In den letzten zwei Jahren wurde in den deutschen Feuilletons und auf Konferenzen darüber gestritten, ob der Mord an den europäischen Juden mit anderen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts vergleichbar sei. Dabei wurde immer wieder über die Frage nach der Singularität der Shoah gesprochen. Es wurde gefordert, den Holocaust stärker mit anderen Gewaltverbrechen des 19. und 20. Jahrhunderts ins Verhältnis zu setzen und das vermeintliche Verbot des Vergleichs abzustreifen. Vordergründig könnte man denken, dass es sich um eine geschichtswissenschaftliche Debatte handelte, die sich mit den epistemologischen Problemen der Zunft beschäftigte. Aber um Geschichtswissenschaft ging es nicht (allenfalls um Geschichtspolitik) – der Charakter des Verbrechens als solches und konkrete Möglichkeiten, wie der Holocaust mit anderen Verbrechen ins Verhältnis gesetzt werden sollte, waren nicht Gegenstand. Das Hinterfragen der Singularität und die Forderung nach Vergleichen zielten auf etwas anderes: nämlich auf die Stellung der Shoah in der deutschen Erinnerungskultur und die gesellschaftspolitischen Konsequenzen für die deutsche Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Antisemitismus und zu Israel, dem Staat der Überlebenden der Shoah. Das ergibt sich aus dem zum Vergleich hinzugezogenen Antagonisten, den Kolonialverbrechen. Vergleiche zwischen historischen Ereignissen geschehen nie intentionslos, und so ist zu fragen, warum der Holocaust mit den Kolonialverbrechen zu vergleichen sei. Das ist der Ausgangspunkt der Debatte, die ihren Anfang nahm mit der Diskussion um den kamerunischen Historiker Achille Mbembe, der wegen seiner BDS-Nähe1 von der Ruhrtriennale 2020 ausgeladen werden sollte. Mbembe hätte auf diesem bedeutenden Kunst- und Kulturfestival die Eröffnungsrede halten sollen. Nachdem einige Äußerungen Mbembes bekannt wurden, in denen er Israel das Existenzrecht absprach, Israel als kolonialen Apartheidstaat definierte und mit Südafrika verglich, und, konsequent, den Holocaust mit eben jenem südafrikanischen Apartheidsystem für vergleichbar erklärte, wuchs der Druck auf die Festivalleiterin Stefanie Carp, Mbembe wieder auszuladen. Dass Mbembes Äußerungen keine einmaligen Ausfälle waren, sondern sich konsequent aus seinem Werk ergeben, hat dankenswerterweise Alex Gruber in einem Artikel für die sans phrase nachgezeichnet.2 Was folgte, war eine wilde Debatte um Meinungsfreiheit, deutsche Erinnerungskultur und deutsche Politik zur Bekämpfung von Antisemitismus, die Rolle von Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, und nicht zuletzt um das Verhältnis von Kolonialverbrechen und dem Holocaust. Dieser letzte Punkt ist der entscheidende, hat er doch politisch weitreichende Konsequenzen: Wären Holocaust und Kolonialismus vergleichbar, und definierte man Israel als siedlerkolonialistischen Staat, so ergäbe sich daraus in der Synthese jener antisemitische Topos, wonach die Juden aus dem Holocaust nichts gelernt hätten, nun ihrerseits an den Palästinensern ein Menschheitsverbrechen begehen würden und Israel deshalb als Feind zu bekämpfen sei. Auf diese Weise wird im antizionistischen Antisemitismus die Nakba zu einem neuen Holocaust. Im Grunde genommen war an der als »Historikerstreit 2.0« gelabelten Diskussion also wenig neu. Die Singularität des Holocaust wurde infrage gestellt, wie schon im Historikerstreit 1.0 um Ernst Nolte, nur hatten sich die Rollen der miteinander diskutierenden Milieus verändert. Nun waren es sich als linksliberal bzw. progressiv wahrnehmende Kunstschaffende und public intellectuals, die forderten, die Vorzeichen der Erinnerung an den Holocaust dahingehend zu ändern, dass er mit anderen Verbrechen kommensurabel gemacht werden sollte (im Übrigen zeigt sich hier eine auffällige Nähe zur Extremismustheorie der 1970er- und 1980er-Jahre). Auf der anderen Seite waren es ein eher liberal-konservatives Milieu, HistorikerInnen der Shoah und der Rest der antideutschen Linken, die darauf beharrten, dass es sich bei der Shoah um ein Verbrechen handelt, dessen Charakter es aus dem Strom der Erinnerungen heraushebt. Dazu später noch ein wenig ausführlicher. Die Debatte um Mbembe war erst der Auftakt. Es sollte für alle Interessierten noch ein langes Jahr werden. In den USA fürchtete ein australischer Historiker für Kolonialismus, Dirk Moses, um die Meinungsfreiheit in Deutschland. Er nahm die Mbembe-Debatte zum Anlass, einen Text mit dem Titel »Der Katechismus der Deutschen« zu verfassen, in dem er den Deutschen vorwarf, die angebliche Singularität des Holocaust zu instrumentalisieren, um vermeintlich legitime Kritik an Israel als antisemitisch zu canceln. Es gäbe, so Moses, Hohepriester in der deutschen Kultur- und Wissenschaftsszene, die aufgrund eines Konsenses in der Erinnerungskultur, der zwischen deutschen, US-amerikanischen und israelischen Eliten gefunden worden sei, jeden Zweifel an der Singularität des Holocaust und die Verneinung einer daraus folgenden Solidarität mit dem jüdischen Staat sofort als antisemitisch brandmarken würden. Der Text wurde von einigen deutschen Historikern und Historikerinnen dankbar aufgenommen, die Moses mehrere Gelegenheiten verschafften, diese Thesen zu wiederholen und zu vertreten.
