Die Tragweite der Ungerechtigkeit vermessen

Über Philip Scheffners Film REVISION (DE 2012)

Der Film beginnt mit einem Anhaltspunkt, von dem aus die Geschichte einen Anfang von vielen nimmt: zu sehen ein Maisfeld, ein Mähdrescher in Betrieb, wolkenloser Himmel. Noch keine Orientierung. Nachdem das Erntegerät verstummt ist, setzt die Stimme des Regisseurs aus dem Off ein: »Nadrensee, Mecklenburg-Vorpommern, 29. Juni 1992«. An diesem Tag werden in den frühen Morgenstunden zwei rumänische Staatsbürger auf besagtem Feld – damals bepflanzt mit niedrig stehender Wintergerste – von Jägern erschossen. Erste Informationen setzen uns davon in Kenntnis, dass sie von Bauern gefunden werden, die ins Dorf gehen, um die Polizei zu verständigen. Die Beamten treffen nach den Feuerwehrleuten ein, die gerufen wurden, weil das Feld brennt. Was folgt, ist eine Reihe von atemberaubenden Versäumnissen, die zugunsten der Täter die Familien der Getöteten treffen.

Wieder Hinschauen

Scheffner bedient sich in seinem vielbeachteten Film1 REVISION kriminaltechnischer Mittel, um sich den Ereignissen des 29. Juni 1992 anzunähern. Er und Merle Kröger, Mitautorin und Produzentin des Films, begeben sich zwanzig Jahre nach dem Ereignis zurück an den Tatort, um den Fall filmisch aufzurollen. Scheffner inszeniert mit den Bauern, Feuerwehrmännern, den Kriminalkommissaren und weiteren involvierten Personen eine Ortsbegehung am Feld, die 1992 und auch in den Jahren danach so nie stattgefunden hat. Er fragt die Beteiligten nach ihren Wahrnehmungen, Lücken treten ans Tageslicht. Er versucht mit Hilfe eines Astronomen, die Lichtverhältnisse zu rekonstruieren, die am 29. Juni 1992 frühmorgens auf dem Feld geherrscht haben mussten. Er begeht das Feld, das die Film- und Medienwissenschaftlerin Lena Stölzl als »Bühne für die Auseinandersetzung und Zerlegung des historischen Gegenstands«2 bezeichnet und zählt Schritte, um Entfernungen auszuloten, setzt die Kamera ein, um mit ihr den Blick durch ein Zielfernrohr zu simulieren. Und er sucht die Hinterbliebenen der Toten auf, um mit ihnen jene Gespräche zu führen, die von Justiz und den Tätern nie gesucht wurden. Niemand hat es der Mühe wert befunden, die Familien über die Ereignisse des 29. Juni 1992 zu informieren, geschweige denn sie davon in Kenntnis zu setzen, dass es Gerichtsverhandlungen gab, die sich über mehrere Jahre hinzogen und letztendlich mit einem Freispruch für die Jäger endeten, die behauptet haben, sie hätten die Männer im Feld auf einer organisierten Jagdtour mit Wildschweinen verwechselt.

Eine der dokumentarischen Methoden Scheffners besteht darin, das Interview mit dem_der jeweiligen Gesprächspartner_in auf Tonband aufzuzeichnen und es dem_der Sprechenden noch einmal vorzuspielen. »Gefilmtes Zuhören«3 nennt Scheffner diese Methode, die einen Akt der Selbstvergewisserung und der Zeug_innenschaft ermöglicht: wir sind in der Position, die Aussagen aufzunehmen, so auch die Sprechenden. Die Reaktionen der Menschen auf das von ihnen Gesagte hält Scheffner mit der Kamera fest. Manchmal nicken die Menschen zustimmend, manchmal berichtigen oder ergänzen sie ihre Aussagen, manchmal blicken sie entrückt zu Boden oder auf die Decke, Unterbrechungen werden eingefordert. Nicht von Anfang an wird die Identität der Erschossenen preisgegeben. Zuerst sprechen die Familien. Die Frauen schildern die Toten als gute Ehemänner, die in Deutschland gearbeitet haben, um sie und die Kinder zu versorgen. Die Familie von Grigore Velcu, genannt »Parizan«, lebt zum Zeitpunkt seines Todes in Deutschland, die Familie von Eudache Calderar in Rumänien. Als die beiden Männer in Nadrensee erschossen werden, haben sie gemeinsam mit anderen Männern von Rumänien kommend illegal die polnisch-deutsche Grenze übertreten. Eine geregelte Einreise ist zu dem Zeitpunkt unmöglich. In der Gegend hat sich rumgesprochen, dass nach der Wende zahlreiche illegale Grenzgänger_innen unterwegs sind, so gibt es Norma Pahl, Fachdienstleiterin für öffentliche Ordnung und Sicherheit, vor der Kamera zu Protokoll.
Jede_r der Befragten legt für sich einen Anfang der Geschichte fest. Für die eine beginnt sie mit dem Abholen des Zinksarges am Flughafen, für den anderen am Feld. Die Familien zeigen Fotos in die Kamera, auf denen Grigore Velcu und Eudache Calderar zu sehen sind. Viele der Kinder haben keine plastischen Eindrücke von den Vätern, sie habe keine Erinnerungen, nur die Fotos, sagt eine Tochter zum Ende des Films. Je mehr sich die Informationslandschaft, die Scheffner in REVISION mit den von ihm in Anschlag gebrachten Mitteln konstruiert, verdichtet und fassbar wird, was sich in den Morgenstunden des 29. Juni 1992 zugetragen haben hätte können, umso unfassbarer erweist sich der Umgang von Justiz und Behörden mit dem Fall.

