»Man muss jedes Mal so schreiben, als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe. So viel sagen, als ob’s ein Abschied wäre, und so gut, als bestände man ein Debüt.«
Das dachte sich nicht nur Karl Kraus, sondern offenbar auch die junge Schriftstellerin Elena Messner, als sie sich eine Ausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums über den I. Weltkrieg zum Anlass nahm, ihren Roman-Erstling zu verfassen. Wie es die Fama will, hatte die Literaturwissenschaftlerin zunächst eine beherzte Kritik militärhistorischer Ungeheuerlichkeiten im Sinn, die in nur einem halben Jahr jedoch die Form eines Romans annahm. Als Gründungsmythos einer Literatinnenkarriere klingt das gut, und nicht selten erweisen sich solche Mythen als wahr. »Das lange Echo« ist so glänzend geschrieben, dass man an der Kürze der Herstellungszeit zweifeln mag, andererseits von solch wuchtigem Engagement getragen, dass es durchaus aus einem Guss sein könnte. Womit sich die Autorin aber der Heiligen Inquisition einer Literaturkritik ausliefert, die in längst nicht mehr reflektiertem Automatismus die Sichtbarkeit auktorialer Absicht unter Bann stellt. Dankenswerterweise hat Elena Messner derlei marktgesteuerte Benimmregeln ignoriert, und dieser fruchtbaren Ignoranz verdankt die etwas sterile Gegenwartsliteratur, wo sich die Autoren-Egos so lautstark verstecken, dass es schon prätentiös wirkt, eine neue Art von Littérature engagée, die ihrerseits an große Vorbilder anknüpft.
Über zwei Zeitebenen spannt sich das Buch. Da ist zunächst die Geschichte des k. u. k. Offiziers Milan Nemec im besetzten Belgrad, in das er 1916 nach seinem Frontdienst für Verwaltungsaufgaben abkommandiert wurde. Die Stupidität seiner Tätigkeit oder besser Untätigkeit, der er mittels Flanierens durch die trostlosen Gassen entkommen will, drängt ihm erstmals Reflexionen zur Stupidität des Krieges und seinen Widersprüchen auf. Ein verstörendes Erlebnis, denn von seinem Naturell her ist Milan Nemec weder Denker noch Pazifist noch Rebell, im Gegensatz zur jungen Militärhistorikerin Vida, die über seinen »exemplarischen Fall« 100 Jahre später diplomiert hat und im Rahmen eines unvermeidlichen Kongresses zum Jahr 1914 zunehmend in Konflikt gerät mit ihrer Vorgesetzten Doris, der Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums – auf der zweiten Ebene und Resonanzfläche jenes langen Echos aus dem Krieg.
Milan Nemec entspricht nicht der sattsam bekannten Leutnants-Staffage der österreichischen Literatur, auch der kritischen, er gehört nicht zum »Geschmeiß von reitenden Gustls und Schorschis, salontüchtigen Muckis und Tutzis und feschblöden Grafen ...« (K.-M. Gauß), denen Schnitzler die Uniformknöpfe runterriss, Kraus und Krleža aber den Prozess machten. Nemec ist von robusterer Bauart, ein pragmatisch kluger, aber konformistischer Funktionsträger, der sein Entkommen aus den bedrückenden Verhältnissen des slowenischen Bauerntums der Armee des Kaisers verdankt.
In Elena Messners Roman scheinen die Diskurse zum Krieg sich der handelnden Personen zu bedienen und nicht umgekehrt. Ihr geht es nicht um Anti-Kriegs-Literatur, deren kraftvollste Texte von anderen lange vor ihr aus der Verzweiflung unmittelbaren Erlebens heraus geschrieben wurden. Und das Fundament ihrer Kritik sind eben jene Werke, die sich nicht auf moralische Anklage beschränkten, sondern die banalen Interessen des Bösen mitreflektierten, nämlich »Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit hernach wieder Absatzgebiete daraus würden« (K. Kraus) und Menschen zu »Futter für fremde Kanonenschlünde« (M. Krleža) zu verwandeln. 100 Jahre später geht es um die Diskurse des Krieges, deren Interessen zu enthüllen sind – Revisionismus, unablässig schwelende Habsburg-Nostalgie (sichtbar an ihre Hauptfigur überhöhenden Franz-Ferdinand-Biographien), die Pseudoobjektivität einer auf Strategie und Kalkül reduzierten Kriegshistorie, hinter der Schuld und Gräuel verschwinden und auf die präventiven Angriffe der Vergangenheit und Zukunft eingeschworen werden soll.
