1. Gedankenausflug
Ich lade Sie ein, mir in einen großen schmucklosen Raum zu folgen. Stellen wir uns vor, 15 Menschen diskutieren darin über ein bestimmtes Thema. Einige vertreten ähnliche, andere wiederum gegensätzliche Meinungen, und natürlich verfolgen sie auch nicht die gleichen Interessen.
Diesmal soll über die Sicherheit einer Stadt debattiert werden, und dabei genießt der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den wenigen Bettlern oberste Priorität. Ernsthaft wird fast eine Stunde debattiert, und vielleicht sinniert ja der eine oder andere der Beteiligten darüber, dass diese Überle-gungen angesichts der Auswirkungen des Klimawandels und einer Armuts-gefährdung von 1,5 Millionen Menschen in Österreich – um nur diese Punkte zu nennen – als Problem auf sehr hohem Niveau eingestuft werden könnten.
Doch was hört man da? Eine politisch konservativ denkende Frau meint, nicht die Armut stecke hinter der Bettelei, sondern die kriminelle Energie, einer der Anwesenden nickt zustimmend und meint, man sollte die Bettler doch zivil beobachten. Eine Frau erinnert an das Betteln als Menschenrecht und vertritt die Auffassung, Bettler sollten daher weder gestraft noch vertrieben werden. Ein Mann widerspricht ihr energisch.
Man wäre wohl ein Schelm, würde man da denken, einer offiziellen politischen Diskussion gelauscht zu haben.
2. Fakten
Nach diesem Gedankenausflug kurz ein paar Fakten: Seit mehr als sieben Jahren will der Ordnungsdienst, auch Stadtwache genannt, Linz vor Angriffen jeglicher Art schützen. Bis zu 30 »Wächterinnen und Wächter« ziehen von 6 bis 24 Uhr ihre Runden. Diese Maßnahme verursacht jährliche Kosten von beinahe 1,4 Millionen Euro. Was tun sie?
Die Mitarbeitenden des FPÖ-Projekts hatten anfangs keine offizielle Befugnis, ihre Aufgabe bestand lediglich darin, Gefahrenquellen zu melden, sich um unnötigen Müll und Verschmutzung durch Tierkot zu kümmern und einiges mehr, zudem sind sie als Anlaufstelle für Beschwerden gedacht. So wie es begonnen hat, blieb es aber nicht. Die Befugnisse der Stadtwache wurden nämlich mit der Zeit mehr und mehr ausgeweitet, so erscheint es zumindest mir.
Im Juli 2011 wurde »organisiertes« und »aufdringliches« Betteln – wo beginnt es? – in Oberösterreich verboten. Die Stadtwache wurde berechtigt, Ausweise von den Bettelnden zu verlangen und diese, sofern sie als aggressiv eingestuft wurden, bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Einige gingen dieser Aufgabe besonders eifrig und herablassend nach. Als nächstes wurden die Ordnungshüter quasi zu Parksheriffs befördert und durften somit Strafzettel verteilen.
Die Damen und Herren Wächterinnen und Wächter sollten dann mit einer »Schulung«, die wohl für jeden Profi auf diesem Gebiet eine Beleidigung seiner Ausbildung und Kompetenzen darstellt, sogar Sozialarbeit übernehmen, und seit 1. Oktober 2017 überwachen sie die Ordnung unserer Stadt in Zivil, was mich an wenig demokratische Zeiten denken lässt. (Details in der sehr gut aufgearbeiteten Chronologie unter: https://www.stadtwachelinz.at/)
3. Bettler unter ziviler Kontrolle
»Das ist geschehen, die Abstimmung, ob die Stadtwache künftig in Zivil Bettlerinnen kontrolliert, endete mit vier Ja- und vier Nein-Stimmen. Somit gibt es keine politische Mehrheit«, fasst die Gemeinderätin Alexandra Schmid (die Grünen) zusammen. »Die saubere weitere Vorgehensweise wäre, dass der Antrag zur Enderledigung noch einmal in den Gemeinderat kommt. Stattdessen hat Wimmer (Anm.: Vizebürgermeister Detlef Wimmer, FPÖ) den zuständigen Aufsichtsrat befasst. Der Gemeinderat, das demokratisch gewählte Gremium, wurde bei dieser Entscheidung umgangen - das geht, aber demokratiepolitisch ist das bedenklich«, fügt Alexandra Schmid hinzu. Bürgermeister Luger ermöglichte letztendlich die zivilen Kontrollen, sein Vorgänger Franz Dobusch hat dies noch per Weisung untersagt.
Und warum eigentlich Kontrollen in Zivil? Die Bettler, so die Pro-Argumentation, würden beim Anblick der uniformierten Stadtwache sofort ihre ursprünglichen Plätze verlassen, es wäre somit schwieriger, ihre Ausweise zu verlangen und eine Geldstrafe von ihnen einzuheben.
4. Weitere geplante Kompetenzen
Die Befugnisse – wir erinnern uns, anfangs war noch von keinen Befugnissen die Rede – sollen, scheint es, zunehmend ausgeweitet werden. So wird bei der immer wiederkehrenden Diskussion um ein eventuelles Alkoholverbot in den Parkanlagen der Stadt eine Kontrolle seitens der Stadtwache angedacht. Auch die Polizei hat hier eine differenzierte Sichtweise. Von der Sinnhaftigkeit einmal abgesehen, sei noch ein anderes Problem mit zu bedenken, so Schmid. Situationen mit schwer alkoholisierten, möglicherweise auch aggressiven Personen erfordern erfahrene und gut ausgebildete Personen - und das ist die Polizei.
