Im März kursierte ein Handy-Video, das den rassistischen Angriff einer älteren Wienerin auf eine junge Muslima zeigte. Die Dame fühlte sich offenbar durch das Kopftuch der jüngeren Frau provoziert und setzte zu einer Tirade an, die an rassistischer, ja geradezu nationalsozialistischer Eindeutigkeit kaum zu übertreffen sein dürfte. »Du Hure«, so fing es an, und steigerte sich über »du bist kein Mensch, du bist ein Schwein« bis hin zu »Du Hund! Sitz!«. Am Schluss versuchte die Frau auch noch, Passanten auf die Muslima zu hetzen, indem sie »Hilfe, Hilfe, Gewalttäterin« brüllte. Abschließend spuckte die Rassistin ihrem Opfer ins Gesicht. In den Sozialen Medien verbreitete sich das Video ebenso schnell wie die Meinungen dazu, und eine der am häufigsten vorgetragenen war, dass die Täterin offensichtlich »psychisch krank« sei und man daher um den Fall kein großes Fass aufmachen solle.
»Psychisch krank« - jeder Laie fühlt sich berufen und befähigt, diese Ferndiagnose abzugeben, wenn Menschen etwas machen, was ihm unverständlich und bizarr erscheint. Ob die Frau aus obiger Geschichte wirklich an einer psychischen Erkrankung leidet, ist aber allenfalls eine Vermutung, die weit leichter wiegt als das aufgezeichnete Toben einer »Herrenmenschin«. Die Entmenschlichung, die in den Beschimpfungen der Muslima als »Schwein« und »Hund« steckt, und der Sadismus, die Muslima aufzufordern, wie ein Hund »sitz« zu machen, lässt sich mit keiner psychischen Krankheit erklären, wohl aber mit einer ideologischen Einstellung. Aus der Frau sprach die Ideologie des Nationalsozialismus, die Menschen in »höhere« und »niedrigere« Gruppen einteilt. Eine Ideologie der radikalen Ungleichheit, die auf Entrechtung und schließlich Vernichtung jener zielt, die Nazis für »nicht lebenswert« halten.
Nun besteht kein Zweifel an der grundlegenden Wahnhaftigkeit der nationalsozialistischen Weltsicht. Sie ist unwissenschaftlich, irrational und absolut destruktiv. Nicht grundlos ist sie vor allem für Sadisten und Autoritäre anziehend, was man, sofern man etwas lernen will, in den »Studien zum autoritären Charakter« (Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson und Sanford) ebenso nachlesen kann wie in Wilhelm Reichs »Massenpsychologie des Faschismus«. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass jeder Nazi psychisch krank wäre. Gesellschaftliche Wahnproduktion ist nicht dasselbe wie individuelle Erkrankungen. Beides kann sich überschneiden, aber gesellschaftlicher Massenwahn kann zu politischen Fehlentwicklungen bis hin zum Genozid führen. Der einzelne Kranke, also ein tatsächlich psychisch Kranker, leidet an seiner Erkrankung und hat meist weder Kraft noch Interesse daran, anderen zu schaden.
Natürlich kommt es manchmal zu Gewalttaten durch psychisch Kranke. Fallen diese entsprechend spektakulär aus, wie etwa ein Totschlag auf offener Straße oder ein Mord im Familienkreis, berichten vor allem Boulevardmedien in großer Aufmachung darüber und in den Leserkommentaren tobt das »gesunde Volksempfinden«, das dann so schlaue Fragen stellt wie: »Warum durfte der frei herumlaufen?« Gerne äußern verängstigte und verhetzte Menschen nach solchen Straftaten auch den Wunsch, psychisch Kranke solle man vorbeugend wegsperren. Die Politik gibt sich dann, handelt es sich bei psychisch Kranken doch um eine Minderheit, noch dazu um eine, die vielen Leuten Angst macht, gerne volksnah und schiebt, wie 2015 geschehen, längst überfällige Reformen wie die des menschenrechtswidrigen Maßnahmenvollzugs auf die lange Bank.
Der Maßnahmenvollzug (in Deutschland »Maßregelvollzug«) ist ein vorbeugender Freiheitsentzug für psychisch kranke Straftäter, bei denen der Verdacht besteht, sie könnten weitere kriminelle Taten setzen. In der Realität bedeutet das, Menschen auch für recht kleine Vergehen jahre- oder gar jahrzehntelang einzusperren. So gibt es etwa den Fall eines Tiroler Landwirts, der vor 20 Jahren seinem Bruder gedroht hatte, er werde ihm »den Kopf abreißen«. Eigentlich eine Bagatelle, aber der vom Gericht hinzugezogene Psychiater diagnostizierte eine »seelische Abartigkeit höheren Grades« und der Mann landete im Maßnahmenvollzug, wo er heute lebendig begraben ist. 2014 schrieb ein junger Schizophrener Briefe an FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, in denen er diesem »drohte«, er werde ihn von UFOs entführen bzw. mit »Insektendrohnen« beschießen lassen. Der damals 28-Jährige wurde in eine Anstalt für »geistig abnorme Rechtsbrecher« eingewiesen. Jeder andere Drohbrief-Verfasser wäre mit einer bedingten oder kurzen Haftstrafe davongekommen, aber weil der Täter psychisch krank war, verschwand er für viele Jahre, vielleicht sogar für immer hinter Gefängnismauern.
