Nach Langenzersdorf beschleunigte ich auf siebzig Stundenkilometer, eine gute Marschgeschwindigkeit für Leute, die keine Märsche mögen, sagte ich.
»Warum nehmen wir nicht die Autobahn, in vierzig Minuten wären wir in Krems«, fragte der Dozent ungehalten.
»Wie lange kennen Sie mich«, fragte ich zurück. »Sie wissen, ich fahre nie Autobahn. Kein denkender Mensch fährt Autobahn. In Österreich schon gar nicht. Wer Autobahnen meidet, lebt länger und besser. Sie entkommen endlosen Verkehrsstaus, einer permanenten Radarüberwachung sowie überfallsartigen Fahrzeug- und Personenkontrollen, wobei sich immer etwas findet, eine defekte Glühbirne oder drei Asylanten im Handschuhfach. Sie werden nicht von wirren Überkopfwegweisern behelligt, sie werden nicht an Sektionskontrollen selektiert. Sie entgehen Räubern auf Autobahnraststätten und Sie sehen sich nicht ukrainischen Schnelltransportern ausgesetzt, deren Fahrer seit achtundvierzig Stunden hinterm Steuer lümmeln und die Augen kaum mehr offenhalten können. Sie vermeiden Baustellenbereiche sowie Lamborghinipiloten aus Rußland, welche dieselben mit 200 km/h durchrasen. Sie ersparen sich, von grünschnäbligen Dränglern bedroht zu werden, die kaum übers Lenkrad hinaussehen und mit ihren bayrischen Boliden zehn Zentimeter hinter Ihrem Heck einherdonnern, obwohl Sie die zulässige Höchstgeschwindigkeit schon um ein Drittel überschreiten. Schließlich entkommen Sie Schwer-LKWs mit gebrochenen Bremsscheiben und entgehen dem Anblick brennender Reisebusse.«
Wenn wir die alte Bundesstraße nähmen, brauchten wir dreimal so lang, nörgelte der Dozent. Das mache nichts, beruhigte ich ihn. Für unsere Sache reiche es völlig, wenn wir erst am fortgeschrittenen Nachmittag in Krems einträfen, auch die Chance auf kühlere Luft sei größer. Außerdem berge die Route über die alte Landesstraße eine Reihe von Denkwürdigkeiten, die uns trefflich auf die Wachauer Verhältnisse einstimmen würden.
Wir überquerten ein »Donaugraben« genanntes Rinnsal.
»Vor hundertfünfundzwanzig Jahren machte Kaiser Franz Joseph hier in einem Wirtshaus Station«, erklärte ich. Ein verwittertes Messingschild erinnere daran.
Das gesamte Territorium der ehemaligen Monarchie sei mit Erinnerungstafeln an den Langzeitkaiser zugepflastert. Würde man die Artefakte einschmelzen, könne man damit ein Vermögen machen.
»Alle Welt weiß, daß Österreich über ein gut ausgebautes Autobahnnetz verfügt, nur der famose Herr Groll scheint das nicht begriffen zu haben«, warf der Dozent ein.
»Sie haben völlig recht«, sagte ich. »Aber haben Sie sich auch schon einmal gefragt, warum das so ist? Weil die Politik nur die Ökonomie im Sinn hat! Autobahnen dienen einzig dem schnellen Warentransport. Salzgurken vom Schwarzen Meer in den Schwarzwald, und das in achtzehn Stunden. Darum geht’s. In Wahrheit zählen die österreichischen Autobahnen nicht nur zu den gefährlichsten, sondern auch zu den häßlichsten des Planeten. Zwar wird die heimische Landschaft von der Österreichwerbung von Kastilien bis Lappland in schrillen Kampagnen als ideale Reisedestination empfohlen, was aber bekommen die armen Lappländer zu sehen, wenn sie in ihren alten Volvos durchs Land brausen? Wegweiser zu Naturschutzgebieten, Hinweisschilder zu Klöstern, Thermen und Schnapsbrennereien. Aber vom Land selber sehen sie nichts, keinen Strom, keinen Dom, keinen Acker zukunftsreich. Sie sehen kein Kloster, sie sehen keinen See und sie sehen keinen Berg. Österreich ist ihnen ein einziger Röhren- und Tunnelbau. Dichte und Länge der heimischen Lärmschutzwände sind europaweit einzigartig, sie rauben dem Automobilisten zuerst die Sicht, dann den Verstand. Selbst Einheimische wissen nicht mehr zu sagen, in welchem Bundesland sie in einer Betonröhre dahinbrausen.«
Dennoch sei die Nutzung von Autobahnen nicht nur die schnellste, sondern auch die sicherste Form des Reisens mit dem Automobil, blieb der Dozent hartnäckig.
»Konträr«, rief ich. »Das ist eine üble Propaganda der Autobahnlobby. Kommt es in den Betonröhren zu einem Feuerunfall, wirken die meterhohen Betonwände wie Kamine, Feuerwalzen überrollen Touristen, die von Österreich nichts gesehen haben und nie mehr etwas sehen werden. Bis ich in diesen Röhren meinen Rollstuhl aus dem Wagen gehievt habe, bin ich gegrillt.
