Wer wird unsere Geschichte erzählen, wenn nicht wir?

2023 jährte sich der Aufstand im Warschauer Ghetto zum 80. Mal. Aus diesem Anlass porträtiert Sebastian Franke das Untergrundarchiv Oyneg Shabbes und dessen Initiator Emanuel Ringelblum, die in entscheidender Weise an der Dokumentation und Organisation des Widerstands mitwirkten.

Am 21. November 1900 wurde Emanuel Ringelblum in Buczacz geboren. Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Nowy Sącz. Anfang der 1920er zog er nach Warschau, immatrikulierte sich im Fach Geschichte, engagierte sich in der linkszionistischen Poale Zion und schloss das Studium 1927 mit seiner Dissertation Die Juden in Warschau von der frühesten Zeit bis zur letzten Austreibung 1527 ab. Des weiteren war er seit 1923 Teil der Gruppe Der Yunger Historiker Krayz, die sich später dem Yidisher Visnshaftlekher Institut (YIVO) anschloss. Das YIVO war interdisziplinär ausgerichtet und widmete seine Forschung der jiddischen Sprache und der jüdischen Kultur im östlichen Europa.

Bis 1939 existierte in Warschau Europas größte jüdische Gemeinde. Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzer setzte unmittelbar nach der Kapitulation Polens ein. Im Herbst 1940 wurden mehrere Straßenzüge im Zentrum Warschaus als jenes Getto abgeriegelt, in dem zeitweise fast eine halbe Million Menschen eingeschlossen waren. Am 22. November 1940, eine Woche nach der Ummauerung, wurde Oyneg Shabbes gegründet. Schnell entwickelte die Gruppe eine gut funktionierende Organisationsstruktur. Zentral dabei war die Arbeit des Exekutivkomitees, das von Ringelblum geleitet wurde. Da das Komitee jeden Samstag zusammenkam, wählte man den Decknamen Oyneg Shabbes (»Freude des Schabbat«). 

Bis zu sechzig Mitarbeitende waren beteiligt, zu ihnen gehörten Rabbiner, organisierte Arbeiter, Kommunisten und Zionisten. Ringelblum und seine Kollegen betrachteten es als ihre wichtigste Mission, eine dokumentarische Infrastruktur zu schaffen und Quellen zu verschiedenen Aspekten  des Lebens im Getto zu sammeln. Sie suchten Erzieher auf und baten sie, Abhandlungen über Erziehung im Getto zu schreiben, gleichzeitig trug man Aussagen von Kindern zusammen, um deren Perspektive festzuhalten. Unter den Materialien finden sich Texte, die von Frauen und Männern, Orthodoxen und Freidenkern, studierten und nicht-studierten Menschen geschrieben wurden und die Vielfalt jüdischen Lebens reflektieren.

Bei den Treffen des Komitees wurden Arbeitsschwerpunkte und anstehende Projekte diskutiert. Zu den Aufgaben von Yitzhak Giterman, Shmuel Winter und Menachem Mendel Kohn gehörte es, kleinere Stipendien zu vergeben und Schreibwaren zu beschaffen. Als wichtigste Assistenten Ringelblums wirkten Hersh Wasser und Eliyahu Gutkowski. Ferner gab es zahlreiche Mitarbeitende, die Interviews führten oder für das Kopieren von Dokumenten zuständig waren.

Oyneg Shabbes war von Anfang an ein Forschungsinstitut und die Dokumentation Grundlage des wissenschaftlichen Programms. Die differenzierte Sammeltätigkeit trug dabei erstaunlich viele Quellenarten zusammen. Gesammelt wurden neben jiddischen, polnischen oder hebräischen Texten (Berichten, Tagebüchern und verschrifteten Interviews), auch Objekte wie Zeichnungen, Fotos, Straßenbahn- und Theaterkarten, Klingelschilder und sogar Bonbonverpackungen, die im Getto hergestellt wurden. Wie daran zu sehen ist, lag ein wichtiger Schwerpunkt auf Quellenmaterial zu individuellen Schicksalen und Lebenserfahrungen. Eine Quellengruppe, der man größte Bedeutung beimaß, waren zudem Briefe.
Der zentrale Gedanke war, jüdische Geschichtsschreibung nicht den Tätern zu überlassen und auch unter den Bedingungen nationalsozialistischer Verfolgung fortzusetzen. Kommende Generationen sollten auf jüdische Quellen zu dem, was geschehen ist, zurückgreifen können und mit Hilfe dieser Archivalien sollte es ermöglicht werden, das Leben im Getto möglichst detailreich rekonstruieren zu können. Auch ist es der Sammeltätigkeit des Archivs zu verdanken, dass ein großer Teil der dort entstandenen Untergrundpresse überliefert ist. Ganz grundsätzlich stellte die Gruppe die Frage: Wer wird unsere Geschichte erzählen, wenn nicht wir? 

