Die Liebe kommt zum Schluss

Was die Lebensgeschichte der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller und Ludwig Wittgensteins Pädagogik miteinander verbindet, erläutert Magnus Klaue.

Fünf Jahre, bevor er mit »Bonnie and Clyde« einem breiten Publikum bekannt wurde, drehte Arthur Penn 1962 mit »The Miracle Worker« (dt.: »Licht im Dunkel«) einen Film über die Bedeutung der Erziehung für den Begriff der Zivilisation. Anne Bancroft, die im Jahr des Erscheinens von »Bonnie and Clyde« mit der Rolle der Mrs. Robinson in Mike Nichols‘ Coming-of-Age-Film »The Graduate« (dt.: »Die Reifeprüfung«) Erfolg hatte, spielt darin die Rolle der sehbehinderten Lehrerin Anne Sullivan, die 1887 in einen abgelegenen Ort in Alabama zieht, um ein taubblindes Mädchen zu unterrichten. Wie »Bonnie and Clyde« beruht »The Miracle Worker« auf einer realen Geschichte. Vorbild der siebenjährigen Schülerin war die 1880 als Kind eines Offiziers der Konföderierten Armee und seiner zwanzig Jahre jüngeren Ehefrau geborene Helen Keller, die im Alter von 19 Monaten nach einer Hirnhautentzündung das Hör- und Sehvermögen verlor. Infolge der Behinderung verlernte sie bald die Fähigkeit zu lautsprachlichen Äußerungen. In der Erziehung des Kindes überfordert, wandten sich die Eltern an das New England Asylum for the Blind in Boston, das die 21-jährige Lehrerin Anne Sullivan Macy nach Alabama schickte. Diese hatte aufgrund der fahrlässigen Behandlung einer Hornhautinfektion vom fünften Lebensjahr an große Teile ihres Sehvermögens eingebüßt und war am Bostoner Institut Schülerin von Laura Bridgeman gewesen, der es als erstem taubblinden Menschen gelungen war, die Sprache zu erlernen. Von Bridgeman kannte Macy das Fingeralphabet, mit dem Taubblinde die Bedeutung von Wörtern und Sätzen erlernen können. Mit seiner Hilfe wollte sie Helen Keller unterrichten.

Penns Film lässt Kellers spätere Karriere als Schriftstellerin außen vor und konzentriert sich auf die Zeit ihrer Kindheit bis zum Beginn des Spracherwerbs. In Art eines Kammerspiels schildert er die Bemühungen der Lehrerin, im Konflikt mit den Eltern, die ihre Tochter mit einer Mischung aus Sentimentalität und Angst gegen fremde Einflüsse glauben beschützen zu müssen, einen Zugang zu Helen zu entwickeln. Fortschritte macht sie dabei erst, als ihr klar wird, dass es dem Mädchen nicht hilft, wie eine Minderbemittelte, ja im Grunde »wie ein Tier« behandelt zu werden, das nach Belieben getätschelt oder fortgeschickt wird, weil man ihm sowieso nichts als Fürsorge meint entgegenbringen zu können. Zum Entsetzen der Eltern tritt Anne gegenüber Helen autoritär, fordernd und strafend auf. Wenn diese sich weigert, mit Besteck zu essen, die Serviette zu benutzen, wenn sie nicht aufhört, Gegenstände auf den Boden zu werfen, und ständig ruhelos umherrennt, schreit Anne ihre Schülerin an, schlägt sie mitunter und wiederholt das pädagogisch erwünschte Verhalten so oft, bis Helen die Regel akzeptiert hat. Was der Film in für die damalige Zeit verstörenden Szenen vorführt – Lehrerin und Schülerin kämpfen miteinander, ziehen sich an den Haaren, werden handgreiflich, sperren sich gegenseitig aus dem Zimmer aus –, ist nichts anderes als die Tatsache, dass jeder Erziehung, auch einer solchen, die auf Vermittlung, Sanftheit und Freiheit zielt, ein Moment von Dressur innewohnt. Damit diese die menschliche Sprache erlernen kann, erzieht Anne Helen als das der Tierheit entsprungene Menschenwesen, als das ihre Eltern sie nicht ernst nehmen.

