Erwin Riess (Bild: Archiv Erwin Riess)
Anstelle eines Nachrufs lassen wir den Schriftsteller und Aktivisten für die Rechte behinderter Menschen selbst sprechen – mit einem Beitrag, der 2005 in der Ausgabe 65 als einer der ersten Texte von Erwin Riess in der Versorgerin veröffentlicht wurde.
Ab da wurde Erwin Riess zum permanenten Autor. Artikelabsprachen am Telefon oder via E-Mail waren unkompliziert, seine Vorschläge durchdacht. Er bestand auf dem, was er sagen wollte, sperrte sich aber auch nicht gegen Änderungen. Themenwünschen gegenüber war er aufgeschlossen – wenn der Beitrag dann doch in eine andere Richtung wanderte, folgte man dieser gerne, da sie oft den Weg zum nächsten Text wies. Dass es nun keinen mehr geben wird, schmerzt.
Sehr oft wählte Erwin Riess die Form einer Groll-Geschichte. Die Figur Groll, die möglicherweise einem literarischen Alter Ego nahekommt, beschrieb ihr Erfinder in einem Text so:
»In scharfem Kontrast zur großbürgerlichen Herkunft des Dozenten rechnete Herr Groll sich selbst zum vorstädtischen Subproletariat, das weltanschaulich auf einem schmalen Grat zwischen einem kruden Materialismus, rhapsodischen Gemütslagen und einer ausgeprägten Neigung zu Hassattacken und Gewalttätigkeit balanciert.« (Eine Aussprache in Fischamend oder Vom Untergang der Linken, erschienen in: Volltext, Februar 2022)
Erwin Riess wollte sich mit der Ohnmacht der Linken nicht abfinden – gerade auch, weil er sie präzise benennen konnte. In seinem ganzen Leben als Autor schrieb er gegen Dummheit, Gewalt, Korruption, Ungerechtigkeit und Unterdrückung an, gegen den alltäglichen kapitalistischen Irrsinn und das Fortwesen nationalsozialistischer Gesinnung in demokratischem Gewand. Mit seiner Kritik kämpfte er zugleich für einen Zustand, in dem diese nicht mehr nötig ist.
Dafür danken wir ihm.
HERR GROLL UND DAS GEDENKJAHR
Erwin Riess
Der Dozent fand Groll an der Großtankstelle Ecke Gerasdorferstraße/Brünnerstraße in Wien-Floridsdorf. Groll stand neben einem Kübel mit Schnittblumen. Er aß einen Schokoriegel und nippte zwischendurch an einer Dose Bier.
»Da sind Sie ja!« rief der Dozent und sprang vom Rad. »Ich dachte, Sie seien in der Innenstadt, bei den Installationen zur Erinnerung an den 60. Jahrestag des größten Bombenangriffs, der gegen Wien geflogen wurde. Teile der Innenstadt sind damals abgebrannt.«
»Der Angriff galt aber der Raffinerie in Floridsdorf«, sagte Groll. »Bevor Sie auf dumme Ideen kommen: Ich lege Wert darauf, an diesem urbanen Ort mein Nachtmahl einzunehmen. Keinesfalls bin ich hier, um irgend jemandem oder irgend einem Ereignis zu gedenken. Wollen Sie einen Schluck? Ich habe noch eine Dose im Rollstuhlnetz.«
»Danke.« Der Dozent trank und wischte sich danach mit einem Aufseufzen den Mund mit dem Ärmel seiner Sportjacke ab.
»Sie sind ja ganz durcheinander!«
»Ist das ein Wunder?« Der Dozent lehnte sich gegen sein Rad. »Die halbe City besteht aus Gedenkensinstallationen, Lichtorgeln, Laserkanonen, beleuchteten Häuserfassaden. Gespenstisch!«
»Bei uns ist alles ruhig.« Groll öffnete eine weitere Dose.
