Der dreigeteilte Roman Verlorene Illusionen1 - eines der besten Werke der »kleinen Romanfabrik«2 und »Promotion-Agentur Balzac«3 - ist zwischen 1837–1843 in Serie erschienen und fällt somit in die eher restaurativ geprägte Phase des Autors. In den Verlorenen Illusionen sind alle Momente des Balzacschen Werkes dermaßen verdichtet, dass es sich deutlich gegen die Einordnung in die Menschliche Komödie als bloße Szene aus dem Provinzleben sperrt, wie übrigens auch gegen eine Besprechung solch kurzen Umfangs.
Die Geschichte beginnt in dem kleinen Provinzstädtchen Angoulême an dem Fluß Charente. Der alte, analphabetische Drucker Séchard überlässt seinem gebildeten Sohn David die Druckerei zu einem unbarmherzigen Preis, denn für ihn »gab es in Geschäften nicht Sohn und nicht Vater.« (14) So sehr die Familienbande hier schon dem Wert geopfert ist, erweist sich die väterliche Tradition, welche eindringlich in der Verteidigung der alten Holzpressen gegen neue Stanhopepressen geschildert wird, schnell als rationalisierter Geiz, der eher unter dem Lichte der Schatz- als jenem der Kapitalbildung steht.
Die gesamte Menschliche Komödie ist angesiedelt an der Schwelle zum Industriekapitalismus und offenbart somit strenggenommen das Ende jenes »Übergang(s) von feudalen Produktionsverhältnissen zum Kapital.«4 Dieser historische Antagonismus ist schön ausgemalt an dem Gegensatz der alten Stadt Angoulême und ihrem Vorort l’Houmeau. Die politische Ökonomie ist hier räumlich noch geteilt. Der Vorort, welcher im Gegensatz zur malerischen Berglage der alten Stadt am Ufer des Flusses gelegen ist und keinen natürlichen Barrieren der Ausdehnung unterliegt, entwickelte sich durch die Papierproduktion rasant zum eigentlichen ökonomischen Zentrum, während die gesamte Verwaltung weiterhin auf dem Berge ruht: »Oben der Adel und die Macht, unten der Handel und das Geld. Zwei soziale Sphären, die in unaufhörlicher Gegnerschaft stehen. Der Handel ist reich, der Adel im allgemeinen arm, und jeder rächt sich am anderen durch Verachtung.«(55)
Schnell tritt David in der Geschichte zurück zugunsten seines Freundes – dem angehenden Dichter Lucien Chardon, dessen Liebe einerseits zur adligen und verheirateten Madame Naïs de Bargeton, der »Königin Angoulêmes«, und andererseits zum literarischen Ruhm den maßgeblichen Treibstoff der Entwicklung liefert. Beide – durch den für die Provinz symptomatischen Mangel an Gesellschaft im emphatischen Sinne und die maßlose Zuneigung ihrer Umgebung zu prototypischen Narzissten erzogenen Gestalten – flüchten gemeinsam nach Paris, wo jener titelgebende Verlust der jeweiligen Illusionen auf raschem Fuße folgt. Die beiden vormaligen Unikate werden in Paris zu vergleichbaren Exemplaren. Der provinzielle Schein verblasst gnadenlos in dem Schimmer der Hauptstadt und die instrumentelle, berechnende Liebe zerbricht, da »wo der Ehrgeiz beginnt, die unschuldigen Gefühle verschwinden.«(63)
Gerade im Ehrgeiz treffen sich Figur und Autor, denn wie Honoré de Balzac, der sich das de selbstständig einfügte, um sich in die Nähe eines bekannten französischen Adelsgeschlechtes zu rücken und somit den Einzug in die vornehme Welt der Salons zu vereinfachen, versucht auch Lucien sich de Rubempré zu nennen und sich als solcher legitimieren zu lassen, wobei er im Gegensatz zu seinem Schöpfer in der mütterlichen Linie durchaus eine adlige Abstammung vorweisen kann.