Nach und nach stellen sich Fortschritte ein, die zunächst nur Helens Mutter erfreuen, während der Vater sie für läppisch hält. Das Kind lernt, ordnungsgemäß seine Serviette zu falten, und es lernt, dass es manchmal auf Dinge warten muss, die es am liebsten gleich bekäme. Allmählich wird dadurch die von der Kommunikationslosigkeit hervorgerufene Panik besänftigt, die Helen sonst dazu trieb, ununterbrochen umher zu rennen, um sich zu schlagen und wild zu schreien. Sprachfähigkeit, diese Lektion bringt die Lehrerin schließlich sogar dem Vater bei, kann sich erst entwickeln, wenn die Angst vor der Welt nicht mehr übermächtig ist. Mit dem Umschlag der Dressur, die das Kind ermächtigt, die Angst vor dem Unbegriffenen durch Achtung vor den Regeln des Zusammenlebens im Zaum zu halten, ins sprachlich vermittelte Begreifen der Wirklichkeit endet der Film. Eines Tages – im Garten, nicht im Haus, und in Abwesenheit der Eltern – erkennt Helen die Verbindung zwischen dem zuvor unbegriffenen Fingeralphabet und den Objekten der Außenwelt, die dadurch bezeichnet werden. Was sich zuvor endlos hinzuziehen schien, vollzieht sich nun wie in einer einzigen langen Sekunde, die alles verändert: Als Wasser auf ihre Hände fließt, ergreift Helen die Hände der Lehrerin und buchstabiert das Wort. In Annes Reaktion erkennt sie Zustimmung, läuft, begeistert vom eigenen Begreifen, durch den Garten und buchstabiert die Namen all dessen, was sie sieht. Schließlich buchstabiert sie gemeinsam mit Anne das Wort »Lehrerin«, während Anne, die Helens Eltern erklärt hatte, dass man ein Kind, das sich nur wie ein Bündel verhalten kann, nicht lieben könne, zu Helen »Ich liebe dich« sagt.

»Wenn du ein einziges Wort verstehst, kannst du alle verstehen«, hatte die Lehrerin zuvor wie im Selbstgespräch die noch verständnislose Schülerin ermutigt. Im Finale von Penns Film, das den biblischen Topos vom menschlichen Spracherwerb als Folge der Erbsünde aufgreift und umstülpt, erweist sich die Sprache als Schlüssel zum Leben; erst die Fähigkeit, den Dingen Namen zu geben, erlöst den Menschen vom archaischen Naturzwang, gegen den er sprachlos und daher ohnmächtig anrannte. Im Film sind es Frauen, die dem behinderten Mädchen den Weg dahin ermöglichen. Während der Vater dazu neigt, Helen als unerziehbares Wesen anzusehen, das immer so unterentwickelt bleiben wird, wie es ist, stehen die Lehrerin, die Mutter, aber auch die Erzieherinnen der Bostoner Blindenschule – auch in der Wirklichkeit waren das in der großen Mehrheit Frauen – statt für weibliche Emotionalität für eine Pädagogik ein, die sich dem Logos und dem Wort auch dann verpflichtet fühlt, wenn es an seine Grenzen stößt. So ist Penns Film nicht allein ein Bespiel für den amerikanischen Traum, wonach auch dem Zurückgesetzten, wenn er das Selbstvertrauen nicht verliert, die Welt offensteht, sondern auch eine Geschichte über die Veränderung des Erzieherberufs, der von den Frauen, die ihm als Expertinnen für Einfühlung zugeteilt wurden, in eine Institution der Aufklärung umgebaut wird.

Etwa fünfzig Jahre nach der Begegnung von Keller und Sullivan und dreißig Jahre vor Penns Film, in den dreißiger Jahren, begann Ludwig Wittgenstein in Cambridge eine Pädagogik zu entwickeln, in deren Zentrum eine aufklärungskritische, aber nicht antiaufklärerische Reformulierung des Verhältnisses von Mensch und Tier steht. Gegen einen Rationalismus, der den Unterschied zwischen Tier und Mensch in der nur dem Menschen a priori innewohnenden Begabung zur Vernunft sieht, welche sich in der Sprachfähigkeit ausdrücke, pointierte Wittgenstein sein Verständnis von Erziehung in dem Satz: »Die Grundlage jeder Erklärung ist das Abrichten. (Das sollten Erzieher bedenken.)« Dieser Gedanke, der von den »Philosophischen Untersuchungen« an für sein Denken entscheidend wurde, hat sprachphilosophische und pädagogische Implikationen, die mit Pragmatismus und Behaviorismus, mit denen Wittgenstein meist identifiziert wird, nur unzureichend benannt sind. Zwar geht Wittgenstein mit dem Pragmatismus davon aus, dass die Bedeutung von Worten nichts Vorgängiges ist, was dem menschlichen Geist als Set von Universalien innewohnt, sondern sich erst in der menschlichen Praxis konstituiert. Dem entspricht in seiner Pädagogik der Primat des Handelns gegenüber dem Wissen, des Habituellen gegenüber dem Kognitiven. Nur impliziert dieser Primat bei Wittgenstein keine Geistesfeindlichkeit, geschweige denn ein Plädoyer für die Schwarze Pädagogik. Im Gegenteil: Während die gegenwärtig populären Kognitionswissenschaften autoritär daran arbeiten, den menschlichen Geist als Netzwerk, als technoid und beliebig manipulierbar zu konzeptualisieren und damit den Schwarzen Pädagogen, die jeden Impuls von Spontaneität drakonisch meinten ächten zu müssen, nahe sind, lässt sich Wittgensteins Begriff von Erziehung materialistisch nennen. Nicht um die Austreibung des Geistes durch den Begriff des Verhaltens ging es ihm, sondern um Rekonstruktion der im Verhalten sedimentierten Bedingungen, die Geist, Denken, Urteil und Zweifel ermöglichen.

