Im vergangenen März erschien im Dumont-Verlag ein Bildband mit dem Titel »Kunstgeschichte als Brotbelag«, der Vorschläge versammelt, wie sich das Abendbrot oder der Frühstückstoast mittels Radieschen, Karotten, Aufschnitt oder Aufstrich nach dem Vorbild von Gemälden gestalten lässt. Grundlage waren unter einem Hashtag auf Twitter zusammengetragene Fotos von Brotbelagen Hunderter Nutzer, denen die Idee der Herausgeberin, »eine belegte Stulle nach Piet Mondrian« zu garnieren, so gefallen hatte, dass sie eigene Stullenentwürfe beisteuerten. Absicht des Ganzen war es laut Vorwort, das Vorurteil vom »Internet als Brandbeschleuniger kulturellen Gedächtnisverlustes« zu entkräften: »Brot ist vergänglich, die Kunst ist es nicht. … Die hier gezeigten Brote spiegeln die Formenvielfalt, den Witz und die ungeheure Kreativität der Brotkünstlerinnen und Brotkünstler wider, die ihre Interpretationen bekannter und unbekannter Meisterwerke als Toast und Vollkornbrot mit uns teilen«. Der Band konfrontiert jeweils auf Doppelseiten das Original mit seiner Stullen-Nachahmung, ohne dass eine Verwechslungsgefahr bestände. Es handelt sich schließlich nicht um Fälschungen, sondern um parodistische Improvisationen, die entgegen der bekundeten Absicht des Buches die bürgerliche Vorstellung von der Autonomie des Kunstwerks eher ad absurdum führen als bekräftigen. Wer am Morgen ein Pferd von Franz Marc als Vollkornbrot mit Blaubeermarmelade verputzt, wird schwerlich vor Ergriffenheit erschauern, wenn er des Originals ansichtig wird.
Herausgebracht wurde »Kunstgeschichte als Brotbelag« von der Historikerin und Bloggerin Marie Sophie Hingst. Am 17. Juli 2019 ist sie in Dublin, wo sie 2018 am Trinity College mit der Arbeit »One phenomenon, Three perspectives« über den englischen Kolonialismus im Irland des 17. Jahrhunderts promoviert wurde und als Projektmanagerin für den Elektronikkonzern Intel arbeitete, im Alter von 31 Jahren gestorben. Sie wurde tot in ihrer Wohnung aufgefunden; ein Fremdverschulden konnte ausgeschlossen werden. Familienangehörige nehmen an, dass sie sich das Leben genommen hat. Knapp zwei Monate vor Hingsts Tod hatte der Journalist Martin Doerry in einer Hintergrundgeschichte für den »Spiegel« enthüllt, dass sie sich auf dem Blog »Read on, my dear, read on« und bei öffentlichen Auftritten fälschlich als Nachkomme im Nationalsozialismus verfolgter Juden ausgegeben hat. Vielfach hat Hingst erfundene Lebensgeschichten angeblicher Familienangehöriger erzählt, die von den Nationalsozialisten vertrieben oder ermordet worden seien. Yad Vashem übergab sie eine Liste von 22 vermeintlichen Holocaust-Opfern, die mit ihrer Familie in Verbindung gestanden haben sollen. Nur drei der Personen existierten, keine davon hatte einen jüdischen Hintergrund. 2017 ist Hingst von den »Goldenen Bloggern« zur »Bloggerin das Jahres« gewählt worden, ein Jahr später verlieh ihr die »Financial Times« den Preis »Future of Europe« für einen Essay, in dem sie den Begriff der europäischen Identität verteidigte. In einem ebenfalls 2017 unter dem Pseudonym Sophie Roznblatt veröffentlichen Artikel für die »Zeit« hat sie davon erzählt, wie sie syrische Flüchtlinge in Sexualkunde unterrichtet habe. Auch diese Geschichte stellte sich als erfunden heraus.
