Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr und Elke Rajal beschäftigen sich in ihrem Buch »Arbeitsscheu und moralisch verkommen« mit einer vernachlässigten Opfergruppe des Nationalsozialismus, und zwar mit als »asozial« verfolgten Frauen. Die begriffliche Definition dessen, was damit gemeint ist, gestaltet sich schwierig, da die Nazis selbst dies nicht genau festlegten und gerade damit die willkürliche Verfolgung all jener, die abseits rassistischer Zuschreibungen nicht in ihre Ideologien passten, in großem Ausmaß ermöglichten. »BettlerInnen, HausiererInnen, Arbeitslose, Nichtsesshafte, AlkoholikerInnen, Prostituierte, Kriminelle, QuerulantInnen« und viele mehr wurden in die Kategorie gezwängt. Psychiatrische Gutachten gaben, so die Autorinnen, der »Verfolgung vermeintlich ,Asozialer‘ den wissenschaftlichen Anstrich«[1]. Gesetzliche Grundlage war durch den »Grunderlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« gegeben, Zwangssterilisierungen wurden durch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« gesetzlich legitimiert.
Den Anlass für die Verfolgung gaben häufig Fürsorgebehörden oder Arbeitsämter. Ihnen war daran gelegen, Unterstützungsleistungen einzustellen und Personen der (Zwangs-)Arbeit zuzuführen. Andere Frauen wurden von der weiblichen Kriminalpolizei im Zuge von Razzien in Kaffeehäusern oder Parks aufgegriffen. Ihnen wurde häufig Geheimprostitution unterstellt. Das Stigma »Asozialität« existierte schon vor den Nazis, allerdings gingen diese mit einer besonderen Brutalität und Härte gegen Betroffene vor. Mit der »Biologisierung von sozialen Merkmalen«[2] ging die Unterstellung einher, die Eigenschaften, die sogenannten »Asozialen« zugeschrieben wurden, seien vererbbar. Dieser Logik folgend wurden betroffenen Frauen nicht nur die Kinder abgenommen, sondern es wurden auch Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen an ihnen durchgeführt.
Der räumliche Forschungsfokus liegt auf den NS-Reichsgauen Wien und Niederdonau. Die Autorinnen rekonstruieren die Wege jener Frauen und Mädchen, die in »psychiatrische Anstalten, Arbeitsanstalten, Arbeitserziehungslager und Erziehungsheime eingewiesen wurden«[3] und der als »asozial« diagnostizierten Opfer von Zwangssterilisationen sowie jener, die in die Konzentrationslager Uckermark und Ravensbrück eingewiesen wurden. Die vollstreckenden Institutionen in Wien waren die »Wagner v. Jauregg Heil- und Pflegeanstalt« Am Steinhof, die Baumgartner Höhe, die Arbeitsanstalt Am Steinhof, die Heil- und die Arbeitsanstalt Klosterneuburg sowie die »Wiener städtische Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund«. Viele Opfer durchliefen im Laufe ihres Leidensweges unterschiedliche Einrichtungen. Immer stand die Sexualität der Mädchen und Frauen dabei unter besonderer Beobachtung. Die Forscherinnen betonen, dass es sich bei ihren Darstellungen um Verfolgungs- und nicht um Lebensgeschichten handelt, denn die Biografien nachzuerzählen sei aufgrund der schlechten Aktenlage und weil sich aufgrund der andauernden Stigmatisierung auch nach 1945 wenige Opfer öffentlich zu Wort gemeldet haben, nicht möglich gewesen. Dennoch ist es mit diesem Buch gelungen, »dass möglichst viele verschiedene und doch auch typische Wege in und durch die Verfolgungsmaschinerie präsentiert werden«[4]. Die Wissenschafterinnen beschreiben den Alltag in den Anstalten und die Gewalt, von verbalen Übergriffen bis hin zu Folter und Ermordungen. Die Opfer werden anonymisiert, die Täter werden mit vollem Namen genannt, was als politisches Statement der Wissenschafterinnen zu lesen ist.
Ein Kapitel widmet sich den Konzentrationslagern Ravensbrück und Uckermark. Unter dem NS-Terminus »Jugendschutzlager« betrieben die Nazis in der Uckermark, in unmittelbarer Nähe des Frauen-KZ Ravensbrück, ein KZ für junge Frauen. Viele von ihnen wurden von Wien aus in die Uckermark deportiert. Geschlechtsspezifisch ist, dass als »asozial« stigmatisierte Frauen den schwarzen Winkel als Abzeichen tragen mussten, während Männer bei sogenanntem abweichenden Verhalten als »Kriminelle« in die KZ kamen und gezwungen wurden, den grünen Winkel zu tragen.
Historische Kontinuitäten zeigen Amesberger, Halbmayr und Rajal im Kapitel zu Entschädigungspolitiken und -praktiken auf. Während der Großteil der Täter_innen nach 1945 weiter Karriere machte, erfuhren die Opfer anhaltende Stigmatisierung und erhielten weder Entschuldigungen und Entschädigungsleistungen. Ihnen wurde vorgeworfen, keine politisch Verfolgten gewesen zu sein, sondern selbst Mitschuld an ihrem Schicksal zu tragen. Überlebende waren mit einer Relativierung und Nicht-Anerkennung ihres Leidens konfrontiert. Dies zeigt sich eindrücklich daran, dass erst 50 Jahre nach den an ihnen begangenen Verbrechen durch das Nationalfondsgesetz die Basis für Entschädigungszahlungen an sie geschaffen wurde. Erst 2005 konnten sie auch Leistungen nach dem Opferfürsorgegesetz beantragen. Viele Opfer erlebten dies nicht mehr, wie die Autorinnen beklagen.
Im letzten Kapitel werden historische Kontinuitäten dargestellt, die sich auch in gegenwärtigen Ausgrenzungspolitiken und Repressionen bei unterstelltem Arbeitsunwillen ausdrücken. So scheuen sich die Wissenschafter-innen, denen eine detaillierte Darstellung der vergangen Verbrechen gelungen ist, auch nicht, aktuelle Zustände zu kritisieren. Dies ist wichtig, denn, wie sie selbst im letzten Satz schreiben, stellt symbolische Gewalt nur den ersten »Schritt hin zur strukturellen und personellen Gewalt«[5] dar.
Mit diesem Buch wurde nicht nur eine Forschungslücke verkleinert, sondern wesentlich dazu beigetragen, dass die Opfer dieser geschlechtsspezifischen Verfolgung nicht in Vergessenheit geraten. Es bleibt nur zu hoffen, dass noch einige der Betroffenen oder zumindest deren Nachkommen das Buch lesen können.
Amesberger, Helga; Halbmayr, Brigitte; Rajal, Elke: »Arbeitsscheu und moralisch verkommen«. Verfolgung von Frauen als »Asoziale« im Nationalsozialismus. 378 Seiten, Mandelbaum Verlag, Mai 2019