Der Dozent und Herr Groll waren im Palais Auersperg bei der Wahlparty der Grünen gewesen und befanden sich auf dem Weg in den Prater, wo die FPÖ in einem Biergarten den Umstand feierte, daß ein unscheinbarer blauer Verlegenheitskandidat aus dem Burgenland vor der Auszählung der Wahlkarten mit 51,9% eine absolute Mehrheit erreicht hatte.
Die Wahlparty der Grünen hatte Groll angewidert. Siegestaumel, ohne das endgültige Endergebnis zu kennen, zeuge von zweierlei. Zum einen von der Überheblichkeit von Bobo-Kindern, denen alles im Leben von den Eltern geschenkt werde, zum zweiten aber auch von deren Dummheit: Daß nämlich der vereinigte Anti-FPÖ Block gerade einmal an die fünfzig Prozent heranreiche, sei doch eigentlich ein Armutszeugnis für das junge, aufgeklärte Österreich. Schließlich stieß sich Herr Groll, der Floridsdorf jenseits der Donau nur in Notfällen verließ, daran, daß sich die weltoffenen Bürgerlichen in einem Palast des vertrottelten Feudaladels verlustierten. Auch das sei ein Signal für historische Ort- und Geschmacklosigkeit. Schließlich werde damit die Hofer‘sche Feststellung aus dem Wahlkampf – van der Bellen stehe für das Establishment und die Hautevolée – geradezu glänzend bestätigt.
Als sie durch den Volksgarten eilten, berichtete der Dozent aus der Lektüre der Wochendzeitungen: »Geschätzter Groll! Österreich stand am Wochenende nach Pfingsten im Banne der Stichwahl zum Bundespräsidenten. Ganz Österreich? Nein, eine Vorarlberger Industriegemeinde tanzte aus der Reihe. In der 6300 Seelen umfassenden Marktgemeinde befinden sich drei große metall- und kunststoffverarbeitende Betriebe, der größte, ein Betrieb der Liebherr-Gruppe mit 1500 Beschäftigten produziert Hebezeuge aller Art, insbesondere Schiffs- und Bohrinselkrane, Hafenmobilkrane sowie Seilbagger. Ein weiterer Betrieb erzeugt Aluminiumpressen, dazu kommt noch ein Betrieb zur Erzeugung von Reinigungsprodukten. Die Exportquote der drei Betriebe liegt bei 95 Prozent, die EU ist Hauptabnehmer. Nenzing ist einer der wenigen Industriestandorte des westlichsten österreichischen Bundeslands. Im Gemeinderat verfügt die FPÖ mit fünfzehn Mandaten über die absolute Mehrheit, zwei Namenslisten kommen miteinander auf 11 Mandate, die SPÖ existiert in Nenzing am Rhein nicht mehr. Ich frage Sie: Wenn ganz Österreich mit dem Showdown zwischen van der Bellen und Hofer beschäftigt war – was trieb die Nenzinger um?«
»Keine Ahnung, Sie werden es mir gleich sagen«, Groll plagte sich über einen schmalen Kiesstreifen, lehnte aber mit einer Handbewegung die Hilfe seines Freundes ab.
Der Dozent fuhr fort: »Die Nenziger waren mit anderem beschäftigt, nämlich mit der Beseitigung der Spuren eines Blutbads.«
»Um Gotteswillen!« rief Groll. »Hoffentlich keine Auseinandersetzung mit Migrationshintergrund. Das hätte uns grade noch gefehlt.«
Der Dozent nickte und erzählte, während sie den Ballhausplatz überquerten und sich an ausländischen Fernsehteams vorbeischwindelten, weiter: »In Nenzing haben sich die heimattreuen Österreicher untereinander massakriert, die USA lassen grüßen. Ein ansässiger Motorradclub feierte im Schatten des Bahndamms mit einem großen Fest sein dreißigjähriges Jubiläum. Gegen drei Uhr früh eskaliert ein Beziehungsstreit, ein 27jähriger Mann eilt nach Hause, entwendet die Kalaschnikow seines Vaters, kommt zurück aufs Festgelände, erschießt zwei Männer und verwundet weitere elf Personen zum Teil schwer. Danach richtet sich der Amokläufer selbst. Am nächsten Tag erfährt man, daß der Täter aus der rechtsradikalen Szene stammte und eine lange einschlägige Vorstrafenliste aufwies.«
»Sicher kein Grün-Wähler«, merkte Groll an, als sie am Café Kanzleramt vis à vis der Hofburg vorübereilten. »Es könnte sein, daß man in Nenzing eine Facette der österreichischen Zukunft studieren kann. Durchgeknallte Ex- oder Neonazis mit der Toleranzschwelle eines zum äußersten gereizten Corrida-Stiers mischen sich unter die Leute, und wenn ein Streit mit Worten, von mir aus auch mit Fäusten nicht mehr ausgetragen werden kann, greift man zur automatischen Waffe und läuft Amok. By the way …« Groll hielt abrupt an. »Jetzt sehe ich die Auslassungen eines Waldviertler Wirts, in dessen Restaurant ich neulich Zuflucht nehmen mußte, weil ein Regenguss mich überraschte, in neuem Licht.«
Der Dozent hockte sich auf die Fersen.
