Die weltgrößte Musikmesse, die SXSW in Austin, Texas, war am Abend vorher zuende gegangen. Fünf Tage lang hatten 2.278 Künstler aus 55 Ländern vor über 25.000 Fachbesuchern aus aller Welt und vor dem örtlichen Publikum ihre Konzerte gespielt. Das Showcase-Festival, das in den 1990er Jahren mal dazu diente, unbekannte Bands zu entdecken, ist längst zu einer erfolgreichen Stadtmarketing-Veranstaltung mutiert, die, wie die Verantwortlichen stolz verkünden, direkt und indirekt über 218 Millionen Dollar in Austins Wirtschaft spült. Die jungen Leute haben das SXSW-Festival als eine Art Ersatz-Spring Break entdeckt, entsprechend ist die Stimmung auf den Straßen: eine aufgeheizte und alkoholgetränkte Mischung aus Oktoberfest und Dantes Inferno. Doch jetzt, am Sonntag, war der größte Teil der Musikfunktionäre aus 64 Ländern bereits auf dem Heimweg, während die örtlichen Festivalbesucher ihren Rausch ausschliefen und die Stadt merkwürdig ruhig war. Weit außerhalb der Stadt gab es an dem Nachmittag einen musikalischen Höhepunkt zu bestaunen, den kaum einer der fürs SXSW-Festival von weither Angereisten auch nur registriert hatte: Ein Konzert des großen Merle Haggard war auf dem parallel stattfindenden „Austin Rodeo“ angekündigt.

Der mexikanische Taxifahrer hatte von dem Rodeo nichts gehört und keine Ahnung, wo es stattfinden würde. Nach etwa dreißig Minuten Fahrt auf der Autobahn stadtauswärts war er sichtlich froh, als ich auf einer Wiese das Rodeo-Gelände entdeckte. Es war das erste Rodeo meines Lebens, und ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwarten würde: Zunächst einmal eine Art Landwirtschaftsausstellung, auf der riesige Pickups und Traktoren vorgeführt wurden, man konnte die ausgebauten Motoren bewundern, und es gab temporäre Hallen mit Vieh – hauptsächlich Schafe und die texanischen Longhorn-Rinder, nach denen sich auch die Football- und Basketball-Teams der University of Texas benannt haben, die Longhorns. Daneben zahlreiche Freßstände, auf denen Tenderloins, „Krazy Frys“ oder „Sunday Cakes“ angeboten wurden. Die kleinen Jungen mit ihren Cowboyhüten durften, wenn sie nicht die einschlägigen Fahrgeschäfte eines Rummels nutzten, auf die Fahrersitze von kleineren Traktoren oder Multifunktionsbaggern klettern.

Das Publikum: Hauptsächlich untere Mittelschicht und Farmer, getragen wurden Cowboyhüte und Cowboystiefel, T-Shirts, karierte Hemden, Jeans. Man besichtigte das technische Gerät und das Vieh mit Kennerblick oder, falls man eher aus der Stadt kam, mit leiser Ehrfurcht. So große Traktoren! So große Longhorns! So krazy frys!

Für die größte temporäre Halle mußte man Eintritt bezahlen, dort fand das eigentliche Rodeo statt: „Rodeo Austin – Where Weird Meets Western“, ganz dem Motto der texanischen Hauptstadt gemäß, „keep Austin weird“, als ob noch irgendetwas an der aalglatten Technologie- und Musikhauptstadt verrückt wäre. Der Marketingtrick erinnert an die CSU-Narration von Bayern unter Franz Josef Strauß: Hightech und Lederhosen. In der texanischen Hauptstadt, wo George W. Bush einst Gouvernor war, ist es: Hightech, Musik und Western-Kultur. Das eigentliche Rodeo entpuppt sich als relativ banale und seelenlose Aneinanderreihung von Männern, die versuchen, sich von Pferden nicht abwerfen zu lassen, von Männern, die versuchen, sich von Stieren nicht abwerfen zu lassen, und zwischendrin von kleinen Jungen, die versuchen, sich von Schafen nicht abwerfen zu lassen. Bei einigen dieser Reitvorführungen wird eine Art künstlerischer Gesamteindruck bewertet, bei anderen kommt es auf die Zahl von Sekunden an, die man die Bullen reiten kann. Es ist wie bei einem Basketballspiel der NBA oder einer Talkshow mit Markus Lanz: Stimmung kommt eigentlich nicht so recht auf, das Publikum muß von Einpeitschern darauf hingewiesen werden, daß das, was man sieht, ganz besonders toll und auf jeden Fall einen Applaus wert ist. Die Veranstaltung ist zäh und dauert lange. Ich weiß nicht, wie viele Zuschauer für das Rodeo und wie viele für Merle Haggard gekommen sind. Dann endlich ist die Reiterei vorbei, und auf das weiche Geläuf wird mit einem großen Traktor die Bühne gezogen, auf der die Instrumente bereits eingerichtet sind und die Band mit in die Rodeo-Arena fährt.

