Kein Faschismus nirgendwo

In seiner Streitschrift über die Situation von Geflüchteten versucht Bernhard Torsch die Quadratur des Kreises: Eine praktische Definition von Faschismen, ohne sich theoretisch festlegen zu wollen, weil abstrakte Debatten vom konkreten Leid, das es zu skandalisieren gilt, ablenken.

Über wenige andere Fragen können Linke und andere Nicht-Faschisten so ausgiebig streiten wie jene, ob wir in post- oder präfaschistischen Zeiten lebten, wann Faschismus überhaupt anfängt und was ihn ausmacht. Das Grundproblem: Die meisten Faschismusdefinitionen führen für sich allein genommen in die Irre, da sie einerseits bereits am anamorphen Charakter der verschiedenen Faschismen scheitern und andererseits allzu oft die bürgerlichen Begrifflichkeiten eines technokratischen und vertikalen Verständnisses von Staat und Macht übernehmen. Das macht sie nicht völlig unnütz, aber außerhalb der akademischen und pädagogischen Welt unscharf, ja verschleiernd.

Statt Faschismus erst dann zu diagnostizieren, wenn ein herrschaftstechnischer Punkte-Katalog abgehakt wurde, schlage ich vor, die konkrete Lage von Menschen ohne Macht zu betrachten und die Parallelen zum historischen Faschismus, die man dabei erkennen mag oder auch nicht, zum Maßstab dafür zu nehmen, ob man die herrschenden Zustände als faschistisch bezeichnen kann. Das wird man mir sicherlich als, horribile dictu, Postmodernismus ankreiden, aber was die Theoriestuten und Debattenhengste meinen, geht mir schon seit Jahren am Allerwertesten vorbei.

Nicht egal sind mir nächtliche Wälder auf dem Balkan. Wälder, in denen seit 2015 Menschen, ganze Familien darunter, in Panik vor Polizeihunden fliehen, gehetzt wie Tiere von mazedonischen, kroatischen, ungarischen und inzwischen auch serbischen Polizeieinheiten, denen von ihren Regierungen auf Zuruf der europäischen Wohlstandszentren der Jagdschein auf Menschen ausgestellt wurde. Diese Menschen, die Europa nicht haben will, schlägt man dann, sobald die Hunde sie gestellt haben, grün und blau, nimmt ihnen Wertsachen und oftmals sogar die Schuhe ab und prügelt sie zurück über die nächste Grenze. Das wiederholt sich mehrmals, bis sie wieder dort landen, woher sie meist kamen, nämlich in einem der überfüllten griechischen Lager, wo Menschen so zu hausen gezwungen sind, wie wir es in Mittel- und Nordeuropa in unserer grenzenlosen Empathie keinem Tier zumuten möchten.

Nicht egal sind mir die ungarischen Grenzzäune, erbaut von zur Zwangsarbeit verdonnerten Arbeitslosen und Strafgefangenen, hinter denen Menschen, die es durch die Menschenfängerstaaten geschafft haben, festgesetzt und mit Nahrungsentzug gefoltert werden. Ja, der EU-Mitgliedsstaat Ungarn lässt Menschen hungern, bis sie »freiwillig« auf einen Asylantrag verzichten und sich wieder in die dunklen Wälder bewegen, wo die scharfen Hunde und die Männer mit den dicken Knüppeln auf die warten.