Wie sich die Ordnungshüter in einer als heikel und gefährlich zu bezeichnenden Situation verhielten, will ich mir gar nicht im Detail vorstellen. Ich erinnere mich etwa an eine Situation, als mir nach einer Kulturveranstaltung zwei Ordnungshüter angesichts eines friedlich vor sich hinsingenden Betrunkenen doch überfordert schienen.
5. Eine Begebenheit
Eine Frau – sie will namentlich nicht genannt werden – war an einem Maitag dieses Jahres in Richtung Mozartkreuzung unterwegs. Dort hörte sie, wie einige Stadtwächter sagten: »Da hab‘ ich einen Zeck‘ gesehen.« Ein Kollege fügte noch hinzu, dass sich an einem Ort noch zwei weitere befinden würden, womit sie eindeutig Bettler meinten. Zeugen für diesen Vorfall hat die Frau keine. Als sie mir diesen Vorfall erzählt, muss ich unwillkürlich an die menschenverachtende Terminologie des Dritten Reichs denken, die sich vor allem in einem entpersonalisierten Vokabular, wie etwa Menschenmaterial oder Endlösung manifestierte.
Meine Gesprächspartnerin hat diesen Vorfall zunächst der SPÖ-Zentrale gemeldet und wurde an das Bürgerservice weiterverwiesen. In dessen Schreiben erhielt sie die Antwort und Aufklärung, dass zu der von ihr angegebenen Zeit gar kein Ordnungsdienst unterwegs gewesen sei, insofern habe sich die Frau wahrscheinlich geirrt und Passanten mit Mitgliedern der Stadtwache verwechselt, so das Bürgerservice in seinem abschließenden Kommentar.
Die Frau, die im Gespräch mit mir nicht nur den Eindruck erweckt, als sei sie im Besitz ihrer Sinne, sondern zudem engagiert wirkt, erhielt diesen Brief mit ihrer vollen Namensnennung, das heißt auch mit Nennung ihres zweiten Vornamens, den sie aber bei ihrer Beschwerde gar nicht angegeben hatte. Nun vermutet sie, dass dieser nur über das Zentrale Melderegister zu eruieren gewesen sei. Es sei denn, sie irrt sich und verwechselt da etwas.
6. Eine eigene Beobachtung
Ich wähle einen beliebigen Tag und gehe an einem frühen Nachmittag zu einem als neuralgisch bezeichneten Ort der Stadt: dem Linzer Hauptbahnhof. Wenn ich hier die Gratiszeitungen durchblättere, entsteht bei mir bisweilen der Eindruck eines Schauplatzes im Schauplatz oder: zweimal Bahnhof in zwei Perspektiven.
Es passiert mir nämlich mehrmals, dass sich mein momentaner Aufenthaltsort mit jenem, über den ich gerade lese, deckt. Ich empfinde das als ein wenig grotesk, so als würde ich mangels Phantasie mit jedem Umblättern die Bühne wechseln, was bei einem Bericht über eine Gartenmesse durchaus angenehm sein kann, darüber hinaus aber …
Migrantenströme quellen da aus den Umsonstblättern, direkt hinein in die Hallen des Bahnhofs, gewalttätige dunkelhäutige Männer machen das Ankommen und Abfahren unsicher, da gibt‘s freilich einiges zu schützen und zu kontrollieren. Natürlich habe auch ich einige Male Vorkommnisse mit Alkohol und Aggression am Bahnhof erlebt. Der Vollständigkeit halber sei aber erwähnt, dass ich mich selten mitten in der Nacht dort aufhalte. Während des Tags habe ich früher jedoch regelmäßig bis zu sechs Mitglieder des Ordnungsdienstes und auch Polizei dort gesehen.
An diesem Nachmittag begegnet mir ein anderes Bild. Eine Frau bittet mich um Geld, entfernt sich aber sofort, als ich den Kopf schüttle, ein paar Trinkfeste grölen in den Stehcafés. Doch wo bleiben die Männer und Frauen in den roten Uniformen? Ich sehe sie nicht.
Plötzlich bemerke ich einen prüfenden Blick, der mir folgt, nach ein paar Minuten nimmt mich der dazugehörige Mann noch einmal ins Visier. Ich, als Beobachtende werde also ebenfalls beobachtet. Diese Entdeckung irritiert mich. Mit einem zu sehr schlendernden Schritt macht man sich an diesem Ort offensichtlich verdächtig.
7. Ein barocker literarischer Ausklang:
Ende Oktober habe ich die Autorin Birgit Schwaner bei einer Lesung in Wien gehört. Sie erzählt in ihrem neuen Buch Jackls Mondflug von einem realen Fall, der sich Mitte des 17. Jahrhunderts im Land Salzburg zugetragen hat. Der Fall habe sie interessiert, sagt sie einleitend, weil er Parallelen zur Gegenwart aufweise. Dieser mittellose Jackl zog damals mit seiner Mutter Almosen sammelnd durch die Gegend, sie wird schließlich als Hexe verbrannt, er flieht und bald wird nach ihm gefahndet. Die missliebigen Bettler sollen aus der Welt geschafft werden, Hysterie und Aberglauben haben Hochkonjunktur. Um dieses Ereignis schlingt die Autorin dann ihre Geschichte.
Die weitere Geschichte der Stadtwache schlingt wohl die neue politische Situation um die Zukunft. Aber da gibt es ja noch die Linzerinnen und Linzer...