem Détournement, der Aneignung von künstlerischen Sprachen und Ausdrucksformen für die eigenen revolutionären Zwecke, begann die politische Seite überhand zu nehmen. Alle künstlerischen Techniken waren dem Endziel unterstellt, »Situationen« von potenziell revolutionärem Charakter zu erzeugen. War die S.I zunächst intellektuell stark unter dem Einfluss von Lefebvre gestanden, kam es zum Bruch mit dem Meister und Raoul Vaneigem schrieb das Buch Die Revolution des Alltagslebens. Diesem sehr poetischem, in freizügigem Stil geschriebenen Buch, sagt man nach, viele der Ideen und Slogans des Pariser Mai 1968 zu enthalten.
In Jugoslawien begann die Maschine des Wirtschaftswachstums in den 1960ern zu stottern.
Doch das Land blieb auf einem Pfad der Reformen, der Demokratisierung von unten und innen (zum Unterschied von der Mehrparteiendemokratie) und nahm Selbstverwaltung 1963 sogar in die Verfassung auf. Die Wirtschaftsreformen von 1965 gingen noch weiter in die Richtung von Kapitalismus und Marktwirtschaft, so dass Jugoslawien ein »dritter Weg«» zugeschrieben wurde, ein »Marktsozialismus«. Doch auch diese Reformen brachten nicht schnell genug den erwünschten Erfolg und ein Phänomen breitete sich im Land aus, das es offiziell im Sozialismus gar nicht geben konnte, die Arbeitslosigkeit. Befördert durch bilaterale Abkommen mit Österreich und der BRD begann ein Strom der Abwanderung der Arbeitskräfte nach Norden. Zugleich bestätigten gewisse Ereignisse, dass die Selbstverwaltung Grenzen hatte, und zwar dort, wo sie an die Macht eines nach wie vor autokratischen Parteiapparats stieß. 1966 wurde zwar Aleksandar Ranković abgesetzt, der Chef der allmächtigen Geheimpolizei, was ein schwerer Schlag für konservative Kommunisten war, doch der Jugend ging das alles nicht weit genug. Im Juni 1968 fand der jugoslawische »Mai 68« statt, zunächst mit einem Aufstand in einem riesigen Studentenheim in Novi Belgrad, also einem Ort nicht ganz unähnlich jenem in Paris Nanterre. Die Revolte breitete sich schnell ins Belgrader Zentrum aus und in andere Städte wie Zagreb und Ljubljana. Die Belgrader Hauptuni wurde besetzt und in »Rote Universität Karl Marx« umbenannt. Ein riesiger Unterschied bestand jedoch zwischen 68 in Jugoslawien und in anderen Ländern. Die Studenten in Jugoslawien sprachen sich nicht für einen kompletten Politikwechsel aus, sondern dafür, die auf der Ebene der Verfassung und der Gesetzgebung bereits bestehende Politik endlich wirklich umzusetzen. Mit anderen Worten, sie verlangten, mit der Selbstverwaltung ernst zu machen und praktizierten das auch gleich selbst. Neue Universitätsräte wurden gegründet, unabhängig von den Studentenverbindungen, die von der Liga der jugoslawischen Kommunisten dominiert wurden. Plenarsitzungen wurden eingeführt, in denen jede/r gleiches Rederecht hatte. Die selbstverwaltete Demokratie dauerte jedoch nur sieben Tage. Das Regime wandte eine geschickte Doppelstrategie an: einerseits wurde den Student_innen recht gegeben, andererseits begann eine stille Kampagne der Repression. Am siebenten Tag der Uni-Besetzung verkündete Tito im Fernsehen, dass die Studenten recht gehabt hatten, zu demonstrieren. Er selbst habe dabei versagt, die Selbstverwaltung wirklich umzusetzen. Jetzt werde man aber alles tun, um den Reformstau zu beheben. Sollte es nicht gelingen, werde er sogar zurücktreten. Den Studenten schlug er vor, nun da sie Recht bekommen hatten, nach Hause zu gehen und ihre Studien wieder aufzunehmen, und das taten die meisten auch. Zugleich jedoch wurden die sichtbarsten Köpfe der Studentenbewegung