Ich erinnere mich daran, wie ich Anfang Juni 2011 in der Musikabteilung einer Elektrohandelskette bei den Klassik-CDs nach Sonderangeboten stöberte, als mir jemand, den ich nur vom Sehen und aus Erzählungen kannte, einen Flyer in die Hand drückte. Der Jemand war Kurt Holzinger und der Flyer für die Veranstaltung »Pogrommusik – Gustav Mahler und Adorno« mit Gerhard Scheit in der STWST. Zum Vortrag habe ich es nicht geschafft, Kurt hat mir auf meine Bitte hin aber das Buch von dort mitgebracht, auf dem er basierte. Die Buchübergabe wurde zum ersten längeren Gespräch mit Kurt und er mein bester Freund.

Ich erinnere mich an die zahlreichen Besuche von Flohmärkten und Bücherbörsen (Kurts »Jagdausflüge«), bei denen er mit beinahe untrüglichem und geschmackssicheren Blick die Bücher identifizierte, die eine Auseinandersetzung wert sind.
Dasselbe galt auch für Tonträger – Kurt hat seine musikalische Vergangenheit immer mit sich herumgetragen und nie völlig das Interesse an guter Popmusik verloren. In den letzten Jahren widmete er sich aber mit der ihm eigenen mitreißenden Leidenschaft dem Feld »klassischer« Musik. In kürzester Zeit fand er sich darin zurecht und gab sich nicht mir oberflächlichem Hören zufrieden, sondern wollte immer tiefer eintauchen, in der Fülle musikalischer Ausdrucksformen schwelgen. Egal, ob es sich um Madrigale Carlo Gesualdos, die Klaviermusik Liszts, Chopins und Debussys oder Orchestermusik Edgar Varèses handelt. Seine besondere Hingabe galt aber Haydn, Beethoven, Mozart, Schubert, Brahms, Schönberg, Berg und Webern. Zahllos die Stunden konzentrierten Anhörens neu entdeckter Musik oder Vergleichens verschiedener Interpretationen. Begleitet auch vom schuldbewussten Glück, auf besonders »schöne Stellen« zu achten. Auch wenn Adorno vor dieser Art verstümmelter Rezeption gewarnt hatte - warum sich diesen Momenten verschließen? Kurt war da pragmatisch und zitierte John Lennon: »Whatever Gets You Thru the Night«. 

Ich erinnere mich an Kurts schelmisches Grinsen beim Kommentieren aktueller Dummheiten des Linzer Kultur- und Medienbetriebs. Egal, ob es um die Tabakfabrik ging, die sich wahlweise als »Triade« oder als »Aorta« von Linz bezeichnet oder das Medienkunstgebrabbel der ARS. Es gab immer den Plan, das hiesige Kulturgeklingel in Kolumnenform grausam gründlich abzuhandeln und dabei weder die KAPU, noch die KUPF, noch die STWST zu verschonen.
Auch die medialen »Nahversorger« FRO & DORF TV blieben von sprach- und ideologiekritischen Einsprüchen nicht verschont (Kurt hatte die Bücher von Karl Kraus und Victor Klemperer nicht aus Dekorationsgründen in seiner opulenten Bibliothek). Das Alles nicht, weil wir besser wären, sondern weil irgendjemand die Suppe umrühren muss, bevor sie zu dick wird und Kritik gerade dahin gehen muss, wo es weh tut.

Ich erinnere mich an Kurts Erschöpfung, nachdem die neue Versorgerin fertiggestellt und der Druckerei übergeben war. Hektische Beratschlagun-gen zu Korrekturen in der Zeit zwischen Redaktionsschluss und Abgabe wichen großflächigeren und distanzierteren Reflexionen über mögliche Verbesserungen und neuen Ideen für die nächste Ausgabe.
Selbst in Zeiten, in denen Kurt seine Krankheit zu schaffen machte, war er ein beachtlicher Lektor: Sicher in Entscheidungen über Änderungen, Streichungen und Seitenbelegung – um die best mögliche Formulierung bemüht und zugleich die Wortwahl des Autors, der Autorin respektierend. Seine Ansprüche fremden Texten gegenüber waren hoch, aber nicht überzogen – ihm war bisweilen wichtiger, weniger erfahrenen Autor_innen eine Chance zu geben, als Einheitlichkeit in Form und Inhalt. Auch ging es immer darum, die Spannung zwischen Texten aufrechtzuerhalten, die sich widersprachen: Weder sollte die Versorgerin Austragungsort von Spezialdiskursen sein, noch eine postmoderne Collage unvermittelter Positionen. Kritisch war Kurt gerade sich selbst gegenüber – vielleicht hielt ihn Furcht, vor den eigenen Ansprüchen nicht zu bestehen, davor zurück, selbst mehr zu schreiben.

