Ich beginne mit dem Nachwort im Heft, der »Ausfahrt«. Dort formulieren Sie, es brauche »auch im 21. Jahrhundert zweifellos viele und immer wieder neue Zeitungen«. Der Untertitel scheint dabei zugleich Programm und Shift eines zeitgemäßen Zeitungsmachens zu beschreiben – nämlich eine Entwicklung hin »zum Publizieren in der zerstreuten Mehrzahl«: Das ganze Heft scheint von der Argumentation einer Notwendigkeit von sich neu zu assoziierenden Singularitäten durchzogen, oder von einer Argumentation einer »Mondialisierung«, eines Weltweit-werdens vs. der vereinheitlichenden Globalisierung. Beschreibt das ihr Begehren, was Zeitungsmachen anbelangt?
Es muss ja nicht immer gleich die Welt sein. Was uns umtreibt, sind verschiedene Strategien der Situierung in lokalen, aktivistischen und mikropolitischen Praxen, aber auch deren translokale Verknüpfung. Deswegen versuchen wir, mit Redaktionen in verschiedenen deutschsprachigen Städten zu experimentieren, ein Experiment, dessen Ausgang keineswegs ausgemacht ist. Wir glauben, dass es gut wäre, über die Arbeit von Korrespondent_innen hinaus diskursive Maschinen an den einzelnen Orten zu entwickeln, Maschinen, die damit nicht einfach nur Texte produzieren, sondern sich auch als Sozialitäten in die Gegebenheiten einmischen. Die Translokalität ergibt sich dann teilweise durch die Zusammenstellung der Texte, etwa konkret im interessanten Zusammentreffen der Texte der Zürcher »Mittelbande« und des Wiener Philosophen Tom Waibel, die aktuellste Ausformungen der neoliberalen Transformation von sehr verschiedenen Kunst/Bildungsinstitutionen beschreiben.
Das »Publizieren in der zerstreuten Mehrzahl« verweist dabei auf eine nicht-hierarchische Produktionsweise, die ohne Chef_innen auskommt und auch die Funktionsteilung auf ein möglichst geringes Maß beschränkt bzw. in Form von Rotation verwaltet. Andererseits ist aber auch die Zerstreuung eine Bedingung heutiger Produktion. Nicht einfach nur als Aspekt einer translokalen Redaktion, sondern auch im alltäglichen Umgang zwischen Leuten, die eigentlich am selben Ort wohnen. »Zerstreut« meint im negativen Sinn die Schwierigkeiten prekären Lebens und Arbeitens, in denen ein neues Zeitschriftenprojekt hinzukommt zu den vielen Komponenten eines Lebens im Setzkasten. Aber die zerstreute Mehrzahl hat auch eine positive Komponente: den notwendigen Versuch kollektiven Arbeitens, der über die Vereinheitlichung des Kollektivs hinausgeht und die Asymmetrien und Dislokationen dieser Mehrzahl nicht verwischt.
Darüber hinaus möchten wir nicht nur einer fixen funktionalen Ausdifferenzierung innerhalb der Redaktion entwischen, sondern auch auf der Ebene der Texte mit einer Ausdifferenzierung, Abkapselung und Atomisierung aktivistischer und diskursiver Zusammenschlüsse brechen, also auch in diesem Sinne in zerstreuter Mehrzahl produzieren: Differenzen bestehen sicher auch zwischen den drei Städten, deshalb die Idee der drei vernetzten Redaktionen – Differenz existiert aber nicht nur zwischen den drei Orten, sondern vor allem auch »innerhalb« dieser Orte sowie weit über diese drei Orte hinaus. Wie können sich also die vielfach-differenziellen, mannigfaltigen Kämpfe, Ideen, Erfahrungen und Strategien affizieren und so ein Gemeinsam andeuten, das immer jener Arbeit der Übersetzung verschuldet bleiben wird, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Kopieren, Verweisen und Erfindungen zusammensetzt?
Es sind vielerlei Beiträge über ein System zu lesen, das Ein- und Ausschlüsse produziert. Birgit Sauer etwa kommentiert in ihrem Teil des wissenschaftsspezifischen Artikels »Todeskämpfe der Publikationsindustrie« zum Peer-Review-System, dass alle, die nicht in der Verwertungslogik des wissenschaftlichen Printsektors funktionieren können (oder wollen) zu Nullen gemacht werden, nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich: mit wissenschaftlichem Impact Factor Null. Ein anderer Beitrag beschäftigt sich mit »Pfuscharbeit« als Strategie. Es scheint einen virulenten Zusammenhang zwischen den ökonomischen Mechanismen der Vereinheitlichung und der Prekarisierung zu geben, etwas drastischer gesagt: zwischen Glättung und Verarmung – auf vielerlei Ebenen?