»Erzählen Sie!«
»Natürlich kamen wir auch auf die Wahlen zu sprechen. Der Mann hatte beim ersten Durchgang schwarz gewählt, soweit war alles der Papierform entsprechend. Dann aber bekannte er sich in unserem Gespräch zu Norbert Hofer und zwar mit den skurrilsten Argumenten, die ich in diesem an Verrücktheiten wahrlich nicht armen Wahlkampf zu hören bekam. Aus zwei Hauptgründen könne er van der Bellen nicht wählen, sagte der Wirt. Der eine bestand darin, daß die Grünen angeblich angekündigt hatten, sie würden den Waffenbesitz in Privathand, sollten sie in die Regierung kommen, verbieten.«
»Das erscheint mir nicht unvernünftig«, erklärte der Dozent, erhob sich und schüttelte die Beine aus. »Denken Sie nur an Nenzing! Mit einer Steinschleuder wäre der Amoklauf nicht geschehen. Darüber hinaus gebe ich zu bedenken, daß Norbert Hofer sich stolz zu seiner Glock-Pistole bekennt. Und der zweite Grund?«
»Ist wahrlich nicht von schlechten Eltern.« Groll setzte den Rollstuhl wieder in Bewegung, sie bogen in den Kohlmarkt ein. »Der Wirt erklärte, den Professor nicht wählen zu können, weil die Grünen dagegen seien, daß Fischotter, die im Fischteich des Wirtes Amok laufen und hunderte Fische vertilgen, nicht bejagt werden dürfen.«
»Ein großartiges Argument«, meinte der Dozent. »Da hilft keine Aufklärung und kein Argumentieren. Waffenbesitz und Ausrottung von Fischottern … so bringen wir das Land wieder auf die Überholspur. Dennoch gefällt mir Ihr Grundton nicht, der van der Bellens Sieg, an dem nicht zu zweifeln ist, nicht gerecht wird. Sie sind viel zu pessimistisch.«
»Ich bin nur realistisch und halte mich an die Bewertung der Auslandspresse. Die BBC spricht von einem für Europa bestürzenden Ergebnis, das deutsche Wochenblatt »Zeit« befürchtet eine Trendwende in Richtung der äußersten Rechten auch für Deutschland und die Neue Zürcher Zeitung weist daraufhin, daß die bis dato geltende allgemeine Annahme, daß weit rechts stehende Parteien mit zirka einem Drittel der Stimmen eine Art natürliche Grenze erreichen, mit dieser Wahl obsolet ist. Und in Österreich macht der Politologe Filzmaier bei der Verharmlosung nicht mit. Auf die Frage einer ORF-Journalistin, ob das Land nun gespalten sei oder nicht, antwortet er lakonisch, wenn fünfzig Prozent Rechtspopulisten einem Block von Gegnern gegenüberstehen, wenn die Bundesländer in ihrer großen Mehrheit blau wählen, dann sei die Lage bedenklich. Und er fügt hinzu, daß gerade das Burgenland, das als ehemaliges Grenzgebiet von der EU mit Förderungen geradezu überhäuft wurde und mit fast Zwei Drittel Mehrheit blau wählte, besonders aus der Reihe tanze. Ein sozialdemokratischer Landeshauptmann, der als erster mit der FPÖ koalierte und in allen Fragen – von der sogenannten Flüchtlingspolitik über die Sozial-, Wirtschafts- und Europapolitik eine weit rechts angesiedelte Politik betreibt – , erweist sich als größtes Zugpferd für die Blauen. Ein Befund, der dem neuen SPÖ-Bundeskanzler und seinem Team zu denken geben sollte.«
»Da hat er recht, der Herr Professor«, sagte der Dozent und wich einem Radfahrer aus, der mit hohem Tempo durch die Fußgängerzone radelte. »Dennoch sollten wir froh über den Wahlausgang sein. Wir wären andernfalls zum Gespött Europas geworden.«
Groll stimmte zu, wies aber daraufhin, daß er den Mann kenne, dem van der Bellen den Wahlsieg verdanke. Der Mann sei er, Groll selber. Nur seinem unermüdlichen Einsatz in den Dutzenden Heurigenlokalen Floridsdorf sei es zu verdanken, daß van der Bellen auch in den sogenannten Flächenbezirken gut abschnitt.
»Ich fordere daher von der Republik und im speziellen der Präsidentschaftskanzlei, die Ausrichtung eines Dankfestes am Gelände der ermordeten Schiffswerft. Gastredner vom Range der EU-Außenkommissarin Mogherini, des scheidenden US-Präsidenten Obama sowie dem französischen, armenischstämmigen Chansonnier Charles Aznavour sind willkommen. Im Vertretungsfall kommen Stephen Hawking, der Real Madrid-Fußballer Luka Modric und der Vorsitzende der Blackfoot-Indianer im New Yorker Exil, Ezechiel Heavensgate, in Frage. Die Kosten sollten zu geteilten Handen von der UNO, dem Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag, dem russischen Erdölkonzern GAZPROM, der Schweizer Großbank UBS und der Erzdiözese Wien getragen werden. Dazu könnten sich Unterstützer aus breiten Teilen der Zivilgesellschaft wie der Betreiber von »Widos Schmankerleck«, dem besten Würstelstand an der österreichischen Donau an der Rollfähre Klosterneuburg-Korneuburg, gesellen. Im übrigen ist diese Rollfähre das Einzige, was in diesem, durch einen tiefen gesellschaftlichen Riß gespaltenen Land, zwei Ufer zu verbinden vermag. Was bei der Donau gerade noch gelingt, steht bei der Innenpolitik sehr in Zweifel. Aber der neue Präsident kann sich ja beim Binder-Heurigen in Floridsdorf Ezzes holen.«
Sie passierten die Pestsäule am Graben und beschleunigten die Geschwindigkeit. In den Schanigärten brandete Applaus auf. Die Nachricht vom Sieg van der Bellens verbreitete sich wie ein Lauffeuer.