Am ausführlichsten entfaltet wird dieser Konnex im zwischen 1949 und 1951 verfassten Manuskript »Über Gewissheit«, das Wittgensteins Schülerin G.E.M. Anscombe posthum herausgegeben hat. Allein, dass hier statt des Lernens das Zweifeln im Zentrum steht, verdeutlicht, dass Wittgenstein den Menschen nicht behavioristisch als abgerichtetes Tier auffasste – Tiere sind zu Zweifel unfähig –, sondern die Überschreitung des Naturzwangs im Menschen durch das, was er »Abrichtung« nennt, als Bedingung der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten ansah. In Sätzen wie »Das Üben im Gebrauch der Regel zeigt (…), was ein Fehler in ihrer Verwendung ist«, »Das Wesen des Rechnens haben wir beim Rechnenlernen kennengelernt« und »Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben« entwickelt Wittgenstein in der charakteristischen Form parataktisch nebeneinander gestellter Aussagen eine Verteidigung des Common Sense als Ermöglichung von Streit. »Glauben« wird demnach erst irrational, wenn an ihm entgegen der Erfahrung festgehalten wird. Zugleich ist er die Möglichkeitsbedingung des Zweifels: »Ein Kind lernt eine Menge Dinge glauben. (…) Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.« Die Betonung des »Glaubens«, der Ergebnis des Abrichtungscharakters von Erziehung sei, zielt nicht auf unbefragbare Autorität, sondern betont im Gegenteil, dass die Voraus-setzungen von Urteil, Wissen, Gewissheit nicht unmittelbar gegeben, sondern in gewisser Weise leer und daher immer erschütterbar sind. Gerade deshalb muss eine Erziehung zum Zweifel für das Kind eine Welt des Bezweifelbaren, und damit des Gegebenen, erst einmal herstellen.

Angemessen verstanden werden kann diese Pädagogik wohl nur als Reaktion auf die Erschütterung des Begriffs der Zivilisation durch den Nationalsozialismus, mit dem Wittgensteins Umarbeitung seiner frühen Sprachphilosophie zeitgeschichtlich konvergierte. Die scheinbare Inhumanität, die darin bestand, Erziehung als Dressur zu fassen, war eine Antwort auf den Rückschlag von Zivilisation in Barbarei. Zugleich brachte Wittgenstein mit seiner Verteidigung von Regel, Norm und »Lebenswelt« ein Verständnis von Gemeinsinn, wie er es in England kennengelernt hatte, gegen die Verächtlichmachung der Äußerlichkeit und Lebensfeindlichkeit der Zivilisation in der deutschen Reformpädagogik in Anschlag. Zehn Jahre nach Wittgensteins Tod demonstrierte Arthur Penn an der Kindheitsbiographie von Helen Keller, dass die Abwehr der Einsicht in das Zurichtungsmoment von Erziehung als Bedingung von Individualität – und damit von Liebesfähigkeit – ihrerseits in Menschen- und Lebensfeindlichkeit umschlagen kann, weil sie verkennt, dass der Mensch nicht das Gegenteil des Tieres, sondern der Tierheit entkommen ist, mit deren Erfahrungsresten er sein eigenes Selbst und die von ihm geschaffene Wirklichkeit immer wieder vermitteln muss. Indem Anne Sullivan eine der Freiheit dienende Autorität gegen die Instanzen der Familie durchsetzt, befördert sie die Kritik an gesellschaftlicher Autorität, die Kritik am undurchschauten Naturzwang ist.

Helen Keller mit ihrer Lehrerin Anne Mansfield Sullivan (ca. 1909) (Bild: Gemeinfrei (United States Library of Congresse‘s Prints and Photographs division))