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Ich erinnere mich, dass Kurt und ich uns das erste Treffen schon 2014 ausgemacht hatten, das im Winter 2018 endlich zustande kam. Wir haben uns an diesem langen Nachmittag so gut verstanden, als hätten wir nach dem ersten hypothetischen Treffen 2014 schon viele weitere hinter uns gebracht. Kurts Schilderungen der Kulturszene in den Siebzigern und Achtzigern lauschte ich gebannt. Ich kann seither nicht am ehemaligen Café Landgraf vorbeigehen, ohne an Kurt zu denken. Es wird dieser Ort sein, der mich jeden Tag an Kurt erinnern wird, und an den Weg, den Kurt vorgegeben hat: Das Schlechte verabscheuen, mit allem Witz, aller Härte, aller Präzision, und sich selbst erlauben, auf das Bessere zu hoffen.

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Ich erinnere mich an die Parkbank am Lonstorferplatz im Franckviertel, auf der Kurt und ich im Jahr 2007 Platz genommen hatten, um uns mit ein paar ersten Worten kennenzulernen. Ich wurde von ihm als Autorin für ein STWST-Projekt angeheuert, als Writer in Residence, und schnell war ausgemacht, dass ich auch für die kommende Versorgerin einen Text schreiben werde. In Folge haben sich daraus ergeben: eine andauernde Zusammenarbeit und die tiefste Verbundenheit, die man sich vorstellen kann. Tausend Bilder, tausend gehörte Musiknummern, tausend gemeinsame Momente, die auftauchen. Ein erster Ausflug nach Tschechien, nach Trebon zu einem Teich namens Svet, übersetzt »Welt«. Eine nächtliche Heimfahrt, die wegen Baustellen und weitläufigsten Umleitungen eine Irrfahrt wurde, und auf der wir uns entschlossen haben, den im Scheinwerferlicht auftauchenden Rehen zu folgen, um heimzufinden. Später immer wieder Tiere, über die wir gesprochen haben. Liedfragmente, die bei zig Ausfahrten spontan getextet und intoniert wurden. Reisen nach Apulien, Indien, Japan, Osteuropa, Marrakesch, verschiedene Orte auf der Maginot-Linie, England, immer wieder Italien, manches Mal die Kvarner Bucht, eine Reise zum Saturn. Und ich kann mich nicht erinnern, dass Kurt je gesagt hätte, dass man sich keine weiteren Reisen imaginieren dürfe, ganz im Gegenteil: phantastische Anmaßungen und selbstermächtigende Chuzpe haben ihn immer amüsiert.

Ich erinnere mich an Aussagen Kurts über die Enge von früher und heute: Es ist bekannt, dass der junge Kurt und seine Bandkollegen von Willi Warma der Borniertheit der Zeit quasi diametral gegenüberstanden, was immer wieder in Texten rezipiert wird, zuletzt auch in der 68er-Ausstellung in den Linzer Stadtmuseen. Was dieses subkulturelle und zeitgeschichtlich relevante Erbe anbelangt erinnere ich mich aber auch daran, dass im Jahr 2017 eine andere Ausstellung, nämlich »Wir sind Oberösterreich« im Schlossmuseum lanciert wurde, in der Willi Warma ein Raum gewidmet wurde. Kurt wurde hier nie kontaktiert, geschweige denn wurde wegen der damit zusammenhängenden Rechte angefragt. Kurt, der zum Zeitpunkt der Ausstellung bereits schwer erkrankt war und nicht die Energie hatte, hier tätig zu werden, fand unbestechliche Worte zur allgemeinen politischen Tendenz und zu seiner Vereinnahmung als Oberösterreicher: »Wir wollten nie Oberösterreich sein, ganz im Gegenteil, wir wollten alles andere sein. Dieser identitäre Scheißdreck ist unerträglich.«