Rasch geht es jedoch nur noch um Geld, da er – nunmehr auf sich gestellt – sein vorgesehenes Jahresbudget schon nach einer Woche aufgebraucht hat und die Familie in der Provinz mit seinen Ausgaben immer wieder fast ruiniert, gleichzeitig aber um die Bedeutung »des notwendig Überflüssigen«(199) weiß, um sich zu »entprovinzialisieren« (189) bzw. in der neuen Übersetzung sich zu »desangoulêmisieren«. Später werden ihm Kleidung, Hut und Stock neben der Feder als seine »Waffen« dienen.
Hervorzuheben ist ferner die explizite und permanente Trennung von Interesse und Gefühl, die sprachlich etwas vage sein mag, doch recht gut die Spannung von Ökonomie und Psyche beschreibt, welche erst im Individuum zusammentreffen. Da wäre beispielsweise die Sehnsucht nach Rache als zentrales Motiv, das den wirtschaftlichen Interessen keineswegs immer entspricht. Die sich durch fortlaufende Intrigen und immer wieder erfahrene Rauschmomente stetig steigernde Rach- und Verschwendungssucht lässt nur einen Schluss zu: »Geld, das war die Lösung jedes Rätsels.« (320) Hier also spaltet sich der angewandte Geist in die beiden Perspektiven Ruhm und Arbeit oder schnelles Geld, Genuss und Macht; also in die Massenproduktion von Literatur oder Journalismus.
Die mangelhafte Bezahlung der literarischen Produktion, wofür sinnbildlich jener Verleger steht, der mit sich selbst den Preis für Luciens Werk während eines einzigen Treppenaufstiegs von 1000 auf 400 Francs herunterhandelt, gesellt sich zu der durchaus berechtigten Erkenntnis: »Arbeiten! Ist das nicht der Tod für die Seelen, die nach Genuß hungern?« (385) So bleibt nur die journalistische Tätigkeit für eine der Zeitungen – jene »Bordelle des Denkens.« Der Vergleich zur Prostitution, den Karl Kraus später formulieren sollte, ist hier ebenso enthalten wie die treffenden Urteile Oscar Wildes. Selbstverständlich ist auch diese Tätigkeit prinzipiell Arbeit, die ausgebeutet wird. Im Gegensatz jedoch zur langatmigen Pedanterie der Dichtung oder Philosophie – dafür steht sinnbildlich der Zirkel um den beharrlichen Arbeiter der Literatur Daniel d’Arthez, der als deutlicher Antipode auftritt – schreibt ein kleiner Kreis von Parvenus eine ganze Ausgabe innerhalb einer Stunde, während ihre Geliebten ihre Toilette besorgen. Lucien stiftet sogar eine ganz neue Art der Feuilletonschreiberei; eine neue Form, die dem Dreigestirn von Journalismus, Reklame und Erpressung aber komplett verhaftet bleibt. Der Journalismus ist so korrupt wie die Politik. So wird der »Verfall der Kritik« gegen den vorher aus ein und derselben Feder formulierten »Verfall der Literatur« ausgespielt, denn »wir treiben mit unseren Sätzen Handel und leben von diesem Geschäft« (439) und neben dem Geld bleibt eventuell »das Vergnügen, an irgendeiner Stelle die Wahrheit gesagt zu haben.« (443) Wobei Letzteres keineswegs notwendiges Ziel der Schreiberei sein dürfe. Völlig zu Recht hat Wolfgang Pohrt bemerkt: »So würde heute kein verantwortungsbewusster Redakteur mehr scherzen mögen, aus dem einfach Grund, dass der Scherz die volle, reine, ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit wäre.«5 Mit einer erstaunlich exakten Phantasie zeigte Balzac die Lügenpresse – jenes Unwort des Jahres 2014 – in ihrer vollen Kreativität.