Ich habe ein Ticket für den Innenraum gebucht, wir werden von unseren Plätzen auf der Rodeotribüne hinuntergeführt zum Eingang, wo sonst die Rodeoreiter warten, bevor sie auf ihren Pferden oder Stieren in die Manage geschickt werden. Wieder Männer mit Cowboyhüten, Frauen mit bestickten Cowboyblusen. Wir bekommen faltbare Stühle und werden in die Manage geführt, wo wir seitlich der Bühne platziert werden. Eine gewisse Nervosität macht sich breit. Irgendwann wird es dunkel, Schlagzeugtusch, und ein riesengroßer weißer Pickup fährt in die Manage, auf dem Beifahrersitz Merle Haggard: Ein alter, wackliger Mann mit Halbglatze. Die Band beginnt, ein banales, vaudevillartiges Country-Tanzstückchen zu spielen, nach einiger Zeit setzt der alte Mann im weißen Pickup seinen schwarzen Cowboyhut auf, nickt dem Assistenten draußen vor der Autotür zu, der öffnet die Tür, Merle Haggard steigt aus, Jubel brandet auf, und noch auf dem Trittbrett des Pickups zieht Haggard seinen Hut und grüßt ruhig ins Publikum, ehe er etwas wacklig die Treppe zur Bühne hinaufgeht. Aus dem Fond des Pickups steigen seine zwei Background-Sängerinnen aus, nicht mehr ganz jung, in sehr kurzen schwarzen Kleidchen und, natürlich, mit Cowboystiefeln. Und als die Band ihr Intro beendet hat, begrüßt „the Hag“ das Publikum: „Good afternoon! Nice to be here with you in Austin, Texas!“

 

 

Während sich die Bühne langsam zu drehen beginnt, damit jeder im Publikum The Hag von vorne zu sehen bekommt, startet er das Konzert mit einem seiner großen Hits, Big City (das von den Coen-Brüdern 1981 in ihrem Film Fargo verwendet wurde):

I’m tired of this dirty old city

Entirely too much work and never enough pay

And I’m tired of these dirty old sidewalks

Think I’ll walk off my steady job today.

Mit dem Refrain, der von Teilen des Publikums mitgesungen wird:

Turn me loose, set me free

Somewhere in the middle of Montana

And gimme all I’ve got comin’ to me

And keep your retirement

And your so called social security

Big City, turn me loose and set me free.

Das ist sehr Amerika, boy! Ländliches Amerika vor allem. Wo man stolz auf „Freiheit“ ist oder das, was man dafür hält, wo man sich wünscht, den dreckigen großen Städten und den regelmäßigen Jobs den Rücken zu kehren – Scheiß auf Pensionen, Scheiß auf eure „sogenannte“ soziale Sicherheit! Große Stadt, laß mich los, laß mich frei!

 

Merle Haggard ist einer der bedeutendsten Singer/Songwriter Amerikas, und er verkörpert wie nur wenige den Geist und das Lebensgefühl der amerikanischen Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert: Diese hart arbeitenden, mitunter auch mal hart zuschlagenden, vom „Schicksal“ gebeutelten Leute im eher ländlichen Amerika, die trotz alledem und alledem das Herz auf dem rechten Fleck haben, wie man so sagt.

 

Hier wird keine Dialektik verhandelt. Es wird nicht begründet, warum es den Menschen schlecht geht, es wird lediglich konstatiert. Das Leben der sogenannten kleinen Leute, der Arbeiter und der unteren Mittelschicht, wird in den Songs von Merle Haggard beschrieben in einem harten Realismus, den man auch aus amerikanischen Kurzgeschichten kennt: Wirtschaftliche Probleme vor allem, daraus resultierendes Alltagsleben, Liebe, Trennung, Zwänge, Konventionen. Hard boiled. All dies thematisiert der Country von Sängern wie Merle Haggard, Buck Owens oder Tony Joe White auf eine Art und Weise, die viel mit dem Blues der 1920 und 1930er Jahre zu tun hat: Country als der Blues des weißen Mannes, sozusagen.