Für Moses ist es offenbar selbstverständlich, dass antisemitischen und antizionistischen Proklamationen wie denen Mbembes nicht widersprochen wird, sondern dass diese Konsens seien. Wenn in Deutschland solchen Positionen widersprochen wird, dann könne das nur das Resultat einer weitreichenden Verschwörung sein, in der namenlose Kräfte immense Macht über öffentlich ausgetragene Debatten ausüben. Dass Moses in Deutschland auf ein interessiertes Publikum traf, und er seinen »Katechismus« noch einmal kommentierend in einem renommierten Verlag veröffentlichen konnte, scheint ihn dabei nicht verwundert zu haben. Gemeint ist der Sammelband einer Konferenz zum Thema, »Historiker streiten. Gewalt und Holocaust«, herausgegeben von Susan Neimann und Michael Wildt. Vor dem Hintergrund einer angeblich vom Holocaust paralysierten deutschen Gesellschaft gefiel sich Moses in der Rolle des Renegaten, der nun gekommen sei, um unbequeme Wahrheiten über den Philosemitismus der Deutschen auszusprechen. So fabulierte Moses auf einer weiteren Konferenz von einem »Erlösungsphilosemi-tismus« der Deutschen. In der Diskussion um und mit Dirk Moses zeigte sich, dass es mitnichten um die Vergleichbarkeit von Massenverbrechen ging. In dem genannten Sammelband findet sich kein Aufsatz zum Verhältnis von Kolonialverbrechen und dem Holocaust.
Die documenta15 mit ihren antisemitischen Exponaten war wohl der eindrücklichste Beweis dafür, dass es in manchen Sphären zeitgenössischer Kunst keine Verbote bezüglich offensichtlicher antisemitischer Topoi und Bildsprachen gab und dass nicht wenige deutsche Kulturschaffende keine Berührungsängste mit antisemitischem Agitprop haben, sofern sie diesen als legitimen Ausdruck des kulturalistisch definierten »Globalen Südens« verstehen.
Die hier nur überblickshaft rekonstruierten Debatten hielten allgemein wenig Neues bereit. Eine Auseinandersetzung mit der Shoah fand nicht statt, allenfalls als Bezug auf eine abstrakte Chiffre. Dennoch stand erneut zur Diskussion, was die Shoah von anderen fürchterlichen Ereignissen in der Geschichte der Menschheit abhebt. Dabei wurde deutlich, dass die Rede von der Singularität nicht weiterführend ist, da zunächst jedes historische Ereignis singulär ist. Stellt man sich aber die Frage, inwieweit ein Ereignis überhaupt begreifbar ist, hieße dies bei der Shoah, sich auf den Versuch einzulassen, ein historisch präzedenzloses Ereignis, nämlich die Ermordung von sechs Millionen Menschen nur um ihrer Vernichtung willen, verstehen zu wollen. Lassen sich für die Verbrechen des Kolonialismus noch Reste instrumenteller Vernunft finden, also Tatmotive wie Bereicherung und Machtvergrößerung, ist dies beim Holocaust nicht möglich. Trotz aller materiellen Mängel, mit denen die Deutschen im Krieg konfrontiert waren, wurde der Mord an den Juden dennoch durchgeführt. Dringend benötigte Züge wurden freigehalten, um noch zwischen 1943 und 1944 Juden aus Griechenland nach Auschwitz zu deportieren. Dass es Tatsachen dieser Art sind, die sich dem Bewusstsein aufdrängen und dennoch kaum zu begreifen sind, da sie aus der Reihe von Gewaltverbrechen herausfallen, darüber konnte man in der Debatte öffentlich wenig vernehmen. Die Geschichte der Erinnerungskultur war allerdings schon immer geprägt von der Vermittlung des Präzedenzlosen durch andere Ereignisse, wie ein Sammelband zeigt, der 2022 beim Simon-Dubnow-Institut in Leipzig erschienen ist. Unter dem Titel »Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein. Europa nach dem Holocaust« haben Jan Gerber, Philipp Graf und Anna Pollmann zahlreiche Aufsätze veröffentlicht, die sich mit genau jener Frage beschäftigen, wie die Erinnerung an den Holocaust mit geschichtswissenschaftlichen Konjunkturen, gesellschaftlichen Debatten und tagespolitischen Ereignissen verknüpft ist. Dabei ist zu bemerken, dass der Sammelband nicht als Beitrag zu der oben skizzierten Debatte konzipiert und veröffentlicht wurde, sondern der Beginn seiner Entstehungszeit schon einige Jahre zurückliegt. Umso glücklicher der Zeitpunkt des Erscheinens, denn so konnten die geneigten LeserInnen nun anhand zahlreicher Beispiele nachvollziehen, wie die Erinnerung an die Shoah an andere Massenverbrechen geknüpft ist, was oft nur durch Reflexion darauf zur Sprache kam.
Was bleibt also? Es scheint so, als ob die Zeit, in der es möglich war, das Präzedenzlose des Holocaust zumindest zu erahnen, vorbei ist. Es werden neue Formen des Gedenkens gefordert, die multiperspektivisch sein sollen. Der seit den 1990er-Jahren durch die Geschichtswissenschaft und sozialphilosophische Eingriffe mühsam freigelegte Charakter der Shoah droht wieder verschüttet zu werden und unter einem amorphen Begriff der Gewaltgeschichte zu verschwinden. Die hier um den Historikerstreit skizzierten Debatten waren in dieser Hinsicht als Beitrag zu reflektieren.