Derek Scally, ein Journalist der »Irish Times«, der nach der »Spiegel«-Enthüllung einen Text über Hingst schreiben wollte, berichtete nach Gesprächen mit ihr, sie habe auf ihn den Eindruck gemacht, psychisch labil zu sein, und angegeben, sich durch den »Spiegel«-Artikel wie »lebendig gehäutet« zu fühlen. Dem »Spiegel« hatte Hingst zuvor durch ihren Anwalt mitteilen lassen, ihre Erfindungen seien unter dem Gesichtspunkt zu sehen, dass für ihren Blog »ein erhebliches Maß an künstlerischer Freiheit« gelte. Nach Hingsts Tod äußerte der »Spiegel« Bedauern, wollte sich an einer Diskussion über die Todesursache aber nicht beteiligen; Doerry verteidigte die Veröffentlichung seiner Enthüllungen. Der Journalist Deniz Yücel indessen, dem Hingst während seiner Haft in der Türkei fast täglich Postkarten geschrieben hat, teilte in der »Welt« mit, Doerry, der ihn während der Recherchen besuchte, habe den Fall als »Riesenskandal« aufmachen wollen, wobei das Bild von Hingst als »schamlose Selbstdarstellerin« festgestanden habe. Der Einfall, dass es sich durchaus anbieten könnte, das Gesamtwerk der angemaßten Jüdin, die in Wahrheit aus einer protestantischen Pfarrersfamilie stammte, trotz Justiziabilität und Immoralität ihres Handelns auf seinen inneren Zusammenhang hin zu betrachten, ist den wenigen zaghaften Verteidigern nicht gekommen.
Hingsts wissenschaftliche Arbeiten haben sich bislang nicht als Fakes herausgestellt. Sie zeugen von einem Interesse an der Geschichte des Kolonialismus, den sie in ihrer Dissertation am Beispiel Irlands und in einem anderen Artikel anhand von Deutsch-Ostafrika untersuchte. Ihr Vortrag »Drei Prager Juden treffen sich am Schützengraben?«, den sie 2013 bei einem Symposion des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zum Thema »100 Jahre Erster Weltkrieg« gehalten hat, verfolgt einen recht originellen ereignisgeschichtlichen Ansatz. Darin geht sie der Verarbeitung der Weltkriegserfahrung durch Franz Kafka, Egon Erwin Kisch und Ernst Weiß nach, die der gleichen Generation deutschsprachiger Prager Juden des frühen 20. Jahrhunderts angehörten und untereinander bekannt waren. Zugleich deutet sich in Hingsts akademischen Arbeit bereits der obsessive Akzent ihrer Selbststilisierung an. Ihre Kenntnisse jüdischer Geschichte ebenso wie des Kolonialismus erlaubten es ihr, die erfundene Familienbiographie und die Phantasien über ihr interkulturelles Engagement empirisch zu unterfüttern. Hingst war weder eine windige Schwindlerin im Stil von Karl May, der ab 1875 einen Doktortitel führte, ohne je promoviert worden zu sein, noch eine literarische Betrügerin in der Nachfolge von Bruno Dössekker, der 1995 als Binjamin Wilkomirski unter dem Titel »Bruchstücke« erfundene Erinnerungen an sein vermeintliches Überleben in verschiedenen Konzentrationslagern publizierte. Charakteristisch für Dössekker, dessen Pseudonym Bezeichnung eines ganzen Syndroms wurde, an dem Menschen leiden sollen, die sich imaginär mit der Verfolgungsgeschichte von Juden identifizieren, war das Bemühen, seinem halluzinierten biographischen Schicksal die angemessene Ausdrucksform zu verleihen: in Form von »Bruchstücken« eben, fragmentarisch und sprunghaft, um die gestörte Kontinuität des eigenen Lebens zu veranschaulichen. Gerade wegen dieser im Grunde stereotypen Schreibweise hatte er zunächst literarischen Erfolg.
Solche Ambitionen hat Marie Sophie Hingst nie verfolgt. Ihr diente die angemaßte jüdische Biographie eher zur Authentifizierung ihrer übrigen Arbeit und als Mittel, sich interessant zu machen. Anders als im Fall von Dössekker, dessen fingierte Lebensgeschichte in hoher Auflage erschien und schon vor seiner Entlarvung große Resonanz hatte, scheint es vor Hingsts Enttarnung nicht allzu viele gegeben zu haben, die sie interessant fanden. In einem Interview nach Verleihung des Preises der »Goldenen Blogger«, in dem sie auf die Solidaritätsaktion für Yücel angesprochen wurde, analysierte sie triftig, wie erbärmlich ein Regime sein müsse, das verhindere, dass die Insassen seiner Gefängnisse Postkarten zugestellt bekommen, die doch die argloseste Kommunikationsform überhaupt seien, und schloss ihre Stellungahme mit dem Hinweis, es sei wichtig, dass »wir« uns »Geschichten erzählen«. Retrospektiv wirkt die Beteuerung wie die Bitte eines phantasievollen, aber inmitten aller digitalen Kommunikation einsamen Menschen um sozialen Austausch, wie er ohne lebendige Phantasie, ohne die Fähigkeit, sich und einander etwas zu erzählen, das die bloße Empirie überschreitet, nicht möglich ist. Die wenigen Fernsehmitschnitte und zahlreichen Fotos, die Hingst zeigen, vermitteln den Eindruck einer halb verhuschten, halb euphorischen Person, die dem Gesprächspartner körperlich irritierend nahe kommt und gleichzeitig den Kopf einzieht – als wolle sie im Mittelpunkt stehen und sich zugleich verstecken.