 

Als zweiten Song singt Merle Haggard einen anderen seiner unzähligen Hits (von 1966 bis 1987 hatte er sage und schreibe 38 Nummer Eins-Hits in den US Country-Charts, nicht wenige davon waren auch auf Platz 1 der allgemeinen Single-Charts), Silver Wings, ein Lied des Liebeskummers, die geliebte Person sitzt in einem Flugzeug, dessen silberne Flügel langsam außer Sicht geraten und den anderen forttragen, „leaving me lonely“, und eine kleine, qualvolle Klavierfigur in der Begleitung unterstreicht die Endgültigkeit und Hoffnungslosigkeit dieses Gefühls. Und hier ist der andere große, mystische Begriff des amerikanischen Country und des american way of life: Neben Freiheit ist es eben auch die Einsamkeit, immer. Die Einsamkeit des Hank Williams, I’m so lonesome I could cry, die Einsamkeit des von John Wayne in John Fords The Searchers verkörperten Ethan Edwards in der Wildnis des „Wilden Westens“, also die Einsamkeit des Einzelnen angesichts eines weiten, fremden, wilden Landes mit feindlichen Bewohnern (Jean-Pierre Melville, der Amerika liebte, hat seinem 1967 entstandenen Film Le Samouraï das Motto vorangestellt: „Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Tigers im Dschungel“...). Einsamkeit ist hier alles andere als ein persönlicher, sondern ein gesellschaftlicher Topos, ein „Weltriß“, wie Heinrich Heine das nannte, also eine Fremdheit gegenüber der Welt und der Gesellschaft, eine Fremdheit, die durch Anpassung und durch Unterwerfung unter bestimmte Begriffe wie „Freiheit“ übertüncht wird.

 

Silver Wings war die B-Seite eines anderen Hits, den Haggard 1969 veröffentlichte: Workin’ Man Blues. Der Song, der seine Rolle als Sänger des armen Amerika, der aufrechten Arbeiter zementierte, der Song vom Vater mit seinen neun Kindern, der hart arbeitet und manchmal davon träumt, seine Verantwortung hinter sich zu lassen, dem harten Leben zu entfliehen und sich einfach in den nächsten Zug zu setzen, „to catch a train to another town“, aber es bleibt ein kleiner und kurzer Tagtraum, denn in jeder anderen Stadt würde ja genau das gleiche Leben warten, dem er zu entfliehen trachtet:

It's a big job gettin' by with nine kids and a wife
You know I've been a workin' man dang near all my life
I'll keep on working long as my two hands are fit to use
I drink my beer at a tavern

Sing a little bit of these working man blues
(...)

Sometimes I think about leavin', do a little bummin' around
Throw my bills out the window, catch me a train to another town
But I go back workin', I got to buy my kids a brand new pair of shoes
I drink my beer at a tavern and cry a little bit of these workin' man blues
Here comin', workin' man

Well, hey, hey, the working man, the working man like me
Never been on welfare and that's one place he will not be
He'd be workin' just as long as his two hands are fit to use

 

 

"Working man blues":

 

 

Wie gesagt: Hier ist keine Dialektik, keine Rebellion, kein Widerstand zu finden, in solchen Songs so wenig wie in der US-amerikanischen Gesellschaft. Es ist ein Sich-Fügen in das als unvermeidlich und unabänderlich Erkannte, man arbeitet solange weiter, wie die beiden Hände zupacken können, abends trinkt man vielleicht ein Bier in der Kneipe, und auf keinen Fall wird man je Sozialhilfe oder sonstige staatliche Unterstützung beantragen – dieser tragische Stolz der weißen „blue collar worker“... Man könnte nun mit Marcuse kritisch anmerken, daß solche Songs der „Zementierung des Bestehenden“, vor allem der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung dienen. Man kann aber auch festhalten, daß die Selbstvergewisserung einer Schicht, die Beschreibung ihrer Sorgen und Nöte ein rares Gut ist, das immerhin dazu beiträgt, dieser Schicht ein gewisses Selbstbewußtsein zu verleihen. Denn ohne Zweifel schrieb Merle Haggard angry Songs darüber, wie es ist, in Armut zu leben. Und: in diesen Songs werden Dinge verhandelt, die die Popmusik kaum je zur Kenntnis nahm, heute noch weniger denn je. Hier dreht es sich um die Arbeiterklasse, um die unteren Schichten, die im Schlagerpop all der Wandas, AnnenMayKantereits und Andrea Bergs unserer Tage niemals vorkommen würden. Merle Haggard gelang es, mit seinem Workin’ Man Blues eine Art identitätsstiftende Hymne des einfachen Mannes schreiben – eine Hymne, die in die Zeit paßte und ihr Gesicht verlieh. Die hart arbeitende untere Mittelschicht Amerikas war 1969 „Man and Women of the Year“ im Time-Magazine, und Peter Hamill veröffentlichte im gleichen Jahr seinen Aufsatz „The Revolt of the White Lower Middle Class“. Diese Schicht lebte „entfremdet“ wie eh und je, aber die Arbeiter waren so verärgert über ihre Lage wie selten zuvor. Die Löhne stiegen nicht mehr, oft sanken sie. Sie wollten nicht „on welfare“ sein, aber verdammt nochmal, wenn ihre harte Arbeit nicht mehr reichte, um ihre Familien zu ernähren, war doch etwas falsch. Sie wollten doch nur „ordentlich leben und frei sein“. The Hag gab ihnen eine Stimme, etwa mit seinen Songs Workin’ Man Blues oder Hungry Eyes, in dem sich der Sänger erinnert, wie sein Vater in einem „crowded labour camp“ (in so einem lebte auch Haggards Familie) mit seinen „two hard working hands“ seine Familie durchzubringen suchte. Der Song (und damit das Album, das vermutlich Merle Haggards bestes ist) beginnt mit der Zeile „A canvas-covered cabin stands out in this memory I revive“, und das legt bereits die Stimmung fest, und dieser Rückblick ist alles andere als nostalgisch, es gibt keine „guten, alten Zeiten“, ganz im Gegenteil: Die Familie war extrem arm, die Situation hoffnungslos, man kämpfte für die Mindestbedingungen eines menschenwürdigen Lebens, etwas zu Essen, ein Dach über den Kopf:

