An den Ständigen Ausschuß zur Klärung sämtlicher Welträtsel, welcher beim Binder-Heurigen in Wien-Floridsdorf in Permanenz tagt.
Hohe Versammlung!
Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die UN-Generalversammlung in New York das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Die Konvention wurde seither von 177 Staaten angenommen und zählt neben der Allgemeinen Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 zu den grundlegenden völkerrechtlichen Dokumenten. Beide sind Säulen der Weltzivilisation.
Mit Stichtag 1.1. 2019 beträgt die Weltbevölkerung exakt 7.674.575.312 Menschen, einige sterben gerade, andere befinden sich auf dem Weg aus dem Mutterleib. Jährlich wird die Erde um die Bevölkerung Deutschlands oder der Türkei oder des Iran oder der Demokratischen Republik Kongo um mehr als 80 Millionen Menschen bunter und vielfältiger. Somit steigt auch die weltweite Zahl behinderter Menschen. Weltbank und Weltgesundheitsorganisation beziffern ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit fünfzehn Prozent. Es gibt demzufolge weltweit 1.151.862.968 behinderte Menschen, keinen mehr und keinen weniger, ich habe sie alle eigenhändig gezählt. Angesichts der ausgewiesenen Zahlen verbietet es sich, von einer Minderheitenfrage zu sprechen. Im übrigen verbitte ich mir Zweifel an der Zählung. Disabled persons sind Menschen und keine Nummern.
Die UN-Konvention schreibt vor, daß unabhängige Monitoringausschüsse – sie werden von Betroffenen geleitet – der UN-Generalversammlung in regelmäßigen Abständen Berichte über die Lage in den einzelnen Ländern vorzulegen haben. Daraufhin werden Mängellisten festgelegt, die von den Staaten abzuarbeiten sind.
Im Folgenden erstatte ich Bericht über eine Ermittlung, die ich im August 2019 an der ost- und zentraleuropäischen Donau, von Rumänien bis Österreich, durchführte. Die Ermittlung erfolgte auf dringliche Anregung eines New Yorker Freundes, die Kosten wurden zur Gänze von ihm übernommen. Kein Dollar und kein Euro an öffentlichem Geld stecken in der Arbeit.
Der Bericht erfolgt außerhalb der üblichen Länderberichterstattung, er hält sich aber strikt an den Geist und die Systematik der UN-Konvention. Er ist sozusagen mein persönlicher UN-Bericht. Bitte beachten Sie, daß es sich um ein Geheimpapier handelt, das wie alle Dossiers dieser Art seine Wirkung erst dann voll entfaltet, wenn der Inhalt geleakt und auf dem digitalen Unkrautacker aufgebracht wird.
Was hiermit und heute Abend vor dem Hohen Ausschuß erfolgt. Ihm kommt das Vorrecht zu, die Ergebnisse meiner Ermittlungen noch vor der UNO zu hören.
Honorable Supreme Court!
Die Jahre des Niedergangs der Europäischen Union werden begleitet von einer Demontage sozialer Absicherung für das untere Drittel der Bevölkerung. Jahrelang wurden Sozialleistungen von den Regierenden und ihren Medien verleumdet und sturmreif geschossen. Gesellschaftliche Errungenschaften, die auch für ärmere Bevölkerungsschichten ein halbwegs erträgliches Auskommen garantierten, wurden und werden liquidiert. Gesetzlich verbriefte Rechte wandeln sich zu Almosen und aus einer industriestaatlichen Sozialpolitik schlüpft ein ständestaatliches Armen- und Fürsorgewesen, das den Menschen in Form von Drohungen, Schikanen und Demütigungen gegenübertritt. An den Lebenschancen der Habenichtse wird herumgezupft und gezerrt wie am Balg eines erlegten Tieres.
Widerstand gibt es nur in einigen wenigen politischen Reservaten. Er nötigt den neuen Herren nicht einmal ein müdes Lächeln ab.
Seit geraumer Zeit wird dem ökonomischen Kalkül ein völkisches Ziel zur Seite gestellt. Kulturfremde Zuwanderer ins Sozialsystem hätten sich gegen die heimischen Leistungsträger verschwören, heißt es, sie bedrohten die Homogenität des Volkskörpers.
Wie immer in finsteren Zeiten sind es Angehörige sozialer Randgruppen, denen der wind of change zuerst ins Gesicht fährt. Adornos Satz von der Schwäche als ein zur Gewalttat herausforderndes Mal erlangt europaweite Gültigkeit.
Hoher Ausschuß!
Der große europäische Umbau kennt zwei Sieger: die Groß- und Finanzindustrie und ein rechtsradikales Parteienbiotop, das große Gruppen der subalternen Klassen und kleinbürgerlichen Schichten aufsaugt und radikalisiert. Die einen scheffeln Rekordgewinne, die anderen verbuchen schwindelerregende Zuwächse bei Wahlen. Von einem Tag auf den andern werden vermeintlich gefestigte Demokratien von zwielichtigen Figuren regiert, alerte Blender, rachsüchtige Studienabbrecher, Schlägertypen mit Sprechdurchfall und ausgebuffte Halunken, bei deren Erscheinen fühlende und denkende Menschen die Straßenseite wechseln. In manchen Ländern sind es skrupellose Konservative und Liberale, die den Antipoden der Zivilisation den Zugang zu höchsten staatlichen Weihen und Ministerbänken eröffnen. Jene Staaten, in denen die Machtübernahme der neuen Herren sich noch nicht zur Gänze vollzogen hat, kommen auf einer schiefen Ebene dem politischen Fallbeil Tag für Tag näher. Kulturelle und sprachliche Codes, die vor noch nicht langer Zeit Erkennungsmerkmale brauner Rüpel waren, bestimmen die politische Auseinandersetzung. Die Hetze gegen Minderheiten, der Hass auf Andersartige und geschürte Ängste bilden einen Rauchvorhang, hinter dem zivilisatorische Standards, demokratische Verfahren und soziale Sicherheiten niedergerissen werden.