Es handelt sich bei der Figur des Lucien, allen autobiographischen Parallelen zum Trotz, keineswegs um ein Selbstporträt Balzacs, sondern um ein Porträt seines erklärten Erzfeindes und späteren Sargträgers Charles-Augustin Sainte-Beuve, welchem Marcel Proust sein erst posthum veröffentlichtes Werk Contre Sainte-Beuve »widmete« - eine Vorstudie zur Recherche. Vor allem diesem Literaturkritiker und Essayisten Sainte-Beuve schrieb Adorno zu, die »Neutralisierung geistiger Gebilde zu Gütern weiterbefördert«6 zu haben durch jenen »bequemen second hand-Realismus des menschlich Näherbringens.«7 Bezeichnenderweise galt Adorno seinerzeit als letzter Erguss dieser Tendenz, das Balzac-Werk Stefan Zweigs, welches wiederum Wolfgang Pohrt Anlass gab, darauf hinzuweisen, dass es genau solche Produktionen waren, welche Balzac der Lächerlichkeit preisgaben. Dabei ist die Beurteilung seiner Figuren eine streng immanente; sie misst stets nur die Schere zwischen dem Handeln und den eigenen Ansprüchen. Die Urteile, als Beurteilungen sind nichtsdestotrotz beißend scharf, aber es sind dezidiert keine moralischen Verurteilungen. Das deutliche Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität steht für die zunehmende Entfremdung der Menschen von ihrer gesellschaftlichen Funktion; also dafür, dass ihnen ihre Funktion als Charaktermasken erst noch eingeimpft werden muss.
Der kategorische Imperativ aller erfolgreichen Akteure des Werkes lautet, in den Mitmenschen immer nur Mittel zu sehen. Selbst die Geliebte dürfe man nur als »Wirtschafterin« (400) betrachten und keinesfalls als bloßen Zweck. Sehr eindringlich stärkt Balzac hier Kant, indem er die Gesellschaft gegen diesen sich wenden lässt. Solchem Menschenbild entgegengestellt ist vor allem die Mutterliebe, welche gleichzeitig als Vorbild der Freundschaft wie auch der zärtlichen Momente der Liebe figuriert.
Als einziger unverzeihlicher Verstoß gegen diese durch und durch hedonistisch-zynische, als Amoralismus gepflegte Moral gilt der Versuch, sich aus der Gleichheit des journalistischen Rackets erheben zu wollen. Dabei ist weniger der Wechsel Luciens von der liberalen zur königlichen Fraktion der Verstoß, so sehr er sich damit auch gegen den Lauf der Geschichte stellt. Die nur kurzzeitig und dezent existierende Trennung des Politischen vom Wirtschaftlichen – in der Restauration der Bourbonen, welche die Ära des Ancien Régime höchstens als Schein noch einmal aufflackern ließ, weshalb sie konsequenterweise kurze Zeit später in die Bürgermonarchie überging – erlaubt politischen Charaktermasken, sich etwas vom Mehrprodukt abzustauben.
Sein Vergehen besteht vielmehr in dem Versuch, die Illusionen zu retten. Als Anreiz, für das Adelsprädikat zu streiten, dient Lucien die Aussicht darauf, den Pariastatus der Bohème abzuwerfen und von der Halbwelt in die vornehme Gesellschaft überzuwechseln. Dies bedeutet gleichsam einen Wechsel vom Geld zur ursprünglich im Bodenbesitz gegründeten Ehre, weshalb er für die Journalisten zum Don Quijote wird, der sich schließlich sogar zum Duell stellt – wie vorher nur jene in der Übersetzung völlig zurecht als »Krautjunker« beschriebenen Adligen der Provinz, längst bar jeglichen Privilegs. In seinem Versuch, seinen Adelstitel durch Legitimität zu verewigen, verweigert er sich dem immanenten Prinzip der Bohème - der Flüchtigkeit des Genusses, des Gedankens und der Zeitung, jener Zirkulation des Zufalls, deren Akteure sich in ihrem Schaffen meist der Anonymität, des Kürzels oder Pseudonyms bedienen. Das Lumpenproletariat, dieser »Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen« (Marx), wittert hier den Klassenverrat und rächt sich mittels der Intrige, die auf das adlige Komplott trifft, welches sich ebenfalls gegen den Emporkömmling Lucien richtet, der schließlich zwischen den Rädern des Unbürgerlichen zermalmt wird. Wenn nun, wie oftmals gesagt wird, in jedem Roman fast der ganze Balzac steckt, gilt dies für die Verlorenen Illusionen in besonders ausgeprägter Art und Weise.