Und apropos identitärer Scheißdreck und dagegen angehen, ich erinnere mich auch daran: Haltung zu haben führte ein paar Jahre früher, im Jahr 2013, dazu, dass eine von Kurt initiierte, und mit Beteiligung der STWST durchgeführte Plakatausstellung der Romni Marika Schmiedt auf einem öffentlichen Baustellenzaun zuerst von einer ungarischen Touristik-Führerin angezeigt wurde, man höre und staune: wegen Wiederbetätigung, dann von der Polizei entfernt wurde, von der lokalen Presse unhinterfragt kommentiert blieb, und dann wegen der Roma und Sinti-Thematik Angriffe vom ungarischen Fernsehen erfolgten, bis dahin, dass die damalige Vorsitzende der STWST, Olivia Schütz, auf heftigste Weise persönlich bedroht wurde. Nach Interventionen der STWST in Richtung überregionaler Presse wurde letzten Endes die Ausstellung im Magistrat Linz wiederaufgebaut – und unter Beteiligung von VertreterInnen des offiziellen Linz und Europas wiedereröffnet. Ich kann mich noch an die ungehaltene Empörung Kurts erinnern, als diese Geschichte sich gerade anbahnte.

Ich denke an Gespräche mit Freunden und Freundinnen Kurts: Diese Zeilen deswegen auch in deren Namen. Es gäbe vieles hinzuzufügen, auch aus kulturell radikaleren wie zärtlicheren Zeiten – Stichwort »Chique und Zärtlichkeit«, »Luxus für alle« oder auch die Aktion »Schwimmen gegen rechts« anlässlich Schwarz/Blau I – einer meiner Lieblingsstorys, bei der Kurt mit einer Handvoll Leuten im Parkbad unter anderem »Nazis weg vom Beckenrand!« durch Megaphon rief und sich in Folge Badegäste beim Bademeister beschwerten, dass sie keine Nazis seien, nur weil sie kurz am Beckenrand verweilten. Wer etwa eine Würdigung von Willi Warma bis zur Versorgerin hören möchte: Es wurde am Tag der Trauerfeier ein Beitrag auf Radio FRO gesendet. Etwa mit der unglaublichen Nummer »Swim« aus Kurts Feder, die Rainer Krispel für die Sendung ausgewählt hatte.

Zuletzt erinnere mich hier an dieser Stelle, dass bei Kurts Trauerfeier viele, viele Menschen anwesend waren, die seiner Ungehaltenheit, seiner Warmherzigkeit, seiner Intelligenz, seinem Widerstand, seinem Trotz, seiner Kreativität Tribut gezollt haben. Wie viele es genau waren, weiß ich nicht. Später an diesem Trauertag wurde es ein Fest, soweit das unter diesen Umständen möglich ist. Dann hat es sich eine Woche später zugetragen, dass bei Kurts Urnenbestattung, bei der nur mehr eine Hand voll Menschen anwesend waren, die Friedhofsbedienstete mit der Urne in Händen dem Trauerzug zum Grab vorangegangen war. Die professionelle Pietät in Persona hat allerdings den falschen Friedhofsweg eingeschlagen, offensichtlich zu einem in einem falschen Grab ausgehobenen Loch. Stehen bleiben, Verwirrung, Ziffernsturz am Friedhof. In der Verwaltung wurden Grabnummern vertauscht. Kurzes Warten, eine rauchen, im Hintergrund Graben an der vorhergesehenen Grabnummer. In der Zwischenzeit Herumreichen der Urne, Schweigen, ein Freund raunt mir zu: »Das hätte ihm gefallen«. Ich füge hier an: Für einen, der die Abschaffung des Todes forderte, der am Tod nichts Natürliches sehen konnte, der das Unmenschliche, das Nicht-Leben, das Anti-Leben nicht akzeptieren wollte, der den ruhenden Geist nicht kannte, gibt es wohl kein richtiges Loch im falschen Zustand. So, yes, der Tod ist ein Irrtum. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Bild: Christiane Jessl
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