Mama never had the luxuries she wanted
But it wasn't cause my daddy didn't try.
She only wanted things she really needed;
One more reason for my mama's hungry eyes.

Es muß doch eine Veränderung zum Besseren geben! Wie Arthur Millers Handlungsreisender klammert sich der Vater an diese Hoffnung, vergebens.

And us kids were just too young to realize
That another class of people put us somewhere just below;
One more reason for my mama's hungry eyes.

Merle Haggard schreibt hier in wenigen Zeilen und mit kühler Bitterkeit die Tragödie des gescheiterten amerikanischen Traums.

Mama tried beginnt mit den Zeilen

First thing I remember knowing

Is a lonesome whistle blowin’,

womit ein anderer ur-amerikanischer Mythos besungen wird, der sich in Haggards Liedern immer wieder findet (noch in seinem allerletzten Song singt er über einen Güterwaggon, „Kiss an old boxcar goodbye“...): Der Train-Song. Mama tried erzählt vom sozialen Abstieg eines Wanderarbeiters, der auf einen Güterzug aufspringt (Haggard riß mit zehn Jahren, nach dem Tod seines Vaters, das erste Mal von zuhause aus, auf einem Güterzug fuhr er nordwärts...) und im Gefängnis landet, so wie Merle Haggard, der nach etlichen Aufenthalten in sogenannten Besserungsanstalten 1957 wegen Einbruchs für drei Jahre ins Gefängnis San Quentin einfuhr, wo er 1958 Johnny Cash bei dessen allererstem Gefängnis-Konzert überhaupt erlebte (es wird gern behauptet, daß Haggard von dieser Show so beeindruckt gewesen sei, daß er sich das Gitarrespielen beibrachte, was ziemlicher Mumpitz ist: bereits im Alter von zwölf Jahren, also 1949, hatte er sich das Gitarrespielen beigebracht, und schon 1951 hatte er in Modesto seine ersten bezahlten Auftritte). Haggard hat erlebt, wovon er sang, und das merkt man seinen Songs an. Und er nahm Stellung, bewies Haltung, etwa 1972 mit Irma Jackson, einem Lied über eine verbotene gemischtrassige Liebschaft – ein Song, der eigentlich schon 1969 eine Single werden sollte, die laut Johnny Cash ein „smash hit“ geworden wäre, doch seine Plattenfirma Capitol hat ihm die Veröffentlichung seinerzeit ausgeredet. Engstirnig, „narrow-minded“, wie Haggard damals in einem Interview dem „Wall Street Journal“ erklärte, waren beileibe nicht nur „die Leute“, speziell im Süden der USA, sondern eben auch seine Plattenfirma...

 

Und immer wieder Songs über die Arbeiterklasse, über die Gescheiterten und Verlorenen. If We Make It Through December erzählt von einem Vater, der seinen Job in der Fabrik verloren und kein Geld hat, seiner Tochter Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Und dann gibt es dieses Sing Me Back Home, dessen Refrain

Sing me back home with a song I used to hear

Make my old memories come alive

Take me away and turn back the years

Sing me back home before I die

für einen sentimentalen Song angesichts des bevorstehenden Todes gehalten werden könnte, wenn da nicht die Geschichte wäre, die Haggard gleich in der ersten Zeile erzählt:

 

„The warden led a prisoner down the hallway to his doom“

 

Der Gefängniswärter führt einen Gefangenen den Flur entlang in sein Verderben, es ist sein letzter Gang, ihn erwartet die Todesstrafe. Und er fragt den Wärter, ob ihm sein Gitarre spielender Freund einen letzten Song spielen könne. Und dieser Song wird dem Todeskandidaten alte Erinnerungen vorspiegeln, ihn in eine andere Welt entführen, all die Jahre zurückdrehen. Und die dunkle Trommel des Drummers der Strangers, Eddie Burri, imitiert den Herzschlag des zum Tode Verurteilten (die Gitarre bei der Studioaufnahme dieses Songs spielt übrigens kein Geringerer als Glen Campbell).

