Jonathan Crary, ein Kunstkritiker, Medienphilosoph und Experte für visuelle Kultur, verspricht mit »24/7« eine Kritik der Schlaflosigkeit. Crary sieht im Schlaf eine »Reminiszenz einer nie vollständig überwundenen Prämoderne, der ländlichen Welt, die vor vierhundert Jahren zu versinken begann.« (17) Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts hätten Descartes, Hume, Locke und andere Rationalisten den Schlaf »in Mißkredit gebracht«. (18) Heute würde die neoliberale Selbstoptimierung den Angriff auf den Schlaf fortführen. Der Trend gehe zu einer »24/7«-Welt, in der ständige Verfügbarkeit zur Norm und Schlaf zum Hindernis der kapitalistischen Expansion werde. Schlaf sei »eines der großen Ärgernisse für die Gefräßigkeit des heutigen Kapitalismus« und Schlaflosigkeit daher im Interesse eines Systems, das unmittelbar auf Steigerung der Profitrate und mittelbar auf Kontrolle und Einschüchterung der Arbeiter abzielt. Ablesbar sei dies daran, dass der nordamerikanische Durchschnittsbürger nur noch sechseinhalb Stunden pro Nacht schlafe gegenüber zehn Stunden zu Beginn des Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Crary sieht eine OECD-Studie von 2009 die USA jedoch mit 8,5 Stunden Schlaf pro Nacht an zweiter Stelle der ländervergleichenden Statistik.1 Die landesspezifischen Unterschiede etwa zwischen Portugal, Österreich und Japan lässt Crary außen vor. Er interpretiert einen polyphasischen Schlaf (mehrmaliges Schlafen pro Tag) als destruktiven Effekt von allgemeiner Moderne. Im Gegensatz dazu hat die Anthropologie des Schlafes in vielen traditionellen Gesellschaften eine zwar längere, aber weniger intensive Schlafdauer festgestellt: Für Unterbrechungen sorgen Störungen aus größeren Schlafgruppen, Moskitos, Nachtwachen, Kinder oder Naturgeräusche. Schlaf wird zu einem fließenden Zustand. Einschlafrituale für Kinder sind daher meist absent, wie der Ethnologe Sjaak van der Geest am Beispiel einer südghanaischen Gesellschaft darstellt.2 Das Ideal des Schlafes im Westen hingegen ist der tiefe, monophasische Schlaf (einmal Schlafen pro Tag), der sich als Reproduktionsarbeit versteht. Sinngemäß wird Aufwachen als lästige oder sogar als bedrohliche Störung empfunden.
Dass der Kapitalismus historisch die Notwendigkeit der Reproduktion erkannt hat, und deren Störungen durch Schlafhygiene und Schlafmittel ausschaltet, steht in Widerspruch zu Crarys Hauptthese. Auf Reproduktion kann der Kapitalismus freilich dort verzichten, wo er Arbeiter aus einer wachsenden und unmündigen Reservearmee bis aufs Blut vernutzen kann. Das primäre Interesse des Kapitals ist, die Maschinerie 24/7 auszubeuten. Die zentralen Strategien dazu sind in der Tat Rationalisierung, Intensivierung und Arbeitszeitverlängerung. Dieser seit Marx kaum veränderte Kanon kann jedoch nicht in einen Topf geworfen werden mit metaphorischen, vermittelten oder kulturindustriellen Angriffen auf den Schlaf der Bürger. Für die Textilarbeiterinnen in Bangladesch und Burma ist die Erweiterung und Intensivierung der Arbeitszeit ein gravierendes gesundheitliches Problem, für die gelangweilte Leisure Class hingegen ein durch Überproduktion von Kulturwaren gestörter Schlaf allenfalls milder Stress. Letztlich sind Individuen im Westen selbst dafür verantwortlich, wenn sie zu Medien greifen, um ihren Schlaf zu »zerrütten«. Für die Arbeiter aber ist kein »Weglegen« möglich, wenn der Besitzer der Produktionsmittel von ihnen 14 Stunden im Sweatshop verlangt. Das Drama der Elite mag ein imaginiertes 24/7 unter ständiger Bereitschaft am Smartphone sein, ihr Lohn beträgt dafür auch das tausendfache eines einfachen Arbeiters und sie können jederzeit in den Vorruhestand gehen. Das Drama der Arbeiter heißt ganz realistisch 14/6: vierzehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, um 250 Euro im Monat Lohn, bis ins Alter von 70 Jahren, ohne jede Möglichkeit zum Aussteigen. Weil Crary dieses essentielle Klassenproblem ausspart, kommt er auch zum Fehlschluss, dass Schlaf eine subversive Praxis darstellen könnte.
»Es könnte sein, dass – an verschiedensten Orten, in allen möglichen Zuständen – die Vorstellung einer Zukunft ohne Kapitalismus in Gestalt von Träumen im Schlaf beginnt. Sie wäre Vorahnung des Schlafs als einer radikalen Unterbrechung, einer Weigerung angesichts der Rücksichtslosigkeit unserer globalen Gegenwart, eines Schlafs, der auf der banalsten Ebene der Alltagserfahrung die Umrisse dessen vorzeichnen kann, was konsequentere Erneuerungen und Anfänge wären.« (106)
Gegen solchen kleinbürgerlichen Kitsch ist schärfster Einspruch zu erheben: Wo der Kapitalismus Arbeit intensiviert – was unbestreitbar in der Krankenpflege ebenso stattfindet wie in der sogenannten »Nachwuchswissenschaft« – hilft nicht der bourgeoise Rat, einfach mehr zu schlafen und von Revolution zu träumen, sondern eben die Empfehlung zusätzlicher Arbeit in der Organisation von Arbeits- und letztlich Klassenkampf.