The Downward Spiral

Mit der Verdichtung der Indizien stellt sich heraus, dass zum Beispiel die Aussage von Iamandiţa Gogu – der mit der Gruppe um Eudache Calderar und seinem Freund Grigore Velcu die Grenze überquerte und die Tötung der Männer mitansehen musste – aufgenommen wurde, aber in den Gerichtsverhandlungen niemals Berücksichtigung fand. Später wird der zuständige Gerichtsmediziner Dr. Philipp vor der Kamera sagen, dass er von dieser Tatsache nicht durch die Polizeiermittlungen, sondern durch die Presse erfahren habe. Die Polizei trifft am 29. Juni 1992 erst acht Stunden nach den Erschießungen ein, mittlerweile brennt das Feld, Eudache Calderar und Grigore Velcu können nur noch tot geborgen werden. Die Familien der Toten berichten, dass sie nie über den Tathergang, sondern lediglich darüber informiert wurden, dass ihre Angehörigen tot sind. Keine Erklärungen, keine Entschuldigungen, keine Entschädigungen. 1992 befinden sich die Schützen kurzzeitig in Haft, Gerhard R. wird nach einem Tag, Heinz Katzor nach vier Tagen Haft entlassen. 1994 wird von der Staatsanwaltschaft Stralsund eine Anklageschrift gegen die Jäger wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit versuchtem Mord sowie unterlassener Hilfeleistung verfasst. 1995 erkundigt sich der ZDF-Fernsehredakteur Lutz Panhans bei der Staatsanwaltschaft nach dem Verfahren und erhält die Auskunft, dass es eingestellt wurde. 1996 wird dann doch die Hauptverhandlung gegen Katzor und R. eröffnet, das Gericht stellt fest, dass die Zeugen nicht erreichbar seien. Was das Gericht wohl nicht erwähnt, ist, dass die Männer, die in der Nacht des 29. Juni 1992 mit Eudache Calderar und Grigore Velcu unterwegs waren, nach der Verschärfung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland 1993 nach Rumänien abgeschoben wurden. Der Prozess wird vertagt mit dem Ergebnis, dass erst 1999 – drei Jahre nach dem ersten – der zweite Prozesstag stattfindet. Die Täter werden freigesprochen, weil keine Übereinstimmung der Munition von Katzor und R. mit dem in einen der Toten eingedrungenen Projektil festgestellt werden konnte. Die Staatsanwaltschaft legt Berufung ein, 2002 wird diese vom Gericht als unbegründet verworfen. Weder die Familie Velcu, noch die Familie Calderar wussten vom Prozess, niemand hat sie kontaktiert. Der Rechtsanwalt des Schützen Katzor sagt gegen Ende des Films vor der Kamera aus, dass der Fall damals trotzdem der Haftpflichtversicher-ung seines Klienten gemeldet wurde, da das so üblich sei. Damit die Versicherung aber Entschädigungen an die Hinterbliebenen zahlen kann, müssen die sich melden. Da die Familien von Eudache Calderar und Grigore Velcu über dieses Prozedere nicht informiert wurden, ist der Anspruch auf Entschädigung 2011 aber schon längst verjährt. An diesem Punkt fällt der Filmemacher Scheffner, der dem Rechtsanwalt Ferdinand Wehage im Off gegenüber sitzt, das erste Mal aus der Rolle. Das merkt man sowohl auf der Tonebene als auch an der Reaktion Wehages. Auf die Frage Scheffners, warum die Familien der Getöteten nicht über den Prozess in Kenntnis gesetzt wurden, antwortet der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund, sie hätten für das Gerichtsverfahren keine Rolle gespielt.