Das Zählen, Modularisieren, Rastern prägt mittlerweile nicht mehr nur die Bewertung unserer Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die der Zukunft. Insofern haben wir es vor allem mit einer Herrschaft der Kerbung zu tun, die jede auch noch so wenig quantifizierbare Praxis dem Regime der Zählung unterwirft. Das nimmt teilweise lächerliche Ausmaße an. Gleichzeitig geht es um die Zuspitzung von Subjektivierungsweisen, die zu immensen Anpassungsleistungen führen, zu einer Gefügigkeit, wie sie kaum je zuvor gekannt war, zum von allen Strata etwa der Wissensproduktion – auch der sicherlich privilegierten Schicht der Professor_innen. Die im Schwerpunkt beschriebenen Auswüchse der Krise der Universitäten, aber auch jener der Publikationsindustrien haben eine Entwicklungsstufe erreicht, angesichts derer man sich schon fragen muss, wer da überhaupt noch weiter- und mitmachen will – und vor allem, wer da nicht an Widerstand und Streik denkt. Doch in heutigen Ausformungen der Prekarisierung und Selbstregierung scheint das kaum die Frage zu sein – stattdessen geht es um individuelle Fluchten, individuelle Selbstoptimierung, individuelle Verwaltung der psychischen und physischen Verunsicherung. Dem entgegen versucht der Schwerpunkt, ja das ganze Heft, Alternativen vorzustellen, zeitgenössische Formen des Widerstands und der Invention.
Die Suche nach dem genau bemessbaren Impact Factor offenbart sich in diesem Kontext als ähnlich stumpfsinnig wie die im angeführten Pfusch-Text zitierte Verordnung, dass Pfusch nur innerhalb von 500 Metern vom Wohnort als Nachbarschaftshilfe gelten könne und außerhalb zu strafen sei – wir wünschen uns also zum Beispiel, daran beteiligt zu sein, dass solche disziplinierenden Mess-Begierden bald an noch mehr Orten Kopfschütteln, dem-Boss-ins-Gesicht-Lachen und erfinderisches, kollektivierendes Anders-Tun evozieren!
Es ist ein starkes Bekenntnis zur nicht geglätteten textlichen Haltung zu verspüren. Ist das, grosso modo, der »Aufstand der Verlegten« – wie der Titel der Nullnummer vermuten lässt? Im Beitrag von eipcp geht es um das »Programm eines Werdens, das nie zum Verlag werden will«. Es bezieht sich etwa auf die beschleunigte Mitte einer transversalen Text-Bewegung – gleich »der beschleunigten Mitte einer Pendelbewegung«, nach Deleuze und Guattari. Für mich klingt das nach angewandter Philosophie und nach neu notwendig gewordenen Haltungsübungen zwischen Politik, Praxis und Kunst.
Es ist weniger eine Frage der Anwendung von Philosophie als eine der Produktion auch von Philosophie im Handgemenge, in den Strömen sozialer Bewegungen, im Alltag mikropolitischer Praxen. Für das eipcp-Projekt transversal.at, das unter anderem im Kamion-Schwerpunkt vorgestellt wird, bedeutet das in der konkreten Praxis der Publikation, verschiedene Mitten zu erzeugen: eine Mitte der Vielsprachigkeit und Übersetzung, eine Mitte der Translokalität (hier auch im Austausch mit englischen und spanischen Publikationsprojekten), eine Mitte der vielheitlichen Produktion, eine Mitte der Publikation in vielen Formaten zwischen Print und Web, eine Mitte der Präsentation in Zusammenarbeit mit Buchläden, und schließlich auch eine Mitte des Copyleft, die sich gegen die immer rigidere Praxis des privilegierten Zugangs zu Wissen wendet.
diekamion ist das redaktionelle Nachfolgeprojekt der Kulturrisse, dem Heft, das überraschend Anfang dieses Jahres von der Herausgeberin, der IG Kultur, in der bisherigen Form eingestellt wurde. Können Sie ein paar Worte zum Relaunch sagen? Ich frage auch deshalb, weil das Format des neuen Heftes äußerlich ähnlich ist … und meist mit mangelnden Finanzierungsmöglichkeiten argumentiert wird. Wie ist überhaupt die finanzielle Lage von diekamion? Oder: Gab es Überlegungen, das Printformat großflächiger umzubauen?