»Noch.«
»Ich hoffe, daß es so bleibt. Floridsdorf ist groß. Bis der Unsinn aus dem Zentrum zu uns gelangt, ist er weidlich verdünnt. Meistens spürt man ihn kaum.«
»Sie haben leicht reden. Aber als Soziologe muß ich mich dieser Gedenkens- und Gedankensorgie stellen.«
»Wenn Sie meinen. Meinen Segen haben Sie.«
»Sie halten also nichts vom Gedankenjahr?«
»Die Wahrheit zu sagen, es ist mir egal. Wenn die Menschen ein Jahr brauchen, um zu denken – mir soll es recht sein. Die Botschaft ist ohnehin klar.«
»So? Da bin ich aber neugierig.«
Groll nahm einen Schluck und stellte die Dose zwischen die Knie auf die Spritzdecke des Rollstuhls. »Als Soziologe kennen Sie doch die Arbeiten über autoritäre Persönlichkeiten. Sie sprechen immer im »Wir«, sie verstecken sich hinter einem Kollektiv, einer Gruppe, einem materiellen oder immateriellen Dritten, ob es sich nun um eine Horde von Glatzköpfen oder um »den Staat« oder »die Nation« handelt; sie faseln immer von einem nahen Ende, vom Untergang des Abendlands, der Bildung, des Baums, des Fußballs - und sie können nicht existieren, ohne andauernd in die Geschichte zu greifen wie in einen Bottich voll Schmierseife, und das ist es auch, was sie der Geschichte entnehmen, die Schmiere für ihre verkorkste Gegenwart. Weil sie von der Gegenwart ablenken wollen oder einfach zu dumm sind, sich in ihr zurechtzufinden, erfinden sie Gedenkfeiern, Gedenkjahre, Gedenksymposien und sie sind darin so wenig phantasievoll wie in ihrem übrigen tristen Dasein. Was macht jemand, der an die Bombardierungen erinnern will? Er projiziert Häuserfassaden auf Häuserfassaden. Und daß den Opfern der NS-Herrschaft auch Gerechtigkeit widerfährt, werden diese ebenfalls für den nächtlichen Mummenschanz mißbraucht. Ihre Namen werden auf die Fassade der Hofburg projiziert, oberhalb jenes Balkons, von dem Hitler einst vor der Geschichte den Wiedereintritt seiner Heimat ins Deutsche Reich verkündete.«
»Sie meinen also --- ?«
»Gedenken ist eine private Angelegenheit. Man kann einem verstorbenen Freund, einer absolvierten Prüfung oder einer bestandenen Liebesnacht gedenken. Aber immer ist das Gedenken eine Äußerung des Individuums oder sagen wir besser, des einzelnen Menschen, denn zum Individuum schwingt sich nicht jeder auf.«
»Können Städte oder Staaten also nicht gedenken?«
»Doch. Aber dem Gedenken haften unweigerlich autoritäre Züge an.« »So wie es autoritäre Menschen gibt ---«
»Gibt es auch autoritäre Staaten. Oder Staaten mit autoritären Zügen«, vollendete Groll den Satz.
Der Dozent zog einen Zettel aus seiner Jacke. »Dann wäre das hier eine taugliche Form kollektiven Gedenkens. Ein Buch. Es wendet sich an mehrere, aber das jeweils in ihrer Vereinzelung; es informiert, aber es drängt sich niemandem auf. Ich habe mir die wichtigsten Daten aus diesem aufschlußreichen Werk herausgeschrieben.«
»Lesen Sie vor«, sagte Groll.