 

"Sing me back home", live @ Austin City Lmits 1978:

 

 

Und auch hier ist er wieder, der große Unterschied zu vielen, die sich heute Singer/Songwriter nennen und deren Songs an Banalität und kitschiger Gefühligkeit kaum zu übertreffen sind: Denn Haggard schreibt Selbsterlebtes. In diesem Song erinnert er an seinen Zellengenossen „Rabbit“ Hendricks, der in der Gaskammer umgebracht wurde und dessen letzten Gang Haggard im Gefängnis miterlebt hat. Im Interview mit „Billboard“ erinnert er sich 1977: „Es ist ein Gefühl, das du nie vergißt, wenn du jemanden, den du kennst, seinen letzten Gang antreten siehst.“ Und Erlösung finden die Protagonisten des amerikanischen (Alb-)Traums nur im Country-Song, der sie „zurück nach Hause“, „back home“ singt.

 

1969 nahm Merle Haggard den wahrscheinlich berüchtigsten Song seiner Karriere auf: Okie from Muscogee, den er zusammen mit Strangers-Drummer Eddie Burri schrieb, jenen Song, der auf einfachste Weise die Ansichten der sogenannten einfachen Menschen des ländlichen und kleinstädtischen Amerikas beschrieb, die Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen haben und diese Angst in stereotypen reaktionären Binsenweisheiten abzudämpfen suchen, die sich explizit gegen das liberale Amerika und speziell gegen die Hippie-Kultur Kaliforniens richten:

We don't smoke marijuana in Muskogee;
We don't take no trips on LSD
We don't burn no draft cards down on Main Street;
We like livin' right, and bein' free.
I'm proud to be an Okie from Muskogee,
A place where even squares can have a ball
We still wave Old Glory down at the courthouse,
And white lightnin's still the biggest thrill of all
(...)
We don't make a party out of lovin';
We like holdin' hands and pitchin' woo;
We don't let our hair grow long and shaggy,
Like the hippies out in San Francisco do.

 

Zweifelsohne war dieser Song, der als Joke im Tourbus entstanden war, ironisch, und zweifelsohne ist er als Parodie auf die ländliche, sagen wir hinterwäldlerische Redneck-Kultur gemeint. Ebenso zweifelsfrei aber bekam Okie from Muskogee eine Eigendynamik und wurde zu einem Monsterhit, zur Hymne des konservativen Amerikas. Dazu trugen nicht unwesentlich die Zeitenläufte bei, auf die David Cantwell in seinem hervorragenden Buch „Merle Haggard – The Running Kind“ hinweist: Im Oktober 1969, als Okie from Muscogee in die Country-Charts einstieg, organisierten die Weathermen die „Days of Rage“ in Chicago, und in der Woche darauf protestierten über zwei Millionen junge Menschen gegen den Vietnamkrieg und initiierten ihr „Moratorium to End the War“. Im Gegensatz dazu gab es die Konservativen, für die der Krieg in Vietnam ein Krieg für die amerikanischen Werte, für „freedom and democracy“ war – ohne diesen ideologischen Überbau wäre es für die Unter- und untere Mittelschicht kaum auszuhalten gewesen, daß ihre Söhne in Vietnam kämpften und nicht wenige im Sarg oder als Krüppel zurückkehrten.

 

Und nun kam dieser Country-Star und sang ein Lied gegen die Hippies. Wenn das kein Hit geworden wäre, dann hätte es nie wieder einen Hit gegeben! Manche Nachrufe auf Merle Haggard sprechen von dem „oft mißverstandenen“ Okie from Muskogee, aber so einfach kommt man nicht davon. Sicher, der Song war als Joke entstanden und ironisch gemeint – er hatte aber längst ein Eigenleben entwickelt, und Haggard tat einiges, um den patriotischen Anti-Hippie-Furor seines Songs anzuheizen, etwa durch einschlägige Interviews im „Rolling Stone“. Okie from Muskogee ist kein mißverstandener Song, wie es etwa Born in the U.S.A. von Bruce Springsteen ist.