Relaunch ist ein Begriff, der für den Übergang von Kulturrissen zu kamion nicht so recht passen will: Es ging um eine Weiterführung (im doppelten Wortsinne von weitermachen und weiterentwickeln) dessen, was uns an den Kulturrissen wichtig erschien; als die hier augenscheinlichsten Punkte wurden im Verlauf diesen Jahres vom erweiterten Redaktionskollektiv folgende herausgearbeitet:
Das Bekenntnis zum Printformat, wobei hier einem Reader der Vorzug vor einem Magazin oder einer Zeitung gegeben wurde - nicht zuletzt auch aus Gründen der Haptik und der Archivierbarkeit; die redaktionelle Arbeit im Kollektiv; die Öffnung der Publikation als Plattform für AktivistInnen und Aktivismen; der Mix aus Theorie und Praxis; die Vernetzung durch Textarbeit und Textreflexion; etc.
Die phänotypische Ähnlichkeit der Nullnummer zu den Kulturrissen ist einerseits ein Spiel mit der Kontinuität, andererseits sicherlich aber auch dem Willen geschuldet, unter prekären Bedingungen relativ schnell und in Einschätzbarkeit des Zeitaufwands und der Kosten für Druck, Versand, etc. zu publizieren. Um ein Mehr zum jetzigen form follows function können wir uns ggf. kümmern, wenn die Höhe der Förder-ungen durch die öffentliche Hand sowie durch Institutionen (in A, D, CH) klarer ist. Eine Finanzierung rein durch Abos und Heftverkäufen ist (trotz des so wichtigen und recht erfolgreichen Zuspruchs) weder möglich noch geplant, es handelt sich um kein marktwirtschaftliches Projekt.
Sie schreiben an einigen Stellen vom veränderten Verhältnis von ProduzentInnen und RezipientInnen – wie kommt die Redaktion, in diesem veränderten Verhältnis, zu ihrer Auswahl an Beiträgen und AutorInnen?
Ideen für Schwerpunkte werden gemeinsam erarbeitet. Viele der RedakteurInnen sind auch AutorInnen und darüber hinaus in mannigfaltigen aktivistischen, politischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen aktiv. Die Welt ist weit entfernt von einem Zustand, in dem es Publikationen wie kamion nicht (mehr) bräuchte; insofern unterstützen wir – um noch einmal auf den zuvor beschriebenen Plattformcharakter zurückzukommen - auch ausdrücklich nicht journalistisch geschulte, subjektive Formate des Schreibens aus dem Bauch der Krise heraus. Dazu kommen Kooperationen (wie in der aktuellen Nummer mit dem eipcp), kommissionierte Texte und Texte, deren Publikation uns wichtig erscheint (etwa der auch von Ihnen erwähnte und erst kürzlich übersetzte Text von Guattari/Negri, der in kamion erstmals im Vorabdruck auf Deutsch erschienen ist).
Vielleicht eine Detailfrage: Sie schreiben in der »Einfahrt«, ihrem Editorial, darüber, dass das Bilderverbot der Kulturrisse durchbrochen wurde. Ich finde im Heft allerdings nur einen kleinen Comic. Wie wünscht sich die Redaktion eine zu Beginn formulierte zukünftige »Ausweitung auch der experimentellen visuelle Zonen«? Oder bezieht sich die Durchbrechung des Bilderverbots auch auf die überaus netten Icons, die bei jedem Text zu finden sind? Ich nehme an, die verschiedenen Transportmittel vom Lastwagen bis zum Traktor, von der Seilbahn bis zum Schiff und zur Wolke stehen für verschiedene Arten eines Wissenstransfers oder für den differenzierten bis diffusen Wege durchs Translokale?
Das langjährige Bilderverbot der Kulturrisse sitzt sicher einigen von uns noch tief im Fleisch ;-) Zukünftige Formen der visuellen Inserts werden sich durch ein gemeinsames Ausprobieren und Herumspielen ergeben; und hoffentlich nicht gleich bleiben! Eins ist soweit klar: Eine fixe Bildstrecke mit immergleicher Anzahl von Bildern wird es nicht geben, dafür visuelle Experimente, die das strenge Layout mit trashigen Inserts, Kommentaren und ganzen Zonen durchqueren.
Und die Icons: Ja, die sind ein kleines visuelles ABC des Kamionischen.