2014 – Elena Messner hat es geahnt – werden die Errungenschaften der kritischen Geschichtsaufarbeitung strafversetzt. Der eingestanden prussophile und serbophobe Australier Christopher Clark teilt die Kriegsschuld nicht nur paritätisch auf, sondern entlastet das Deutsche Reich wie auf Bestellung, Herfried Münkler assistiert ihm mit ausgetüftelten Thesen der Zufalls-Historiographie, einem Zweig der Chaosforschung, so als hätte Karl Kraus die Dinge zur Zeit ihres Geschehens nicht beim Namen genannt, so als wären Emil Ludwigs Analysen der Kriegsschuld aus den 30er Jahren nie erschienen, so als hätte Fritz Fischer nicht bereits vor 40 Jahren die Proportionen klargestellt. Vergangenheit, schrieb Immanuel Wallerstein, sei eben keine »in Stein gemeißelte Schrift«, sondern eine »in Lehm gezeichnete Inschrift«.
An sich löbliches Bemühen um größere Differenzierung gerät zur Relativierung, der Schein der Ent-Ideologisierung verdeckt neue Ideologien, mit denen sich neue Feldzüge wissenschaftliche Absolution auch für die hundert Jahre zuvor erteilen lassen, und in diesem letzten Schrei der Historiographie ersterben nicht nur die letzten Schreie der Opfer jener Angriffskriege, sondern lassen sich bereits die bedrohlichen Frequenzen heraushören, die 2039 bei der Neubewertung des Zweiten Weltkriegs geschichtliche Evidenz übertönen werden.
Während jeder neu entdeckte Tagebucheintrag eines Wiener Hofrats oder eines preußischen Stabsoffiziers, dass der Krieg halt unbequem werden könnte, zur Widerlegung deutsch-österreichischer Angriffsbe-reitschaft taugt, bleibt das Attentat von Sarajevo wie ehedem Ausdruck balkanbarbarischer Sippenhaft: Gavrilo Princip als das Werkzeug der Geheimorganisation Schwarze Hand als das Werkzeug des Königreichs Serbien, dem als homogener Stamm, permanent rassistische Projektion eines Zivilisationsgefälles, jegliche historische Differenzierung verwehrt bleibt. Gebe es die verdienstvollen Recherchen des Historikers Anton Holzer nicht und die von Gordana Ilić Marković herausgegebene Anthologie »Veliki rat – Der Große Krieg«, die den Überfall aus serbischer Perspektive behandelt, könnte die heimische Erinnerungspolitik die Massaker an tausenden Zivilisten, welche die k. u. k. Armee in den ersten Kriegswochen in Nordwestserbien beging, verschweigen, ebenso wie den Umstand, dass die serbische Regierung nach der Rückeroberung der Gebiete den Schweizer Fotografen und Pionier der Ballistik Rodolphe Archibald Reiss zur Dokumentation der österreichischen Kriegsverbrechen einlud.
Sprachlicher Hexenritt im Dienste der Sache
Als Spross einer Kärntner slowenischen Familie sowie Spezialistin für südosteuropäische Kultur besitzt Elena Messner einige Sensibilität für den latenten antislawischen Rassismus und die Verleugnung politischer und ökonomischer Interessen, wie sie damals auf dem Balkan als Pax Habsburgica, heute als europäisches Demokratisierungsprojekt verkauft wurde. Nicht umsonst ist der Gatte von Doris, der Museumsdirektorin im »Langen Echo«, selbst Direktor der Belgrader Niederlassung einer österreichischen Bank, die nicht wenig Geld springen lässt für Forschungsprojekte zur Militärgeschichte. Ein Nexus, der auf den ersten Blick plakativ, ja, satirisch wirken mag, und dennoch beim Wettlauf der Satire mit der Realität mühelos von dieser abgehängt würde.
