Der in der Schweiz geborene Micha Brumlik gehört im deutschsprachigen Raum zu den schreibfreudigsten Kommentatoren des Nahostkonflikts. Nun hat der ehemalige Leiter des Frankfurter Fritz Bauer Instituts und jetzige Inhaber der Franz Rosenzweig-Gastprofessur an der Universität Kassel einige seiner zentralen Texte aus den letzten Jahren in einem schmalen Bändchen zusammengefasst. Sein Kernanliegen ist seit einiger Zeit die Rehabilitierung der Ideen des aus Wien stammenden Religionsphilosophen Martin Buber für eine arabisch-jüdische Kooperation in Palästina und ihre Propagierung als aktuellen Ausweg aus der vertrackten Situation im Nahen Osten. Doch bevor er sich der Idee des Bi-Nationalismus und ihren Protagonisten widmet, beschreibt er durchaus treffend den massiven Zuwachs des Einflusses sowohl nationalreligiöser als auch ultraorthodoxer Kräfte in der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft und Politik – ohne jedoch ausreichend deutlich zu machen, welche Rolle die Entwicklungen in den arabischen Gesellschaften und die Politik der diversen politischen Fraktionen der Palästinenser für das Erstarken der israelischen sowohl säkularen als auch religiösen Rechten gespielt hat und weiterhin spielt.
Auch Brumlik fordert eine Rückbesinnung auf bestimmte jüdisch-religiöse Traditionen, aber gerade, um die Möglichkeiten der jüdischen Existenz in der Diaspora gegen den Zionismus stark zu machen und um universalistische Werte des Judentums gegen den Partikularismus der gegenwärtigen Nationalreligiösen in Anschlag zu bringen. Instruktiv sind seine Ausführungen über den wichtigsten Wegbereiter des nationalreligiösen Zionismus, den Rabbiner Abraham Isaak Kook, der in seinen staatstheoretischen Schriften vom Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art »Theologie des Zionismus« entworfen hat, in der sich insbesondere hinsichtlich der Frage der Gewalt gewichtige Unterschiede zu den Anschauungen seines Sohnes finden lassen, dem Stichwortgeber der nationalreligiösen Siedlerbewegung Gush Emunim, Zwi Jehuda Kook. In Abraham Kooks Denken kommt der »Dialektik des Heiligen und Profanen« eine entscheidende Rolle zu: Durch seine Unterscheidung eines »vorläufigen« und eines »endgültigen Messias« konnte Kook eine theologische Legitimation für den sozialistischen Zionismus seiner Zeit formulieren. Der staatsbildende säkulare Zionismus erscheint bei Kook als notwendige Vorstufe auf dem Weg zur Erlösung, die wiederum durch den religiös konnotierten Nationalstaat eingeläutet werden soll.
Brumlik zeigt, wie der nationalreligiöse Zionismus den Messianismus als »realhistorische Bewegung« begreift und rekurriert immer wieder auf das Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus sowohl in der jüdischen Religion als auch in den unterschiedlichen Spielarten des Zionismus. Wladimir Jabotinsky, dem Brumlik bezüglich der Situation der europäischen Juden Ende der 1930er-Jahre »äußerste Hellsicht« attestiert, charakterisiert er mit Bezug auf den Historiker Michael Stanislawski sehr treffend als »kosmopolitischen Ultranationalisten« – eine Widersprüchlichkeit, die bei nicht wenigen von Jabotinskys heutigen Erben verloren gegangen ist. Brumlik zeigt, wie beim Begründer des revisionistischen Zionismus eine in territorialen und militärischen Fragen kompromisslose Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung in Palästina, und das Bestreben nach Errichtung eines jüdischen Staates auf beiden Seiten des Jordans, durch die Forderung nach gleichen religiösen und kulturellen Rechte für die in diesem zukünftigen Staat lebenden Araber flankiert wurden. Jabotinsky trat beispielsweise dafür ein, dass dem zukünftigen israelisch-jüdischen Premierminister (nicht dem Präsidenten, wie Brumlik schreibt) stets ein arabischer Vize zur Seite gestellt werden sollte.