So wie der Maßnahmenvollzug nichts anders ist als eine Bestrafung für Taten, die einer nicht begangen hat, aber nach Meinung von Psychiatern begehen könnte, ist die Unsitte, rassistisches oder anderes unerwünschtes Verhalten mit der Unterstellung »psychisch krank« zu relativieren, eine Fortschreibung der Entmündigung tatsächlich Kranker, denen dadurch eine eigene politische Haltung abgesprochen wird. Und hat man erst einmal ganzen Menschengruppen abgesprochen, politische Subjekte sein zu können, ist der erste Schritt zu deren völliger Entrechtung getan. Dass das keine paranoiden Fantasien sind, wurde klar, als die FPÖ vor wenigen Jahren forderte, Menschen mit geistigen Behinderungen das Wahlrecht abzuerkennen. Es bedarf keines Verfolgungswahns, wenn sich psychisch kranke Menschen angesichts eines zunehmend autoritären Verständnisses von »Sicherheit« und Debatten wie jener über die Einführung einer präventiven »Sicherungshaft« bedroht fühlen. Sie haben allen Grund dazu, denn wie unsere eigene jüngere Geschichte zeigt, schrecken Gesellschaften selbst vor der massenhaften Ermordung psychisch Kranker nicht zurück, hat sich die Angst vor ihnen erst mal weit genug aufgeschaukelt.
Woher aber rührt diese Angst, diese Abwehrhaltung gegen Menschen, die in aller Regel harmlos sind und auch nicht öfter kriminell oder gewalttätig werden als sogenannte »Gesunde«? Zum Teil wie oben erwähnt, von reißerischen Berichten in den Medien. Zum anderen Teil durch Hervorbringungen der Kulturindustrie, die es nicht lassen mag, psychisch Kranke als Bedrohung hinzustellen. Jüngstes Beispiel war der überaus erfolgreiche Horrorfilm »Bird Box«, eine Eigenproduktion von Netflix. Darin werden psychisch gesunde Menschen allein durch den Anblick phantomhafter Wesen in den Suizid getrieben. Nur psychisch Kranke reagieren anders, aber nicht, wie man hoffen dürfte, indem sie zu Rettern der Menschheit werden, sondern sie mutieren zu Kollaborateuren der unsichtbaren Gefahr und wollen die »Gesunden« ins Verderben stürzen. Das ist geradezu ein Lehrbuchbeispiel für die Dämonisierung kranker Menschen, wie sie Hollywood seit Jahrzehnten betreibt, und die entsprechende Auswirkungen auf die Wahrnehmung Kranker durch »Gesunde« hat.
Nicht nur psychisch Kranke leiden unter ihrer Stigmatisierung und Dämonisierung. Auch die Gesellschaft schadet sich damit. Als im Jahr 2016 der 18-jährige Schüler David S. fünf Menschen erschoss und fünf weitere verletzte, folgte dem ersten falschen Verdacht, es handle sich um islamistischen Terrorismus, rasch die Zuschreibung »psychisch kranker Einzeltäter«. Dass David S. ein überzeugter Rassist und Moslem-Hasser war, dass er in Internetforen verkehrte, wo die Subkultur der »Incels« vor allem Hass gegen Frauen, aber auch gegen Minderheiten verbreitet – egal, denn das Etikett »psychisch krank« schien ja alles zu erklären. Gerade bei terroristischen Aktionen rechtsextremer Einzeltäter, ob in Europa oder in den USA, endet die Debatte über die Motive, sobald den Mördern eine psychische Krankheit nachgewiesen oder auch nur angedichtet werden kann. Und das, obwohl diese Form von Terrorismus inzwischen die islamistisch motivierte an Gefährlichkeit übertroffen hat. Seit 9/11 kamen z.B. in den USA weit mehr Menschen durch rechtsextreme »einsame Wölfe« gewaltsam ums Leben als durch islamistische Terrorzellen.
Die übereilige, oft auf sehr wackeligen diagnostischen Beinen stehende Verkürzung einer Motivlage der Täter durch das Ignorieren ideologischer Antriebe und die Reduktion auf ein individualpsychologisches Movens verschleiert den Blick auf reale Gefahren und ist gleichzeitig für tatsächlich Kranke ein nicht zu unterschätzendes Risiko, weiterer Ausgrenzung ausgesetzt zu werden. Seit einigen Jahren ist auch zu beobachten, wie nach einer Zeit vorsichtiger Aufklärung über psychische Leiden eine Regression in alte Stereotypen und Ressentiments Platz greift. Psychisch Kranke werden wieder verstärkt als »unzurechnungsfähig« wahrgenommen und dargestellt, als Menschen, die man zu ihrem »eigenen Besten« unter die Fuchtel von Institutionen stellen solle und deren Meinungen auf keinen Fall ernst zu nehmen seien. Und genau das ist das Problem am eingangs geschilderten Fall. Wer psychisch Kranken abspricht, überzeugte Rassistinnen sein zu können, nimmt allen anderen psychisch Kranken einen Teil ihrer Würde und ihrer Rechte.