Einst mächtige Sozialstaatsparteien verschwinden im Orkus der Geschichte. Das gesellschaftliche Leben ist vergiftet, ein geistiges findet nicht mehr statt. Stattdessen werden an jeder Straßenecke Wettbüros eröffnet.
Nicht wenige Europäer reiben sich verwundert die Augen. Teile der alten bürgerlichen Eliten und ein paar versprengte Restlinke reagieren angesichts des Tempos und der Wucht, mit dem die Staaten ausgehöhlt und umgebaut werden, mit ungläubigem Staunen. Nicht wenige alte Menschen wähnen sich in einem Alptraum, und jene, deren Vorfahren in den Gaskammern ermordet wurden, kontrollieren ihre fertig gepackten Koffer immer öfter.
In den Pyrenäen und in Nordgriechenland richten sich Tausende junge Menschen in Selbstversorgerhöfen als gesellschaftliche Eremiten ein, während in den Ballungszentren Millionen in Konsumwahn und weltanschaulichem Obskurantismus versinken. Die Nahrungsaufnahme wird zu einem säkularen Gottesdienst, Almkühe und Komposthaufen erfreuen sich größter gesellschaftlicher Fürsorge. In den großen Städten werden Bierzelte für Zehntausende Träger von Trachtenuniformen errichtet, und es wird geschunkelt und gedudelt, daß die Schwarten krachen. Der Zweck der profanen Feldmessen tritt unverhüllt zu Tage: Die Volksgemein-schaft betet um den Anbruch einer neuen großen Zeit. Inbrünstig strebt sie danach, auch ihrer Generation einen Eintrag ins Hauptbuch der Barbarei zu erkämpfen.
In den östlichen Staaten schrumpfte die arbeitsfähige Bevölkerung seit 1989 um vierzig Prozent. Millionen junge Menschen verlassen ihre Heimat und reihen sich in das rechtlose Dienstleistungs- und Akademikerproletariat der westeuropäischen Metropolen ein. Mit dem Mute der Verzweiflung klammern sie sich an den Traum vom sozialen Aufstieg. Zur selben Zeit geht es Abertausenden von sozial Deklassierten, die Kraft und Geld für die Emigration nicht aufbringen, in den Heimatländern an den Kragen. Verarmte Pensionistinnen verrotteten in ihren Keuschen, Bettler und behinderte Menschen werden aus den Städten vertrieben. Alkoholiker ertränken sich und ihre Sucht in Tümpeln und Rinnsalen, seelisch angegriffene und gemütskranke Menschen tun es ihnen gleich.
Hoher Ausschuß!
Das ist Europa heute: Ein digitalisierter Wirtschaftsraum zieht sich gesellschaftlich ins Mittelalter zurück. Der moderne Opferstock wird mit Milliarden von Daten gefüllt, aber anstelle des grenzenlosen Paradieses für alle winkt die totale Kontrolle eines jeden. Die Gefängnisse sind überfüllt. Die Hersteller von Stacheldraht, Sicherheitszäunen und Alarmanlagen melden Rekordgewinne. Als Kunstmäzene auftretende Glücksspielkonzerne schlagen aus der Ausbeutung des menschlichen Strandguts Extraprofite und veranlagen diese in Steuerparadiesen. Die Bauwerke der Antike und der Renaissance verblassen hinter Grenzbefestigungen und Abwehranlagen. Das Bienensterben wird durch den militärischen Drohnenflug kompensiert. Europa durchlebt fiebrige Jahre, wie sie Kriegen im Äußeren und im Inneren vorausgehen.
Das nachstehende Dossier wurde unter Einbeziehung mannigfaltiger Quel-len erstellt. Sie wurden von mir nach bestem Wissen und Gewissen überprüft. Die meisten der unglaublichen Vorfälle und Verbrechen, von denen in der Folge die Rede sein wird, habe ich aus nächster Nähe miterlebt.
Der Bericht ist im Internet nicht zu finden, auch das Darknet bleibt in diesem Fall dunkel. Schriftliche Exemplare ergehen an Universitäten in Tel Aviv und Bogotá und an das Büro der UNO-Konvention. Sie dürfen nur von ausgewählten Personen eingesehen werden. Es könnte sein, daß sich auch in der Bibliothek der Fachhochschule St. Gallen ein unter Verschluß gehaltenes Exemplar befindet.
Groll
aus: »Herr Groll und die Donaupiraten«, Otto Müller Verlag, 302 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, EUR 23,00
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LIBIB und Stadtwerkstatt präsentieren:
Lesung: Erwin Riess aus »Herr Groll und die Donaupiraten«
Donnerstag, 3. Oktober 2019, 19 Uhr
Volksheim KPÖ Melicharstraße 8, 4020 Linz
Erwin Riess liest aus seinem neuen Roman »Herr Groll und die Donaupiraten« – ein Roman, der politische und gesellschaftliche Entwicklungen verdichtet und erschreckende Dinge über das gegenwärtige Europa erzählt.
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