 

Man wird nicht umhinkommen festzustellen, daß Merle Haggard politisch in den 1960er und 1970er Jahren eher der Rechten zuneigte, und es wäre albern, das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Edo Reents schrieb in der „FAZ“, Haggard „wird tief im Herzen wohl doch ein Rechter mit starker Arme-Leute-Sympathie gewesen sein“; ich weiß nicht, ob man dies auch für spätere Jahrzehnte so konstatieren kann, aber für die 60er und 70er Jahre trifft es unbedingt zu. Und diese Haltung ist in den USA nicht eben schwach verbreitet. Starke Sympathie für die Armen und die Arbeiter. Aber eben auch unbedingte Zustimmung zu Demokratie und der US-Version von „Freiheit“, für die auch gekämpft werden muß, auch mit dem Militär. Noch entschiedener wird diese Haltung in Merle Haggards Song The Fightin’ Side Of Me, in dem er insistiert, daß es Amerikaner gebe, die ihr Land eben so lieben, wie es ist, und er formuliert eine eindeutige „Warnung“ an die Hippies und das liberale Amerika:

 

Runnin' down the way of life,
Our fightin' men have fought and died to keep.
If you don't love it, leave it:
Let this song I'm singin' be a warnin'.
If you're runnin' down my country, man,
You're walkin' on the fightin' side of me.

 

Geht doch rüber, wenn euch hier was nicht paßt! Sonst lernt ihr meine Faustkennen...“ Sounds familiar?

 

Als Haggard 1973 auf Einladung von Richard Nixon im Weißen Haus auftrat, spielte er sehr zur Freude des Hausherren, der wußte, daß diese Form von Country-Musik seine Herrschaft absicherte, just Okie from Muscogee und The Fightin’ Side Of Me:

 

 

Dies ist eine Haltung, die nicht nur bei Merle Haggard anzutreffen ist, sondern auch beispielsweise bei Johnny Cash. Dort tritt sie sogar noch unverfälschter, noch reaktionärer auf, etwa in seinem Song Ragged Old Flag. In der Anmoderation zu einer Konzertaufführung dieses Songs in einem Stadion gibt Cash zunächst den Patrioten, erzählt, daß er, wann immer er aus Europa zurückkehre, sein Land noch mehr liebe als zuvor. Und dann sagt Cash: „I thank God for all the freedoms we’ve got in this country. (...) Even the rights to burn the flag, you know? I’m proud of those rights.“ Sein Publikum ist kurz sprachlos, dann entrüstet, und es entlädt sich eine Orgie von Buhs über den Country-Sänger. Die Freiheit, unsere amerikanische Flagge zu verbrennen? Wie bitte?!? Doch Cash bringt das Publikum zum Schweigen und fährt fort: „Let me tell you some. We also got the right to bear arms. And when you burn my flag, I shoot you!“ Wir haben das Recht, Waffen zu tragen, und wenn du meine Flagge verbrennst, erschieße ich dich! Ohrenbetäubender Jubel.

 

 

Eine bittere Szene, die den „Man in black“ nicht in gutem Licht scheinen läßt. Doch was bedeutet das für die Songs, die Johnny Cash oder Merle Haggard singen? Ändert sich an der Kunst der ganz Großen irgendetwas, wenn Singer/Songwriter’s Paradies nicht ohne Fehler daherkommt? Wir leben selbst in tausend Kompromissen und Widersprüchen. Aber von den Künstlern, die wir verehren, erwarten wir, daß sie immer das Richtige tun oder doch zumindest sagen und singen. Natürlich ist es schöner (und für uns Fans einfacher), wenn ein Künstler, aber auch generell jeder Mensch in einer Einheit von Wort und Tat lebt. Und es mag eines der Lebensziele von uns Vorläufigen sein, Wort und Tat so weitgehend in Übereinstimmung zu bringen, wie es irgend möglich ist. Doch das Werk eines Merle Haggard wird keinen Deut unbedeutender dadurch, daß er auch den einen oder anderen zweifelhaften Song geschrieben, das eine oder andere merkwürdige Statement abgegeben hat.

 

Und ob Merle Haggard tatsächlich zeitlebens ein „Rechter“ war, würde ich dann doch bezweifeln. Er zeigte sich mit den Dixie Chicks solidarisch, die gegen Bushs mit Lügen erzwungenen Irak-Krieg ausgesprochen hatten und daraufhin von tausenden US-Radiostationen boykottiert wurden. 2005 veröffentlichte The Hag seinen eigenen Anti-Irak-Krieg-Song, „Let’s get out of Iraq / And get back on track.“ Er sang schon 2007 in seinen Konzerten einen Song, der sich für die Präsidentschaft von, nun ja, Hillary Clinton einsetzte, und als Obama 2008 Präsident der USA war, schrieb Haggard ein Gedicht mit dem Titel „Hopes Are High“. 2009 schließlich sang er den Woody Guthrie-Song Jesus Christ für Michael Moore’s Film Capitalism: A Love Story, mit den Zeilen

He said to the rich, "Give your money to the poor," (...)