Dasselbe gilt für die Unzahl an Autobahntunnel, die nicht nur am Semmering und bei Klagenfurt verharmlosend ‚Tunnelketten‘ genannt werden, anstatt ‚zwanzig Kilometer lange Todesfallen‘, in denen mit deprimierender Regelmäßigkeit Menschen verkohlen. Um das Unglück noch zu vervielfachen, werden immer neue Tunnelröhren durch die Berge getrieben, als überträfe der Blutzoll nicht schon längst jede menschliche Vorstellung. Ist Ihnen aufgefallen, daß rechtsextreme Politiker sich besonders für Tunnelröhren, Autobahnen und Lärmschutzwände ins Zeug legen? ‚Freie Fahrt dem freien Bürger‘, rufen die Freiheitsheuchler aller Schattierungen, deren wahres Bestreben es ist, Freiheit und Bürger abzuschaffen und durch ein von Sklaven bevölkertes Kasernensystem zu ersetzen, in dem die U-Bahn-Zeitung gratis, die Spitalsambulanz unerschwinglich und die Tunnel endlos sind. Es gibt da einen Zusammenhang, verehrter Herr Dozent! Einen Zusammenhang zwischen Fremdenhaß, Lärmschutzwänden und dem motorisierten Todestrieb. Hauptsache, der Lärm wird geschützt, die Menschen sind nur Sperrmüll auf Tunnelreise. Falls dereinst von kommenden Himmelsstürmern die Autobahnbetreiber samt ihren Handlangern als Terrororganisation eingestuft werden, wird es mir ein leichtes sein, ihnen nicht in den Arm zu fallen. Im übrigen wird es eine Frau sein, die diesen Kampf als erste aufnimmt, eine Jeanne d’Arc der menschlichen Fortbewegung. Männer kommen für diese Position aufgrund ihrer Technikgläubigkeit nicht in Frage.«
Seit Jahren sei wissenschaftlich bewiesen, daß auf den Landes- und Bundesstraßen mehr Menschen ums Leben kämen als auf Autobahnen, legte der Dozent nach. Diesen Umstand könne ich nicht ignorieren.
»Verehrter Herr Dozent«, erwiderte ich ruhig und gelassen. »Es gibt eine Erklärung für die vielen Toten auf den nachrangigen Straßen. Schuld sind die Autobahnen.«
»Das mußte ja kommen«, rief der Dozent empört. »Sie schrecken wahrlich vor keinem Unsinn zurück!«
»Mäßigen Sie sich, Emotionen haben in einer Fahrmaschine keinen Platz«, sagte ich ruhig. »Heerscharen von Jungmännern werden durch das Rasen auf Autobahnen verdorben, aus ihnen werden keine verantwortungsvollen Automobilisten mehr. Wer mit zweihundert auf einer schnurgeraden Autobahn im Lärmschutztunnel dahindonnert, glaubt bald, die Gesetze der Physik seien aufgehoben. Und ein paar Stunden später, auf der Heimfahrt von einem Bordell jenseits der Grenze, bohrt sich ein dreihundert PS starkes Geschoß in den letzten Waldviertler Tannenbaum. Überhöhte Geschwindigkeit, heißt es dann im Polizeibericht. Fremdverschulden sei auszuschließen. Das aber, verehrter Dozent, ist eine Lüge. Selbstverständlich liegt Fremdverschulden vor. Schuld sind nämlich die Autobahnen, sie entziehen dem Menschen mit der Natur auch die Naturgesetze und lotsen ihn in eine Parallelwelt, in der Gevatter Tod den Sprit einfüllt.«
»Tod auf der Straße ist die zweithäufigste Todesursache bei jungen Männern. Auf der Bundesstraße, wohlgemerkt«, rief der Dozent triumphierend aus.
»Und was, Sie hinterwäldlerischer Verkehrsexperte, ist die häufigste?«
»Tod auf der Autobahn«, sagte ich.
Wir fuhren ein paar hundert Meter an der Donau entlang und betrachteten die Rollfähre, die, nur mit der Kraft der Strömung, lautlos ihren Dienst verrichtete. Der Dozent stieß sich am dumpfen Anprall der Fähre an den Landungsbrücken und meinte, das sei eine vorsintflutliche Bewegungsform. Ich würdigte ihn keiner Antwort.
(..)
Wir kehrten um, passierten den riesigen Getreidesilo und die Verladebrücke und parkten vor einem unscheinbaren Gasthof direkt am Fluß. Ein weit aus dem Wasser ragender holländischer Selbstfahrer, die »Innovatie«, zog, ebenfalls talwärts fahrend, an uns vorüber. Auch das Landgasthaus Tuttendörfl war geschlossen. Bevor der Dozent sich über den Namen mokieren konnte, wies ich darauf hin, daß dieses Restaurant sich aus einer Reihe von Schiffsmühlen aus dem siebzehnten Jahrhundert entwickelt habe, die von einem Freiherrn von Dutto betrieben wurden. Der Name sei von diesem abgeleitet. Immerhin handle es sich um das einzige Donaurestaurant am Nordufer, und das auf einer Länge von hundert Kilometern, zwischen Krems und Orth.
»So schofel gehen unsere Landsleute mit der Donau um«, setzte ich fort. »Sie besingen sie zu Neujahr im Musikverein und im Fernsehen, aber
sie wollen mit ihr nichts zu tun haben. Daß das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker zum ersten Mal 1939/40 veranstaltet wurde und der Erlös dem NS-Kriegswinterhilfswerk gewidmet war, kommt nicht von ungefähr.«
»Können Sie nicht einmal fünf Minuten darauf verzichten, alles und jedes mit den Nazis in Verbindung zu bringen?« jammerte der Dozent.
Ich schwieg. Dort, wo ich den Dozenten jetzt hinbringen würde, verbat sich dieses Ansinnen von selbst.