Elena Messner macht gar kein Hehl daraus, dass ihr die Romanform Mittel zur Diskurskritik ist, und über weite Strecken liest sich »Das lange Echo« wirklich wie ein Traktat, eigentlich ein No-go der approbierten Prosa. Wer also gleich gar nicht heuchelt, nicht mehr als der Leser zu wissen, muss Wissen, Argumente und Absicht in besonders plastische Figuren gießen oder durch ein Mehr an formaler Qualität aufwiegen. Und hierin liegt das Unnachahmliche dieses Buchs, es taugt nicht bloß als Essay mit künstlerischen Mitteln, sondern als Kunstwerk über den Zweck hinaus; das rechtfertigt und bestärkt die Parteilichkeit der Anklage. Die Sprache selbst verlässt bald die Intentionen der Autorin und usurpiert die Macht im Roman, das ständige Wetteifern von Analyse und Leidenschaft spornt Erzähl- und Reflexionsfluss zu juckender Intensität und fiebrig schnellem Puls an – kein Wunder, das sich die Autorin bei ihren Lesungen gerne von Drummer_innen begleiten lässt. Kurzum: Messners Sprache bleibt mit jedem Wort ihrer Sache verpflichtet, was die Sprache nicht bremst, die Sache aber zu einem Hexenritt mitreißt.
So wie Messner nicht bei feminin codiertem Pazifismus stehenbleibt, sondern sich mitten ins Feld begibt, in die Welt der Aufmarschpläne, Versorgungslogistik, Gefallenenstatistiken, bloß um dieser Sachlichkeit des Grauens im taktisch besten Moment das eigene Bajonett an die Gurgel zu drücken, geht auch ihre Syntax dem jeweiligen Sujet mit mimetischer Präzision ans Leder. Immer wenn sie ihre Anklage nicht mehr zu bändigen weiß, hört man die kluge expressionistische Wutprosa Miroslav Krležas heraus, mit der er 1922 in seinem »Kroatischen Gott Mars« Habsburg ins Grab gespuckt hat. Ansonsten, insbesondere bei Milan Nemec‘ zögerlicher Selbst- und Kriegsentfremdung bewährt sich pannonische Schwermut ohne behübschende Melancholie, jener kühle, mitleidlose Erzählduktus, dessen großer Meister Aleksandar Tišma war. Das wäre ganz schön trostlos, würde sich nicht wie ein ätzender Firnis Messners angriffslustige Ironie über den Text legen, was, um bei literarischen Referenzen zu bleiben, an jene glücklichen Mixtur aus Sprachspiel, Sarkasmus und Analyse erinnert, mit der die frühe Elfriede Jelinek dem Erwartungsprofil weiblicher Empfindsamkeitsprosa die lange Nase zeigte. Auch Elena Messner verweigert sich diesem Profil, und wie eine Vorwegnahme der Reaktion auf ihren Roman liest sich jene auf Vidas Vortrag beim Kongress: »Gibt es Fragen? Die verschwommen wirkenden Gesichter, die ihr entgegenstarrten, diese Masse von geweiteten Poren, gelblichen Hautflecken und geplatzten Äderchen leuchteten hell; weniger als Fragen denn als wilde Rufzeichen hingen sie in der Luft. Die Fragen, die kamen später, in den Kaffeepausen: nüchterne, kalte, manchmal verächtliche, manchmal begeisterte, jedenfalls kamen sie nicht öffentlich, auf den Vortrag folgend, wo es in die Luft stank, das Unausgesprochene.«
Die Autorin zieht es vor, den Kriegstreibern und ihren diskursiven Nachlassverwaltern das Handwerk zu legen, anstatt deren Opfer zu streicheln, damit es nie wieder Opfer zu streicheln gäbe. Was humaner ist, dürfte sich nach etwas Nachdenken auch jedem Philanthropen erschließen. Dennoch kann die Autorin die Lust an der satirischen Zersetzung nicht verbergen, doch lässt sie menschenfreundlich ihre Leser daran teilhaben, wenn sie zum Beispiel mit dem Porträt von Doris, der Direktorin, das Bild einer ganzen Schicht und ihrer Zeit zeichnet: »Da lernt man dann die richtige Ansicht und seine Einsicht gleich im Doppelpack, im Sinne der guten Aussicht. Später, als Abteilungsleiterin, da weiß man schon, wie und was zu denken und zu publizieren ist, und dann, wenn man die Unternehmensstruktur komplett durchschaut, die Denkstruktur dahinter zu beherrschen gelernt hat, dann wird man Direktorin, aber eben nur dann. (...) Daneben wird man geheiratet, wird zur Mutter einer erwachsenen Tochter – mehr geht sich bei so einer Karriere nicht aus, will man auch nicht. Es ist ein einsamer Trotz, manchmal fehlt einem ein vorzeigbarer Sohn, wenn die Großmutter laut seufzt.«
Frauen als Verwalterinnen der Kriegsdiskurse
Stiller Hohn spricht auch aus dem Umstand, dass im »Langen Echo« eine Frau dem Heeresgeschichtlichen Museum vorsteht; damit erwischt Messners Gesellschaftskritik zwei Fliegen auf einen Schlag: Einerseits wird die reale Unmöglichkeit einer Direktorin mit einer utopischen Pointe moniert, andererseits dem Mythos von der natürlichen Friedfertigkeit der Frauen eins ausgewischt, indem diese die kriegshistorischen Diskurse verwalten und über die Ideologie des Krieges mit der Heftigkeit eines mittelalterlichen Zweikampfs streiten. Sehr plausibel ist die Direktorin namens Doris gezeichnet, eine resolute Konservative, welche die männliche Domäne wie einen Feldherrenhügel eingenommen hat und dort oben als Verwalterin überkommener Lehre, militärischer Sachzwänge und folkloristischer Uniformkunde selbst zur verwalteten Funktionsträgerin wurde. Ihre junge Widersacherin Vida indes ist keine Friedenstaube, sondern wehrhafte Kritikerin. Das humanistische Fundament ihrer Kritik ist so selbstverständlich, dass es sich nicht als sittliche Anklage erproben muss.