In diesem Gestus ist eine ungeschriebene Geschichte weiblicher Hochstapelei aufgehoben. Ist der Sozialtypus des männlichen Hochstaplers, wie ihn für die Weimarer Republik Walter Serner beschrieb und Thomas Mann in den Fünfzigern in der Figur des Felix Krull schon wie in einem Epitaph zusammengefasst hat, dem Abenteurer verwandt, der ungebunden genug ist, sich über bürgerliche Usancen hinwegzusetzen, versucht die Hochstaplerin unter dem Alibi einer fremden Biographie, ein ihr verschlossenes, in die Imagination abgedrängtes Leben zu leben: aus sich herauszutreten, indem sie sich zurückzieht, lebendig zu werden, indem sie hinter einer Geschichte verschwindet. An Hochstaplerinnen des 19. Jahrhunderts wird die Funktion der Hochstapelei als Fluchtphantasie evident. Während männliche Hochstapler wie Karl May, der sich in seinem Leben als Augenarzt, Neffe eines Plantagenbesitzers aus Martinique und Kenner indianischer Bräuche ausgegeben hat, eine Gratwanderung zwischen den Professionen des Trickbetrügers oder Zauberers und der zweckfreien Hochstapelei betrieben haben, war weibliche Hochstapelei stets ein Versuch, den Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Emanzipationsversprechen und der unfreien Lebenswirklichkeit der Frauen, für die es formell ebenfalls galt, zu lösen. Die Kanadierin Elisabeth Bigley, die im ausgehenden 19. Jahrhundert als vermeintliche Millionärstochter Cassie Chadwick zahlreiche Banken betrog, oder die in Westpreußen geborene Franzisca Czenstkowski, die sich im frühen 20. Jahrhundert als russische Zarentochter ausgegeben hat, haben ihre Alibiexistenz ebenfalls weniger aus finanziellem Kalkül denn aus Lust am Schein aufrechterhalten. Nur war die Lust in ihrem Fall nicht die des souveränen Spielers, der die Möglichkeit, hat, seine Handlungen aus ironischer Distanz zu betrachten, sondern entsprang der ohnmächtigen Sehnsucht nach einem Leben, das ihnen versperrt blieb.
Relikte solcher Erfahrungen dürften in Hingst fortgelebt haben, wie überhaupt die sozialen Netzwerke dem Bedürfnis entgegenkommen, gesellschaftlichen Austausch zu meiden und sich gleichzeitig zu exponieren. Nur dass die so weltfremde wie raffinierte Anmaßung der Hochstapelei bei Hingst in Infamie und Bösartigkeit umgeschlagen ist. Das liegt auch daran, dass das gutgewordene Deutschland, das ihr Betätigungsfeld war, seine toten Juden umso unerbittlicher ehrt, umso schamloser es die lebenden verachtet. Darum ist es kein Widerspruch, wenn die gleichen, die hierzulande jeden Juden, der vor dem islamischen Antisemitismus warnt, mit schaler Harmonisierung abspeisen, sofort bereitstehen, die Toten gegen die Gedächtnisschmarotzerin Hingst, die eine Kriminelle, Irre oder Schlimmeres sei, zu verteidigen. Dass Hingst sich dieses Widerspruchs bewusst war, ist kaum anzunehmen. Ebenso wenig dürfte ihr aufgefallen sein, dass ihre »Kunstgeschichte als Brotbelag« wie eine Realsatire auf den willkürlichen Umgang mit historischem Gedächtnis erscheint, den sie selbst betrieben hat und dem sie zum Opfer fiel. In einer Welt, in der die abgespaltene Einbildungskraft zum perfiden Wahn wird, während ihr einstiger Konterpart, die Sachlichkeit, dazu taugt, jeden zum Abschuss frei zu geben, der noch nicht ganz auf Linie ist, ist mit Marie Sophie Hingsts Leben auch das Handwerk der Hochstapelei an ein Ende gekommen.