Wir reden hier über die Glücklichen unter den Geflüchteten. Die weniger Glücklichen liegen als Skelette in der Sahara, werden in libyschen Lagern vergewaltigt, gefoltert und ermordet oder ruhen unsanft am Grunde des Mittelmeers. Die Berichterstattung interessiert sich kaum noch für diese Opfer des europäischen Ehrgeizes, ethnisch und kulturell rein zu bleiben, und die Zyniker, deren Politik diese zehntausenden Erniedrigten, Misshandelten und Gestorbenen am Gewissen hat, sehen sich bestätigt. Real ist nur, was in der Zeitung steht. Und selbst wenn es eine Meldung über ein weiteres »Unglück« mit dutzenden Todesopfern in die Nachrichten schafft, kann sie nicht den Horror erfahrbar machen, von dem sie berichten will. Wir, als Medienkonsumenten, sind nicht dabei, wenn ein überfülltes Boot kentert, wenn Menschen in Todesangst versuchen, über Schwächere zu klettern, um ein paar Sekunden länger als diese über Wasser zu bleiben, wenn Mütter mit letzter Kraft ihre Babys in die Höhe halten, verzweifelt hoffend, in letzter Sekunde möge jemand wenigstens diese jungen Leben retten. Wir, die wir doch nur ganz harmlos und demokratisch massenhaftes Sterben wählen, sind nicht anwesend bei der letzten Umarmung, beim letzten Kuss, beim letzten Schrei und bei der letzten Träne.

Manche halten sich für Antifaschisten, obwohl sie das große Sterben, das ein Morden ist, da es absichtsvoll herbeigeführt und absichtsvoll nicht verhindert wird, hinnehmen. Haben ja demokratisch gewählte Regierungen gemacht, kein böser Tyrann in Fantasieuniform und mit Schnauzbart. Diese Sorte Antifaschistinnen hat auch kein gesteigertes Problem mit den 120.000 Menschen, die in Großbritannien in den vergangenen Jahren vom Staat ermordet wurden, weil sie arm und krank waren. Oh, das wussten Sie nicht, liebe Leserinnen und Leser? Das University College London hat 2017 eine Studie veröffentlicht, wonach seit 2010, als die Regierung eine harte »Sparpolitik« umzusetzen begann, 120.000 Menschen frühzeitig verstorben sind. Das wurde mit Verweis auf die Studie als »economic murder« bezeichnet, ökonomischer Mord. Bis zum Jahr 2020, so die Prognose der Studie, wird die Zahl der Toten die Marke 200.000 überschritten haben. Wie viele Menschen darf ein System um die Ecke bringen, bevor man es faschistisch nennen kann? 200.000 reichen offenbar nicht aus, um uns einzugestehen, dass wir längst in einer neuen Phase des Faschismus stecken, der sich (noch) hinter demokratischen Formalismen und der freiwilligen Propaganda jener Medien verbirgt, die, welch Zufall, den stärksten Kapitalfraktionen gehören, die vom großen Sterben profitieren, ob direkt durch die austeritätspolitische Umverteilung von unten nach oben oder indirekt durch die faktische Herstellung einer neuen Klasse von »Untermenschen«, an deren Qual sich die Massen, die immer weniger, aber immerhin noch ihre europäischen Pässe haben, laben sollen.

Dass es immer noch schlimmer kommen kann, ist wahr, aber kein Trost. Natürlich wäre der offene Faschismus unangenehmer als der getarnte, vermutlich noch mörderischer und grausamer. Das macht die derzeitigen Zustände kein bisschen erträglicher. Davon, dass Donald Trump rein formal kein Faschist sein mag, soll, wer den Mut und den Magen dafür hat, den Kindern erzählen, die in Käfigen gehalten werden, weil ihre Eltern es wagten, in den USA leben zu wollen statt dort, wo Not und Gewalt herrschen, wie sie sich viele, die Wohlstand gewöhnt sind, nicht vorzustellen vermögen. Oder man sage das den Kurdinnen und Kurden, die seit einigen Wochen abgeschlachtet werden, weil der Nicht-Faschist und ganz sicher nicht von Tyrannen begeisterte und von Putin bezahlte/erpresste Trump es für nötig hielt, über Nacht die Verbündeten der USA fallen zu lassen und, Zufälle gibt es, damit freie Bahn für die russische und türkische Machtpolitik zu geben.