Hinsichtlich der aktuellen Situation ist Brumlik »zu der Überzeugung gelangt, dass mit der Globalisierung der Gedanke des Nationalstaats – in unserem Fall Israel – objektiv überholt ist.« Das stimmt schon unabhängig von Israel nicht: Der Prozess der Internationalisierung des Kapitalverhältnisses bedeutet nicht das Ende des Nationalstaates, sondern die partielle Transformation seiner Funktionsweise und seiner Existenzbedingungen; und gerade gegenwärtig würde in Europa wohl kaum noch jemand vom »Ende des Nationalstaats« sprechen, sondern vielmehr von seiner Renaissance. Israel und der Zionismus wiederrum wären in einem materialistisch-kritischen Verständnis nur dann »objektiv überholt«, wenn der Antisemitismus verschwinden würde. Von dieser Besonderheit Israels und des Zionismus muss Brumlik an solchen Stellen, an denen der jüdische Staat nur noch als Exempel für eine allgemeine Entwicklung dient, zwangsläufig abstrahieren, obwohl er sie in anderen Zusammenhängen durchaus betont.
Brumlik trifft einen Punkt, wenn er gewissen Freunden Israels vorwirft, einem »leerlaufenden Traum der Zweistaatenlösung« anzuhängen, denn diese würde ja zumindest bedeuten, dass Verhandlungen über eine derartige »Lösung« stattfinden müssten. Die Gründe dafür, dass dies derzeit nicht der Fall ist, scheint Brumlik allerdings ausschließlich im Agieren der gegenwärtigen israelischen Regierung zu sehen. Die Verweigerungshaltung der Abbas-Regierung gegenüber nahezu jedem Kompromiss- und Verhandlungsangebot der Netanjahu-Regierung und ihrer Vorgänger, die insofern verständlich ist, als es nur allzu wahrscheinlich ist, dass Abbas seine Macht im Westjordanland in genau dem Augenblick an die Hamas verlieren würde, in dem sich die israelische Armee von dort zurückzieht, wird von Brumlik nicht thematisiert. Das gleiche gilt für fast alle Vorschläge sowohl der zionistischen Linken als auch der pragmatischen Rechten für eine unilaterale Trennung von den Palästinensern in der Westbank oder für Möglichkeiten eines Wiedererstarken eines dezidiert linken Zionismus.
Brumlik hebt einerseits zu Recht hervor, dass sich wohl nur einige zehntausend Siedler einer Teilräumung des Westjordanlandes widersetzen würden, führt dann aber andererseits die Zahl von etwa einer halben Million jüdischer Israelis in der Westbank und in Ostjerusalem als Argument an, warum eine Zweistaaten-Lösung heute nicht mehr realistisch sei. Er wartet mit fragwürdigen Interpretationen der Stellungnahmen von Benjamin Netanjahu zur gegenwärtigen Unmöglichkeit einer ausverhandelten Zweistaaten-Lösung auf; und auch die Charakterisierung des Agierens Netanjahus während seiner ersten Amtszeit in den 1990er-Jahren als »kompromisslose Haltung« entspricht keineswegs der widersprüchlichen Politik, die der Likud-Premier im Anschluss an den von Jitzchak Rabin und Shimon Peres angestoßenen Friedensprozess betrieben hat.
Unredlich wird es, wenn Brumlik sich mit der innerlinken Diskussion über Israel in Deutschland und Österreich auseinandersetzt. Wie schon in früheren Texten verkehrt er Argumentationen linker und ideologiekritischer Unterstützer des Zionismus, etwa wenn er die Thematisierung von bei einigen Unterstützern Israels kaum noch ins Bewusstsein tretenden »grauenerregenden Übergriffen« israelischer Sicherheitskräfte wider besseres Wissens als »Legitimation« eben dieser Übergriffe auslegt.