Beim Heurigenbesuch nach dem Kongress kommt es zum kathartischen Showdown, in dem Vida nicht vor dem befreienden Monolog zurückscheut, den die meisten Autoren mieden, hängt über ihren Schreibtischen doch eingerahmt der Imperativ, dass Wahrheit in der Belletristik nicht positiv expliziert werden dürfe, sondern im Handlungsfluss aufgehen müsse. Doch jede noch so richtige Regel hört auf, richtig zu sein, wenn sie zu lange eingerahmt war, und so pfeift Elena Messner darauf im besten Wissen, dass Unmittelbarkeit und formale Qualität jede Regel außer Kraft zu setzen fähig sind, Miroslav Krleža hat es ihr vorgemacht, und so nennt sie die Dinge beim Namen und tut es so gut, dass der leidige Disput über die engagierte Literatur en passant gleich miterledigt wird.
Die bellizistische Konkurrenz der beiden Österreicherinnen bedarf sowohl eines Publikums als auch eines begehrten Objekts. Als dieses fungiert das ganze Buch hindurch ein junger Wissenschaftler aus einem nicht ausgewiesenen postjugoslawischen Staat, der »junge Kollege«, wie er genannt wird, der aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse zum Zuhören verdammt ist und dennoch ein schweigendes Memento diskursiver Anmaßung darstellt. Mehr als ein Geschlechterrollentausch findet hier statt, der »junge Kollege« steht zugleich – da es schließlich um Kontinuitäten geht – für das zu Passivität verdammte Herkunftsland, das über seinen Kopf hinweg verdammt oder verteidigt wird, selbst aber nie zu Wort kommt. Daneben ist er Objekt erotischer Hoffnungen, auch der Direktorin; dezent wird ihr One-Night-Stand mit ihm angedeutet (und man kommt einfach nicht umhin, sie sich bei der Anmache als beschwipste Maria Fekter vorzustellen), währenddessen Vida sich dem »Kollegen« sanft und zaghaft während ihres ersten Belgradaufenthaltes genähert hat, und mit ihm einer neuen, fremden Welt; ebenso sanft klingt die Selbstkritik ihres maternalistischen Exotismus durch: Die antiösterreichische Haltung, die zu einer projektiven Aufwertung des verfemten Gegners führt und zielsicher in die Kulturalismusfalle tappt, in welcher verschiedene Epochen und Menschen kraft ihres Neuigkeitswertes zu einer faszinierenden Essenz verkocht und mit Kulturplaketten beklebt werden. Das vermeintlich Fremde in Opposition zum Eigenen aufzuwerten aber ist vermutlich notwendiger Schritt in jeder persönlichen Tragikomödie, die sich geistige Entwicklung nennt und deren Dialektik im Idealfall zur Auflösung des Eigenen und folglich auch des imaginierten Fremden führt.