von ihren Positionen abgesetzt, unliebsame Zeitschriften dicht gemacht, oder ganze Redaktionen ausgetauscht. Als Teil dieser Doppelstrategie wurden auch neue Institutionen geschaffen, überall in Hauptstädten des ehemaligen Jugoslawiens wurden Studentenkulturzentren aufgemacht. Diese wurden zur Keimzelle einer neuen Kulturrevolution wo sich internationale Underground-, Musik- und Jugendkultur jugoslawischer Prägung austoben konnte, aber auch Performance, Installationen, Happenings. Hier wurde die Revolution des Alltagslebens noch am ehesten sichtbar gelebt. Doch bei den Studentenkulturzentren handelte es sich um Reservate, um kleine, vom Regime zugestandene Freiräume, die mit der Mehrheitsbevölkerung nichts zu tun hatten. Ab 1972, im Anschluss an die Niederschlagung des »Kroatischen Frühlings« wurde die Doppelstrategie erweitert: Repressionen gegen kleine kritische Gruppen, gegen Künstler und Kulturzeitschriften; zugleich aber mit Auslandsschulden finanzierter sozialistischer »Konsumerismus« für die Massen. Der Zeitraum 1972 bis 1974 wird als kritische Phase für Jugoslawien gesehen, als das Ende des jugoslawischen Sonderwegs. Es ging dabei nicht nur um das Scheitern der Selbstverwaltung als limitierte Form der innerbetrieblichen Mitbestimmung, sondern als politisches Experiment, als Fundament, auf dem die gesamte Gesellschaft aufsetzte. Laut Branislav Jakovljević[2] war es das Scheitern der Selbstverwaltung – mehr als alles andere – , das den Weg zur gewaltsamen Selbstzerstörung des Landes in den 1990er Jahren vorzeichnete.
Die Studentenbewegungen von 68 hatten mit Slogans wie »Alle Macht der Fantasie« oder »Seid realistisch, fordert das Unmögliche« zur Revolution des Alltagslebens aufgefordert. Dabei hatten sie jedoch kaum bestimmte Vorstellungen, wie diese Revolution aussehen sollte. Das blieb anderen überlassen, den Künstlern, den Hippies, den Kommunarden und anderen Experimentierern mit neuen Lebensräumen und Formen. 68 war ein Funke entzündet worden, der sich in der Welt verbreitete. Die Macht im Staat zu erlangen, konnte nicht Selbstzweck einer Revolution sein. Es ging um viel mehr, um Feminismus, Black Power, die Dritte Welt und die Befreiung der Sexualität – das radikal gesellschaftliche Imaginäre einer ganzen Generation. Diese Revolutionen – die sich selbst instituierenden Bewegungen – bestimmten für viele das Lebensgefühl der 1970er Jahre und wirken bis heute nach. Die Kritik und Revolution des Alltagslebens wurden aber auch in neue gesellschaftlich Bedürfnisse kanalisiert. Eve Chiapello und Luc Boltanski behaupten in ihrem einflussreichen Buch The New Spirit of Capitalism, dass die Energien von 68 letztlich nur zu neuen Produkten und Arbeitsweisen geführt haben, die nun den neuen Geist des (Info)Kapitalismus bilden. Während ich das schreibe, sitze ich in einem Coworking-Café in Berlin Kreuzberg. Wenn ich mich hier umsehe, so ist die These von Chiapello und Boltanski sicher nicht ganz unbegründet – hier kann man in cooler Atmosphäre am Laptop und mittls WiFi arbeiten – doch die Betonung liegt auf Arbeit, wie auch immer selbstverwaltet. Das Reich der Notwendigkeit und das Reich der Freiheit sind nun verschmolzen. Zugleich wäre es falsch, den Geist von 68 für diese neuen Entwicklungen allein verantwortlich zu machen. Die Kritik und Revolutionen des Alltagslebens haben einen Überschuss geschaffen, ein Reservoir an Utopien und Entwürfen. Nicht alle wurden in kapitalistische Produkte gemünzt, nicht alle wurden ausgelebt, gerade das muss uns heute wieder interessieren als Potenzial, das es anzuzapfen gilt.