He went to the preacher, He went to the sheriff
He told them all the same
"Sell all of your jewelry and give it to the poor,"

Und Merle Haggard fügt diesen Zeilen im Brustton vollster Überzeugung hinzu:

When the patience of the workers gives away,
Would be better for the rich if they’d never been born.

Mag sein, daß Haggard auch mal ein Konservativer war. Aber er war immer, zeit seines Lebens, der Sänger der amerikanischen Arbeiterklasse, der Unterschicht, der unteren Mittelschicht, der Verlierer des Kapitalismus. Und die Melodie der „Freiheit“, die die amerikanische Unterschicht so gerne pfeift, ist eben auch ein Pfeifen im Wald: Da draußen lauert schließlich ein Leben, das noch übler, noch hoffnungsloser ist als das, das man gerade lebt oder vor dem man sich in eine Traumwelt zurückzieht. Haggard war, neben Willie Nelson oder Waylon Jennings, der Held des „Outlaw Country“. Geliebt wurde er vom Publikum wegen seiner Ehrlichkeit und Gradlinigkeit, wegen seiner Haltung: „I’ll tell you what the public likes more than anything: It’s the most rare commodity in the world – honesty“, erklärte er dem „Boston Globe“.

 

Musikalisch begründete Merle Haggard zusammen mit Buck Owens den „Bakersfield Sound“, einen von Gitarren geprägten, scharfen und rauen Sound mit Ecken und Kanten – bewußt im Gegensatz zum seit den 1950er Jahren in Nashville vorherrschenden kommerziellen Zucker- und Schmusebrei, für den The Hag nur Verachtung übrig hatte. Sein Einfluß auf die Populärmusik ist unendlich groß, größer als die Zahl der Künstler, die seine Songs gecovert haben: The Grateful Dead (deren Version von Mama Tried man im berühmten Woodstock-Film sehen kann), The Byrds (Sing Me Back Home), Gram Parsons, der Merle Haggard verehrte, Joan Baez, Elvis Costello oder die Flaming Lips und Bonnie ‚Prince’ Billy. Und Country-infizierte Alben wie Bayou Country von CCR oder Beggars Banquet der Rolling Stones sind wohl schwerlich ohne den Einfluß Merle Haggards vorstellbar. Lynyrd Skynyrd sangen in ihrem Railroad Song: „Well I’m a ride this train Lord until I find out / What Jimmie Rodgers and the Hag was all about“. Und Bob Dylan veröffentlichte 2006 auf Modern Times seinen Workingman’s Blues # 2, eine Referenz an Haggards Jahrzehnte vorher entstandenen Working Man’s Blues, in dem The Hags Schlußzeile wörtlich zitiert wird:

Meet me at the bottom, don't lag behind
Bring me my boots and shoes
You can hang back or fight your best on the front line
Sing a little bit of these workingman's blues

Merle Haggard wurde am 6. April 1937 als Sohn von armen Arbeitsmigranten geboren und starb am 6.April 2016. Im Jahr 2000 unterschrieb er einen Plattenvertrag mit Anti, wo er das Album „If I Could Only Fly“ und ein Jahr später „Roots Vol. 1“ veröffentlichte. 2008 wurde bei Haggard Lungenkrebs diagnostiziert, ihm wurden große Teile seiner Lunge entnommen. Er ging weiter unermüdlich auf Tournee, selbst ganz der hard working man, den er in vielen seiner Lieder besungen hat. Im Jahr 2013, als ich Merle Haggard in Austin gesehen habe, gab Haggard 88 Konzerte – im Alter von 76 Jahren! Seinen letzten Song, Kern River Blues, nahm Haggard am 9. Februar 2016 auf, weniger als zwei Monate vor seinem Tod. Der Song wurde im Mai veröffentlicht, und er ist ein Farewell eines großen Sängers und Songwriters, aber auch ein Farewell auf bessere Zeiten:

I’m leavin’ town tomorrow
Get my breakfast in the sky
(...)
There used to be a river here
Runnin’ deep and wide
Well, they used to have Kern River
Runnin’ deep and wide
Then somebody stole the water
Another politician lied
(...)
Well, I’m leaving town forever
Kiss an old boxcar goodbye
Well, I’m leaving town forever
Kiss an old boxcar goodbye
I dug my blues down in the river
But the old Kern River is dry
 