...aber manche sind gleicher...

Das absurde und menschenverachtende Ausmaß der »Geschichte des Verdränges und Verdeckens«4 im Fall Calderar und Velcu wird in REVISION spürbar. Es vermitteln sich die somatischen Reaktionen, die von den Angehörigen geschildert werden, Zusammenbrüche und chronische Kopfschmerzen, sich in den Körper einschreibende Traumata. 1992, ein paar Monate nach den Schüssen von Nadrensee, wird das Heim für Asylsuchende nahe Rostock, in dem die Zeugen der Tat eine zeitlang untergebracht waren, von Neonazis unter Anfeuerung der autochthonen Bevölkerung attackiert. Romeo Tiberiades Familie lebt zu diesem Zeitpunkt in diesem Heim. Tiberiade – Referent für Angelegenheiten der Roma und Bezirksrat in Craiova/Rumänien, wo sein Freund Grigore Velcu wohnte – weist vor der Kamera darauf hin, dass es damals eine Reihe solcher Vorfälle gab. In einer Szene von REVISION sitzt der Redakteur Lutz Panhans vor einem Fernseher, in dem sein Fernsehbeitrag von 1995 über die Schüsse von Nadrensee läuft. Zum Schluss des Features sagt Panhans: »Man stelle sich vor, eine Gruppe von Sinti und Roma hätte zwei Deutsche erschossen  und wäre heute – drei Jahre später – noch nicht vor Gericht gestellt.« Diese Aussage verweist auf die unterschiedlichen Maßstäbe, die angelegt werden, wenn eine Gewichtung des Lebens eines Toten und seiner Hinterbliebenen vorgenommen wird. Dass eine Wertung stattfindet, macht REVISION mit all den aufgezeigten Lücken in der Geschichte von Eudache Calderar und Grigore Velcu deutlich.

Kurz vor Schluss von REVISION sitzen wir mit ein paar der Velcus im Auto auf dem Weg nach Saragossa. In den Sommermonaten arbeiten sie in Spanien, im September kehren sie nach Hause zurück. Die Velcus betonen, dass sie durch die legale Einreise in europäische Länder besser für ihre Familien sorgen können. Sie bezeichnen die EU als Chance. In Spanien verdienen sie viel besser als in Rumänien. »Viel besser« bedeutet in diesem Fall vier bis fünf Euro die Stunde.

In ihrem Statement zum Film schreiben Merle Kröger und Philip Scheffner, dass die vielen Toten an den Grenzen Europas als »stumme Zeugen« eines »europäischen Sicherheitsdiskurses [erscheinen], der sich vor allem um sich selbst dreht – und die Toten billigend in Kauf nimmt.«5 Die Organisation UNITED for Intercultural Action verzeichnet auf ihrer Webseite 33.305 Menschen, deren Tod im Zeitraum von 1. Jänner 1993 bis 29. Mai 2017 auf die restriktive Einwanderungspolitik Europas zurückzuführen ist.6 Man möchte sich nicht die Dunkelziffer ausmalen.
 

[1] Ein paar Rezensionen gibt es auf der Webseite zum Film nachzulesen, siehe http://revision-film.eu/de/2/reviews, aufgerufen am 16. November 2017.
[2] Stölzl, Gudrun Lena: Filmische Verortungen von Geschichte. Bewegungen des Sichtbarmachens historischer Schauplätze. Wien 2017, S. 94.
[3] Merle Kröger und Philip Scheffner: »Director‘s Statement« zu REVISION http://revision-film.eu/de/2/film-texts-revision/directors-statement, aufgerufen am 20. November 2017.
[4] Stölzl, Filmische Verortungen von Geschichte, S. 93.
[5] http://revision-film.eu/de/2/film-texts-revision/directors-statement, aufgerufen am 20. November 2017.
[6] http://www.unitedagainstracism.org/wp-content/uploads/2017/06/UNITEDListOfDeathsActual.pdf, aufgerufen am 21. November 2017.

Filmstill aus "Revision" von Philip Scheffner (Bild: Kröger/Scheffner)