»Das ist eine kleine Auswahl von Nationalsozialisten, die durch die Förderung des Bundes Sozialistischer Akademiker und der SPÖ in Spitzenpositionen gehievt wurden: Zum Beispiel der Senatsvorsitzende des Landesgerichts für Zivilrechtssachen in Wien, Dr. Otto Riedl-Taschner; der Hofrat des Obersten Gerichtshofes, Dr. Konrad Zachar; Universitätsprofessor in Innsbruck und Mitschöpfer des neuen österreichischen Stafrechts, Dr. Friedrich Nowakowski; Senatspräsident des Oberlandesgerichtshofes Wien, Dr. Walter Lillich; Vizepräsident des Wiener Landesgerichts für Strafsachen, Dr. Ernst Hanak; Generalanwalt bei der Generalprokuratur, Dr. Oskar Wilmar; Senatspräsident am Obersten Gerichtshof, Dr. Wilhem Sabaditsch; Hofrat am Obersten Gerichtshof, Dr. Richard Spernoga; Hofrat bei der Oberstaatsanwaltschaft Wien, Dr. Johann Kerschbaum; Ministerialrat und Abteilungsleiter in der Personalsektion des Justizministeriums, Dr. Walter Hauke; Senatsvorsitzender des Handelsgerichts Wien, Dr. Walter Rabe; Hofrat am Obersten Gerichtshof, Dr. Wilhelm Gräf und andere. 70% der steirischen und 58% der oberösterreichischen BSA-Mitglieder waren NSDAP-Mitglieder und/oder Mitglieder von SS und SA, in Wien waren es rund ein Viertel. Bei Technikern und Journalisten verhielt es sich ähnlich. Bei den Ärzten waren die Fächer Psychiatrie, Psychologie, Neurologie fast vollständig braun, ich nenne hier die Namen Rett, Gross, Krenek, Sluga, Strotzka, Harrer, Birkmayer. Der linke Flügel des BSA protestierte gegen diese Praxis und wurde 1955 prompt ausgeschlossen.1 Die Ex-Nazis hatten freie Bahn. Sie müssen nun bedenken, daß der BSA sich - endlich - seiner Geschichte gestellt hat; vom Cartellverband, der ebenfalls nennenswert Nazis zu Karrieren verholfen hat, gibt es keine Daten. Ebenso wie von der Akademikerorganisation der Freiheitlichen Partei, bei der von nahezu hundertprozent Nazimitgliedern auszugehen ist, was vom FPÖ-Klubsekretät Scheuch indirekt zugegeben wurde, als er sagte, bei der Inellektuellenorganisation der FPÖ erübrige sich eine Untersuchung von vornherein.«
»Der Mann lügt nicht.«
Der Dozent fuhr fort. »Wir müssen demnach davon ausgehen, daß die traditionelle Intellektuellenschicht in Österreich in den Jahren 1945 bis zur Gegenwart maßgeblich nazistisch geprägt war und ist. Gegner der Naziseilschaften konnten nur in Nischen des Staatsapparates oder in ghettoisierten linken Milieus und in der Kommunistischen Partei überleben. Mit der antifaschistischen Herrlichkeit des Staates Österreich, die bei Gedenkfeiern so gern hervorgeholt wird, war und ist es also nicht weit her. Ohne zu übertreiben, muß man die Zweite Republik in ihren personellen Strukturen nicht als Antithese zum Nationalsozialismus, sondern als dessen direkte Nachfolgeveranstaltung begreifen.«
»Wenn in einem derartigen Umfeld ein Gedenkjahr, das auch noch als Gedankenjahr daherkommt, begangen wird ---«
»Ist offensichtlich, was der Zweck dieser Veranstaltungen ist: Verschleierung, Verdrängung, Umdeutung und Vergessen von historischen Zusammenhängen - etwas gemildert durch den Event- und Tourismuscharakter dieser Aktivitäten.«
Groll ließ die leere Bierdose in den Kübel mit Schnittblumen gleiten. »Dazu passt eine Meldung aus den heutigen Radionachrichten2. Der Chef der Österreichwerbung, Oberascher, will den Charme österreichischer Gastwirte als immaterielles Kulturerbe von der UNESCO schützen lassen.«
»Das ist nicht wahr!« rief der Dozent.
Es ist so wahr wie das Gedenk- und Bedenk-, das Gedank- und Bedank-, das Undenk- und Undankjahr. Laden Sie mich noch auf ein Bier ein?«
Der Dozent und Groll verbrachten noch einige angeregte Stunden an der Tankstelle. Sie tranken noch das eine oder andere Bier. Und sie sprachen über die wirklich wichtigen Dinge im Leben: die schwierige Lage der Binnenschifffahrt, die Aussichten für den neuen Wein und die Gefahren des hohen Erdölpreises für die Kondomherstellung.