Brumlik unterscheidet sich von vielen anderen Kritikern des Zionismus dadurch, dass er die Gefahren des Islamismus nicht kleinredet und insbesondere die »mörderische Bedrohung des Staates Israel durch das klerikalfaschistische Regime in Teheran« stets in einer Deutlichkeit thematisiert, die man selbst bei manchen prozionistischen Autoren vermisst. Es bleibt nur völlig unverständlich, warum Brumlik ausgehend von diesem Befund ausgerechnet die Selbstaufgabe Israels als souveränen Staat fordert. Die von ihm vorgeschlagene Rückbesinnung auf die Ideen Martin Bubers und die erstmals 2013 in der linken Monatszeitschrift »Konkret« propagierte und nun abermals empfohlene Transformation des jüdischen Staates in eine bi-nationale Struktur bedeutet eine Absage an den revolutionären Kern des Zionismus. Der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaften weiß, dass Buber und seiner Organisation Brit Shalom stets die Ansprechpartner auf der arabischen Seite fehlten, ohne dass er plausibel machen kann, warum das heute anders sein sollte. Brumlik stellt die Abschaffung Israels zur Diskussion und vollzieht damit eine gefährliche Verschiebung in der deutschsprachigen Nahost-Debatte. Während linkszionistische Autoren wie beispielsweise Gershom Gorenberg betonen, dass Israel auch bei einem Rückzug aus der Westbank nicht darauf verzichten müsste, sich als jüdischer Staat zu definieren und dementsprechend fordern, die Armee unbedingt unter jüdischer Führung zu belassen, plädiert Brumlik für eine »einheitliche Armee« eines zukünftigen arabisch-israelischen Staates.
Brumliks Absage an den Kern des Zionismus drückt sich am deutlichsten in seiner Ablehnung des israelischen Rückkehrgesetzes aus, das allen Juden die Möglichkeit der Einwanderung garantiert. Er fordert, Einwanderung in ein zukünftiges bi-nationales Staatswesen solle »nur nach arbeitsmarktspezifischen beziehungsweise humanitären Gesichtspunkten« geregelt werden, »nicht mehr nach ethnischen Kriterien«. Diese Kriterien sind im heutigen Israel aber keine »ethnischen« im herkömmlichen Sinn, sondern vom Antisemitismus aufgenötigte Kriterien. Schon in seinem Buch »Kritik des Zionismus« forderte Brumlik 2007 vom Diaspora-Judentum, es sollte sich »den Verzicht auf das israelische Rückkehrgesetz abverlangen«, betonte gleichzeitig aber doch, dass »die schlichte Selbstbehauptungsvariante des Zionismus«, die des Rückkehrgesetzes aus dem Jahr 1950 zwingend bedarf, nach wie vor »gewichtige Argumente für sich« hat. Nun richtet er sich jedoch mit den bi-nationalen Vorstellungen Bubers gegen diese »Selbstbehauptungsvariante« – die keine »Variante« ist, sondern den Kern eines jeden Zionismus ausmacht, der sich angesichts der andauernden antisemitischen Bedrohung weigert, in idealistischen Utopien Zuflucht zu suchen.
Brumliks Essaysammlung beinhaltet absurderweise also beides: einerseits die Forderung nach Solidarität mit Israel angesichts »möglicher (genozidaler) iranischer Nuklearwaffen« – eine Bedrohung, deren Verharmlosung Brumlik explizit entgegentritt, wenn er daran erinnert, dass Juden nach »Hitlers frühen Ankündigungen leidvoll haben erfahren müssen, dass Vernichtungsdrohungen nicht nur leeres Geschwätz« sind. Andererseits fordert er angesichts einer derartigen Bedrohung ausgerechnet, die nur durch eine wie auch immer ausgestaltete staatliche jüdische Souveränität zu gewährleistende Rückversicherung aufzugeben, rechtzeitig und angemessen gegen solch eine und ähnlich geartete Bedrohungen vorgehen zu können.