Das Exekutivkomitee startete 1941 ein groß angelegtes Forschungsprojekt zu den Bedingungen jüdischen Lebens im besetzten Polen. Initiiert wurde die unvollendet gebliebene Studie von Lipe Bloch, Menachem Linder und Ringelblum selbst. Begonnen wurde mit der Studie, als noch niemand der Beteiligten von den Vernichtungsplänen der deutschen Besatzer wusste. Am 22. Juli 1942 begann die von den Deutschen so genannte »Große Aussiedlung«: Bis September 1942 erfolgte die Deportation von ca. 254.000 Menschen aus dem Getto in das Vernichtungslager Treblinka. Gleich in der selben Juliwoche hielt Oyneg Shabbes eine Krisensitzung ab, auf der man beschloss, alles, was bisher gesammelt worden war, zu verstecken. In einer nächtlichen Aktion vergrub Yisroel Lichtenstein mit zwei Helfern die in Metallkisten verpackten Archivalien im Keller der Nowolipki-Straße 68. Dieser Teilbestand wurde bereits 1946 geborgen.

Trotz des Verlustes von Mitarbeitenden, die deportiert wurden, trotz der Gefahren und der emotionalen Belastung, mit denen man sich konfrontiert sah, setzte das Archiv seine Arbeit fort. Im Angesicht der Vernichtung übergaben viele Personen dem Archiv Tagebücher und Familienfotos. Auch Gela Seksztajn, Malerin und Lehrerin im geheimen Schulunterricht, übergab ihre Zeichnungen.
Im September 1942 wandte sich Ringelblum an die Schriftstellerin Gustawa Jarecka mit dem Auftrag, einen Bericht über die Deportationen zu verfassen. Überliefert ist nur ihre Einleitung: »Der Bericht muss wie ein Keil unter das Rad der Geschichte geklemmt werden, um es zum Stehen zu bringen. […] Aus einem Leiden, das in der Geschichte beispiellos ist, aus blutigen Tränen und blutigem Schweiß wird eine Chronik der Tage in der Hölle zusammengestellt, die mithelfen wird, die geschichtlichen Gründe dafür zu finden, wie Menschen dazu gekommen sind, so zu denken, wie sie es taten […].«

Die Arbeit am Archiv betrachteten all jene, die daran beteiligt waren, als eine Form des Widerstands, der seinen Teil dazu beitragen sollte, eines Tages die Täter für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen und die Erinnerung an die Opfer lebendig zu halten. Ende Januar 1943 schrieb Ringelblum: »Oyneg Shabbes […] ist eine Kooperation, ein brüderlicher Bund, in dem jeder jedem hilft und ein und dasselbe Ziel anstrebt. […] Jeder Mitarbeiter von Oyneg Shabbes wusste, dass seine Mühen und Qualen, seine harte Arbeit und sein Leid und schließlich der Einsatz seines Lebens beim Befördern der Materialien von Ort zu Ort und zwar an jedem Tag 24 Stunden lang einer großen Idee dienen, und dass die Gesellschaft dies am Tag der Freiheit zu würdigen wissen und mit den höchsten Auszeichnungen belohnen würde, die einem freien Europa zu Gebot stehen.«

Durch die Unterstützung der polnischen Untergrundbewegung gelang es, vier Berichte nach London zu schmuggeln. Diese Texte enthielten Informationen von ehemaligen Insassen der Vernichtungslager Chełmno und Treblinka, denen zu fliehen gelungen war. Diese Mitteilungen trugen in bedeutender Weise dazu bei, die deutschen Verbrechen in der westlichen Welt bekannt zu machen.