Wer sich für die überhörten Stimmen des deutsch-österreichischen Angriffskrieges auf Serbien interessiert, dem sei hier nochmals das von Gordana Ilić Marković edierte Lesebuch »Veliki rat/Der große Krieg« empfohlen. Zeitungsmeldungen. Zeitzeugenberichte, der Originaltext des Ultimatums der k. u. k Regierung ans Königreich Serbien sowie dessen Antwort, weiters Texte von Karl Kraus, Egon Erwin Kisch und John Reed finden sich hier in einer erfreulich unparteiischen und polyphonen Anthologie, die die Dokumente für sich selber sprechen lässt und dank der Zeugnisse von Zivilisten, Soldaten oder aber bekannter, am Krieg beteiligter Dichter wie Miloš Crnjanski, Branislav Nušić, Bora Stanković, Vladislav Petković Dis und Stanislav Vinaver sowohl Heroismus als auch Opferkult entsagt. Wer noch immer dem (auch von Christopher Clark geschürten) Bild von terroristischen Balkanbarbaren anhängt, den mag dieses Buch peinlich berühren, sofern die eigene Schamfähigkeit nicht verkümmert ist. Zumindest zeigt es Serbien 1914 als Land, in dem die nationale Barbarei nicht als archaische Residue, sondern als Nachzügler eines zivilisatorischen Prozesses auftritt, deren Ideengeber in den Ministerien und Universitäten Westeuropas sitzen, das aber auch mit den zivilen Errungenschaften dieses Westens maßhalten will.
Milan Nemec wird nach dem Krieg, da er nichts anderes gelernt hat, Offizier bleiben, allerdings nicht in Österreich, sondern in der Armee des neugeschaffenen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Keine heroische Entscheidung ist das – Elena Messner konzipiert ihn schließlich nicht als Ballspieler seines Schicksals, sondern als dessen Spielball –, eher ein indifferentes Hinübergleiten. Und trotzdem stößt in ihm zunehmend eine Subjektivität in Form von Zweifel auf, beim Trinkgelage mit einem Offizier aus Wien etwa, das zu Handgreiflichkeiten und folglich einem Disziplinarverfahren führt, und durch seine Bekanntschaft mit einer düster gezeichneten Soldatenwitwe, die er nach dem Krieg ehelichen würde: zwei verlorene Seelen, er hat seine Heimat, sie ihren Mann verloren, bar von Romantik und Pathos beschließen sie, füreinander zu sorgen. Ihrer ersten Begegnung in ihrem kleinen Häuschen haftet etwas Mysteriöses an, das nie aufgeklärt wird. Die Autorin kokettiert hier etwas mit vampiristischen Motiven, die auch in jenem Kapitel anklingen, wo die Angst der kroatischen (und serbischen) Soldaten in der kaiserlichen Armee beschrieben wird, dass die Gefallenen als Untote wiederkehren würden, so man sie nicht angemessen bestattete – eine Angst, die nur Spott und Prügel durch die Offiziere auf sich zieht.
Letztlich sind es die wirklichen Untoten, die Milan Nemec quälen, ein Dilemma, das einen grobgeschnitzten Kerl wie ihn nicht als ethischen Zwiespalt, sondern moralisches Jucken der Seele plagt, gegen das alles Kratzen nichts helfen will. Auf seinem Totenbett in Ljubljana, seine Tochter schreibt die Beichte in der ihr schwer verständlichen deutschen Sprache nieder, entlastet er seine Seele bei einem Priester, denn er ist gläubig geworden auf die alten Tage, die übliche Religiosität der Ängstlichen; und so entfährt ihm das Geständnis nicht wie ein erleichterter Seufzer, sondern wie das amtliche Ritual, das erledigt sein will, bevor der Vorhang zugezogen wird. Ein großartiges Fanal des Romans ist das, weil so unprätentiös. Mit Flaubertscher Kälte, die sich des größten moralischen Effekts sicher sein darf, listet Milan Nemec die Gräuel seiner Einheit auf, gleich den Jagdtrophäen-Listen des letztlich selbst erlegten Erzherzogs. Bei aller Apathie hat sich Nemec doch die Namen gemerkt, deshalb muss seine Tochter mitschreiben, denn nur Namenlose bleiben untot, das Erinnern ihrer Identität aber erstattet ihnen vielleicht den gestohlenen Frieden zurück, in dem sie ruhen sollen: »... die Anica, 32, Augen, Nase und Ohren herausgeschnitten, die Jelka, 13, Nase und Ohren herausgeschnitten, die Mirosava, 21, von mehreren Soldaten vergewaltigt, Genitalien herausgeschnitten, Haare in das Loch hineingestopft; die Familie Petrovi´c , gefunden aneinandergefesselt mit ihrem Hund in einem Feld, der Lazar, 46, eine Hand abgeschnitten und Augen herausgeschnitten; die Milica, 45, Brüste abgeschnitten, und die Stanka, 14, und die Ana, 7, (...) sie flüstern, mach mein Herz still, ich bitte darum; wispert ihr nur, wispert, ich höre, höre alles, hört ihr mich?«
Elena Messner: Das lange Echo. Edition Atelier 2014