Kehren wir noch ein letztes Mal zurück zum Merle Haggard-Konzert in Austin, Texas, an dem sonnig-warmen Märztag im Jahr 2013. Für mich, der ich die letzten Jahre seines Lebens Europaagent von Townes Van Zandt sein durfte, was wohl mit das Größte überhaupt in meinem Konzertagentenleben ist, war es beeindruckend, daß Merle Haggard Townes’ Song Pancho and Lefty sang. Und vor allem: daß praktisch das ganze Publikum mitsang! Kaum einer dort in der provisorischen Rodeo-Halle, der den Song nicht kannte. Es hätte Townes gefallen, daß sein vermutlich berühmtester Song ein echter „Folk Song“ geworden war:

 

Living on the road my friend
Was gonna keep you free and clean

Und hier sind wir wieder bei diesem unergründlich amerikanischem Begriff „free“, der manchmal so hohl klingt und manchmal die Welt bedeuten kann...

Dann war das Konzert vorbei, keine Zugaben, wie es in den USA eben üblich ist. Haggard ging etwas wacklig die Treppe von der Bühne hinunter, wo wieder der große, weiße Pick-Up auf ihn wartete. Er stieg ein, und dann fuhr der weiße Pick-Up eine Runde um die Bühne herum am Publikum vorbei, The Hag winkte würdevoll mit seinem Hut in der Hand aus dem geöffneten Seitenfenster, der Rodeosprecher gab irgendeinen pathetischen Blödsinn von sich, und dann fuhr Merle Haggard aus der Manege, während die Roadies schon begannen, die Drehbühne abzubauen.

 

 

Es war ein gutes Konzert, aber nicht eines der faszinierendsten meines Lebens, eher das Statement eines hart arbeitenden Musikers, der einige der besten Songs geschrieben hat, die je geschrieben wurden. Haggard war kein grandioser Performer, ihm fehlte die Präsenz, die Aura eines Johnny Cash. Er war ein wunderbarer Sänger, der eher mit Understatement arbeitete und dem Pathos erfreulicherweise fremd war. Er war kein „stage animal“. Er sagte von sich selbst, alles, was er wolle, sei Angeln gehen und Songs schreiben. Dem Journalisten Paul Hemphill erzählte er, er wolle erinnert werden „as a writer, somebody who did some living and wrote songs about what he knew. That’s all.“

 

Die Songs des Merle Haggard zeigen, daß Haggard mehr vom Leben wußte als die meisten von uns. Ich war nicht der einzige in der Rodeo-Manege dort in Austin, Texas, der ein paar Tränen verdrückte, als der große alte Mann verschwand.

 

 

Berthold Seliger hat auf Spotify eine Playlist zusammengestellt, die wichtige Songs von Merle Haggard sowie einige Coverversionen (und ihre Originalversionen) entlang dieses Aufsatzes enthält, aber auch zwei der besten Songs überhaupt, die in dem Aufsatz nicht mehr unterzubringen waren: Das so niederschmetternde wie würdevolle Chill Factor und I Take A Lot Of Pride In What I Am:

https://open.spotify.com/user/bs1860/playlist/5HaZYkML6fsJbeBYKKf2Jw

 

Die meisten seiner Alben sind heute in günstigen Nachpressungen erhältlich.

 

Hervorragend sind die Zusammenstellungen bei Bear Family, die den Anspruch einer „kritischen Gesamtausgabe“ erfüllen, wenn so etwas im Musikgeschäft üblich wäre: „Untamed Hawk“ bringt alle Songs aus den Jahren 1962 bis 1968, also vom Beginn seiner Karriere, inklusive etlicher Raritäten, und „The Studio Recordings 1968-76“ enthält alle Alben seiner erfolgreichsten Zeit mit zahlreichen unveröffentlichten Aufnahmen; beide Boxen enthalten ausführliches Material.

 

Von Merle Haggard sind zwei Autobiografien erschienen, die bessere ist „My House Of Memories“ (Merle Haggard with Tom Carter). Unbedingt empfehlenswert ist „Merle Haggard. The Running Kind“ von David Cantwell (University of Texas Press, Austin).

 

Auf diesem YouTube-Video aus der Johnny Cash-Show kann man Merle Haggard, Johnny Cash, Carl Perkins, June Carter Cash, Bonnie Owens und die Carter Family bei einem Medley von Haggards Greatest Hits (Stand: Mitte 1970er Jahre...) sehen (es ist sehr „American TV style“, klar...):

 

Landwirtschaftliche Geräte beim „Austin Rodeo“ in Texas. (Bild: Berthold Seliger)

Auf der Rodeotribüne in Austin, Texas. (Bild: Berthold Seliger)