Zu einem weiteren zentralen Feld entwickelte sich die Dokumentation von offiziellen Verlautbarungen oder Anordnungen der deutschen Besatzer. Zudem gab die Gruppe um Ringelblum bis ins Jahr 1943 die Zeitung Wiadomości heraus, die – wie etliche Untergrunddrucke – archiviert wurde. Die Zeitung informierte über die Vernichtungspläne der deutschen Besatzer und rief dazu auf, Widerstand zu leisten, sich zu verstecken und den Täuschungsmanövern der Nazis nicht zu glauben. Die zweite große Einheit von Archivalien wurde im Februar 1943 in Milchkannen unter der Nowolipki-Straße vergraben. Zufällig fand man diesen Teil des Archivs bei Bauarbeiten im Jahr 1950. Hersh Wasser gab an, dass man im April 1943 ein drittes Versteck anlegte, das Materialien zur Vorbereitung des bewaffneten Widerstands enthielt. Ihm zufolge habe sich das Versteck in der Swietojerska-Straße 34 befunden. Nach 1945 wurden mehrere Versuche unternommen, diese dritte Sammlung zu bergen, die alle erfolglos blieben.

Infolge des Aufstands im Warschauer Getto und der vollständigen Liquidierung des Gettos endete die Arbeit von Oyneg Shabbes. Im Untergrund wurden dennoch weiterhin Dokumente gesammelt: Das 1942 als politischer Arm der Jüdischen Kampforganisation gegründete Jüdische Nationalkomitee verfasste weiterhin Berichte, die es ins Ausland schmuggelte. Im Zuge des Aufstands hatte man Ringelblum aufgegriffen und ihn in das Arbeitslager Trawniki deportiert. Im August 1943 gelang ihm von dort die Flucht in den Süden Warschaus, wo er sich mit seiner Familie versteckte. Selbst hier riss Ringelblums Schreibtätigkeit nicht ab, bis er am 7. März 1944 entdeckt wurde. Wenige Tage später wurde er, wie auch seine Frau Judyta und sein Sohn Uriel, im Pawiak-Gefängnis von den deutschen Besatzern erschossen.
Von den Mitarbeitenden des Archivs überlebten nur drei das Ende des nationalsozialistischen Terrors. Die Überlebenden waren das Ehepaar Hersh und Blume Wasser und die Schriftstellerin Rachel Auerbach. Sie gehörten nach 1945 zu den Initiatoren der ersten jüdischen Historischen Kommission in Polen. Hierbei sollte sich die Arbeitsweise von Oyneg Shabbes als richtungsweisend erweisen, dies zeigte sich z.B. in der Anerkennung von Zeitzeugen als relevante Quelle, oder in der Berücksichtigung aller Aspekte jüdischer Alltagsgeschichte unter deutscher Besatzung. Die Mehrheit der Pioniere der Shoa-Forschung wanderten jedoch bald aus. Auch Auerbach emigrierte nach Israel. Zu den unschätzbaren Leistungen ihres Lebens gehörte es, als Mitarbeiterin der Gedenkstätte Yad Vashem das Erbe und die Erinnerung an das Geheimarchiv lebendig gehalten zu haben.

Heute befinden sich die ausgegrabenen Archivalien im Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Sie umfassen ca. 35.000 Seiten und gehören damit zu den bedeutendsten Sammlungen zur polnisch-jüdischen Geschichte unter deutscher Besatzung. Zudem wurde auf Beschluss des UNESCO-Komitees das Archiv 1999 in Anerkennung des ungewöhnlichen Wertes der geretteten Dokumente auf die Liste »Memory of the World« gesetzt.

 

Quellenverzeichnis: 

Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Reinbek bei Hamburg 2010. 

Samuel D. Kassow: Oyneg Shabbes. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. 4. Hrsg. v. Dan Diner. Stuttgart/Weimar 2013, S. 464-468. 

Samuel D. Kassow: Warschau. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. 6. Hrsg. v. Dan Diner. Stuttgart/Weimar 2015, S. 329- 334. 

UNESCO MEMORY OF THE WORLD – Warsaw Ghetto Archives (Emanuel Ringelblum Archives) https://en.unesco.org/memoryoftheworld/registry/619

Yad Vashem Archives: https://www.yadvashem.org/yv/en/exhibitions/museum_photos/oneg_shabbat_1.asp

Zydowski Instytut Historyczny: Oneg Schabbat. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Konzept. v. Eleonora Bergman. Warschau 2003, 3. erweiterte Auflage.

Rachel Auerbach und Hersh Wasser 1946 während der Bergung von Archivdokumenten in Warschau. (Bild: Yad Vashem Archive)