Wer nicht in die Ferne schweifen mag, obwohl es eine solche allenfalls noch geographisch gibt, kann seine Faschismusdefinition auch in Österreich auf ihre Gültigkeit hin abklopfen. Vor allem in den hiesigen Großstädten leben 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung, die hier arbeiten und Steuern zahlen, hier wohnen, leben und konsumieren, aber eines nicht dürfen: wählen. Weil sie immer noch als »Ausländer« gelten. Ab welchem Prozentsatz von der Demokratie Ausgeschlossener ist es Faschismus? Erst bei 100 Prozent? Alles, was nicht Hitler oder Franco ist, ist nur »demokratiepolitisch bedenklich«, wie es Kolumnisten auszudrücken pflegen, wenn sie ein allenfalls noch vorhandenes Gewissen drückt? Ich war nicht dabei, aber ich vermute, das haben die Überlebenden des NS-Faschismus nicht gemeint, als sie die Parole prägten, den Anfängen sei zu wehren.

Selbst »Wehret den Anfängen« ist nur halb richtig, denn dieser Aufruf geht davon aus, der Faschismus hätte sich 1945 in Luft aufgelöst und es sich nicht etwa in sämtlichen wieder zugelassenen Parteien ebenso gemütlich gemacht wie in den Institutionen. Juristen, die vor 1945 das gesunde Volksempfinden mit Guillotine und KZ umsetzten, sprachen nicht selten ihre früheren Opfer erneut schuldig und unterfütterten ihre Urteile mit Gutachten von Psychiatern, die vor 1945 über Wert und Unwert von Leben entschieden und somit über Leben und Tod. Diese schrecklichen Juristen und Psychiater und ihre Lehrlinge kriminalisierten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Homosexuelle und schufen mit den »Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher« eine neue Lagerhaltung für eine stetig wachsende Anzahl von Menschen, die man von rechtsstaatlichen demokratischen Usancen ausschließen wollte. Wer das naive Vertrauen in die Demokratie verlieren möchte, sollte mit denen sprechen, die in diesen Anstalten waren, in denen übrigens nicht wenige wegen Bagatelldelikten oder gar völlig unschuldig sitzen, und ein großes Staunen darüber, wie mit Menschen verfahren wird, die von der Mehrheit gefürchtet und gehasst werden, wird einsetzen. Aber gut, man sollte die lieben Antifaschisten, die nirgendwo einen neuen Faschismus sehen können, nicht damit überfordern, den wahren Charakter einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit Gefangenen zu messen, denn es ist ja nicht so, als hätte das Fjodor Dostojewski nicht schon im 19. Jahrhundert angeregt.

Wo kein Faschismus wahrgenommen wird und es somit auch keinen Widerstand gegen einen solchen gibt, obwohl Millionen entrechtet, ihrer Menschenwürde beraubt und sogar getötet werden, darf man sich von den Maulhelden der akademischen AntiFa und diverser linker Sektenparteien nicht erhoffen, sie würden gegen einen offenen Faschismus mehr unternehmen als gegen den derzeitigen verkleideten. Die einzigen Lichter in der Finsternis werden, wie seit jeher, jene Menschen sein, die Unrecht auch dann erkennen, wenn es eine bunte Masche trägt, und natürlich darf man eine gewisse Hoffnung darin setzen, die Konkurrenzfaschismen, zu denen sich die großen ökonomischen Blöcke gerade herausbilden, könnten einander gegenseitig die Lichter ausknipsen. Verlassen sollte sich darauf niemand, da die Voraussetzungen, also die sich immer rasanter zuspitzenden ökologischen und ökonomischen Krisen, auf eine unmittelbar bevorstehende exzessive Faschisierung deuten und auf eine entsprechende »Lösung« dieser Krisen, also auf Genozid und Krieg im globalen Maßstab. Ob danach, wir leben im nuklearen Zeitalter, noch jemand übrig sein wird, der anderen Überlebenden auftragen wird können, den nächsten Anfängen zu wehren, ist nicht sehr realistisch. Wahrscheinlicher ist, dass in den letzten Bunkern der letzten dort verschanzten Milliardäre und ihrer politischen Funktionärskaste der ganze Irrsinn noch einmal im Modellmaßstab durchgespielt wird, bis die letzte Dose Lebensmittel verputzt und die letzte Wasserflasche leergetrunken sein wird.