Die Phantasie Crarys, es würde ein Angriff auf den Schlaf ausgeheckt, um die revolutionären Bürger zu zermürben, ist nicht von wissenschaftlichen haltbaren Daten oder einer materialistischen Analyse gedeckt, sondern einer fahrigen Assoziation von Analogien geschuldet. Diese wird zur paranoiden Verschwörungstheorie, wo Crary ein planendes Subjekt suggeriert:
»Die in Abu Graib und Guantánamo entwickelten psychologischen Techniken werden auf eine breitere Bevölkerung angewandt, indem man durch mechanisierte Formen des Terrors die Vulnerabilität des Schlafes und der ihn aufrechterhaltenden Sozialformen ausnutzt.« (34)
Mit Agamben und Foucault kommt Crary zur Behauptung eines allseitigen Angriffes von Dispositiven der Macht auf alle Individuen, die letztlich als Opfer dieses Systems erscheinen. Insbesondere Geheimdienste, Staaten, und Konzerne wie Google, Apple, General Electrics würden Menschen zu dauerndem Konsum und Arbeit zwingen. Aus hochkomplexen Konflikten im Trikont hingegen werden »systemkritische Erhebungen«, die mitsamt »Aussteigern« und »sozialistischen Kommunen« im Westen vom System mit »Repression gegen die Aufständischen« beantwortet werden, mit der Zerstörung oder »Deformation« von »verschiedenen Formen des Zusammenlebens« um für »Zustimmung« zum »Finanzkapital« und zur »Monetarisierung« des Alltags zu sorgen. (93) Das ist nicht von vornherein grundfalsch, sondern einfach zu pauschal, zu windschief und zu platt, um ernstgenommen zu werden.
Im dritten Kapitel kommt Crary am ehesten in produktiven Widerspruch mit seiner Disziplin. Crary widerspricht der in den Medienwissenschaften verbreiteten Vorstellung von kreativen Nutzern, die das »revolutionäre Potential der Kommunikationsnetzwerke« nutzen, um alternative Lebensformen im Kapitalismus herzustellen. Die »interaktiven Möglichkeiten« von neuen Informationsnetzwerken sei als »kompetenzfördernd, genuin demokratisch und egalitär verkauft« worden – ein Befund, den Crary mit einigem Recht, aber wenig dialektisch zum Mythos von der »egalitären Ermächtigungskultur« erklärt. (72) Anders als viele Medienwissenschaftler sieht er das Fernsehen durchweg kritisch als vereinzelnde, »antinomadische«, fixierende Störung der Kommunikation, als Kraft, der insbesondere Kinder »ausgesetzt sind« und die Crary als möglichen Faktor des rapiden Anstieg von Autismus ins Spiel bringt. Wenn er im weiteren Verlauf allerdings Pornographie und Computerspiele für »Abflachung des Reaktionsvermögens« verantwortlich macht, bleibt er Belege schuldig. Eine ähnliche Ferne zum neueren Gegenstand entsteht, wenn etwa behauptet wird, Blogs seien mit Debord als »Massenautismus« zu deuten, (100) sie seien ein »einseitiges Selbstgespräch«, das nicht warten oder zuhören müsse. (103)
Der vielleicht zentrale Unterschied von Crarys kulturpessimistischen Dystopie einer »24/7-Welt« zu Adorno und Horkheimers Theorie von Kulturindustrie als Ergebnis einer total »verwalteten Welt« ist, dass Kritische Theorie die tiefenpsychologische Dynamik präzise benennt, die Kulturindustrie manipulativ in Gang setzt. Ohne je optimistisch zu werden, erlaubt Kritische Theorie dem Individuum prinzipiell wirksame Resistenzen zu entwickeln. Davon hält Crary primär seine ignorante Haltung zu Freud ab. Er stilisiert Freud zu einem Pionier des Neoliberalismus, der den Schlaf »privatisiert« und den Traum zu einem »Schauplatz primitiver Irrationalität« abgewertet hätte. Das ist rundweg unwahr: Freud widmet der gesellschaftlichen Verdrängung von Triebregungen erhebliche Aufmerksamkeit und nimmt die Irrationalität des »zivilisierten« Alltags ebenso in den Blick wie die zivilisierende Funktion von frühen Mythen und Ritualen. Crary führt gegen seinen Strohmann Freud dann Bloch ins Feld: Triebregungen seien historisch wandelbar. Es sei, so Crary, »gar nicht mehr möglich, von uneingestehbaren persönlichen Wünschen zu reden, die man nicht bewusst zur Kenntnis nehmen oder nur ersatzweise befriedigen könnte.« Im offenen Widerspruch dazu sieht Crary ausgerechnet in Ersatzhandlungen – nämlich in Pornographie und »Killerspielen« – eine Bedürfnisbefriedigung ohne Verdrängungsdruck. (91) Der kollektive Wunsch sei das wahre Verdrängte – und Freud schüre nur die »bürgerliche Angst vor der Menge, der Horde, deren kollektive Handlungen für ihn zwangsläufig gedankenlose und infantile Ablehnungen reifer persönlicher Verantwortung waren.« (91) Am Ende hätte nur der Analytiker, »nicht der Träumende selbst« die Möglichkeit, die Träume zu verstehen. So verrät Crary viel über die Unbildung in der akademischen Landschaft, wenig indes über Träume, zu deren Erforschung in Ethnologie und Psychoanalyse mehr Material zusammengetragen wurde als in der von Crary berufenen Neuroscience. Crarys »24/7« ist insgesamt ein verzichtbarer Versuch, mit postmoderner Scareware ein reales Problem zum Scheinkonflikt aufzubauschen und dann eine ineffektive Lösung anzubieten.
24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus. Jonathan Crary, Berlin, Wagenbach Verlag 2014 (OA 2013)