Gedächtnisschwund wegen Erinnerungsschub

Eine Satire gegen die Heuchelei 75 Years After und geschichtspolitisches Fantasie-Memory von Marcel Matthies.

»Wir Deutsche sind [...] auf eine ganz furchtbare Weise ein auserwähltes Volk. Wir wissen nach den Massenmorden, die wir veranstaltet haben, genau, wo mangelnde Zivilcourage hinführt, wo mangelnde Demokratie hinführen kann, nämlich bis in die Gasöfen [sic] von Auschwitz.« (Niklas Frank – Sohn des Schlächters von Polen)

Groteskes, grauenhaftes und grandioses Germany! Mal ehrlich: Wer hätte im Schatten der Mordanschläge von Hoyerswerda, Mölln, Solingen und Lübeck in den 1990er Jahren gedacht, dass die Berliner Republik einmal europäische Friedensmacht und Vorreiter in Sachen Weltoffenheit und Willkommenskultur sein würde? Wer hätte es für möglich gehalten, dass die vor 75 Jahren still gelegte Todesfabrik Auschwitz-Birkenau einmal zum weihevollen Wallfahrts- und Pilgerort würde, deren Besuch – insbesondere für Menschen mit attestiertem Demokratiedefizit – zum Bildungs- und Besserungserlebnis stilisiert würde?
Doch ist die einstige Verwandlung Europas in ein Schlachthaus – wo das organisierte Morden bekanntlich so rasant vor sich ging, dass die Entsorgung der Leichenberge damit oftmals nicht mehr Schritt halten konnte – wirklich Folge eines Mangels an Anerkennung und Zivilcourage sowie an Vielfalt und Weltoffenheit gewesen, wie die von oben verordnete Pädagogisierung des Nationalsozialismus nahe legt? »Wir alle wissen doch, wozu mangelnde Zivilcourage, wozu Gleichgültigkeit führen kann.« (Bundesaußenminister Heiko Maas)

Geschichtsbesessene Vergessenheit

Im Jahr 1990 deutet sich die Konjunktur der Holocaust-Erziehung bereits an, als aus der Untiefe der schnauzbärtigen Schriftstellerseele von Günter Grass folgende orakelhafte Erkenntnis emporstieg: »Wir kommen an Auschwitz nicht vorbei. Wir sollten, sosehr es uns drängt, einen solchen Gewaltakt auch nicht versuchen, weil Auschwitz zu uns gehört, bleibendes Brandmal unserer Geschichte ist und – als Gewinn! – eine Einsicht möglich gemacht hat, die heißen könnte: Jetzt endlich kennen wir uns.«
Warum scheint dieses Ereignis, das als bleibendes Brandmal sogar ein negativ begründetes Wir-Gefühl für autochthone Deutsche stiften soll, also mit zunehmender zeitlicher Distanz näher zu rücken? Es ist, als wäre die Schuld im Einklang mit dem am biologischen Prozess der Wundheilung orientierten Verständnis von Zeit längst gesühnt, ist doch inzwischen das Bedürfnis nach Entsühnung dem Gefühl der Läuterung gewichen. Erst das öffentlichkeitswirksame Bekenntnis zum Alleinstellungsmerkmal Auschwitz ermöglicht eine metaphysische Absolution. Zudem lassen sich Gefühle der Scham, Schuld und Schande im vereinten Kampf gegen die drohende Wiederkehr des Faschismus und Rassismus symbolhaft exorzieren. Die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts jedoch mit den antiquierten Begriffsschablonen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchdringen zu wollen, macht die Denkfaulheit großer Teile des neo- und linksliberalen Establishments augenscheinlich, das vom neuen Geist des Kapitalismus[1] beherrscht ist.

Infolge von Pädagogisierung und Politisierung der NS-Vergangenheit verschwimmen die Konturen des originären Nationalsozialismus, obwohl und weil Auschwitz heute als Staatskult von zentraler Bedeutung für die Selbstfindungsgeschichte der Deutschen ist, deren Katharsis und Aussöhnung mit sich selbst ähnlich einzigartig wie der zuvor an den Juden verübte Massenmord ist. Der inflationäre Gebrauch einer zu leeren Formeln erstarrten Erinnerung an die millionenfache Ausrottung von Menschen führt vor, dass auch und gerade das Vergessen im kollektiven Erinnern angelegt ist, da dessen Institutionalisierung zum einen keine Ausdrucksform für das Verstummen und das Unsagbare finden kann und zum anderen die fixierte Vergangenheit stark filtert und verzerrt, dies aber nicht zu reflektieren vermag. Da die Geschichtspolitik in Sagrotan getränkt ist, lässt sich ein kaum wahrnehmbarer Schlussstrich unter die ehemals durch Auschwitz kontaminierte Vergangenheit ziehen. Denn Erinnerung stellt in Deutschland bekanntlich die höchste Form des Vergessens dar.

Je weniger ehemalige SS-Mitglieder aufgrund ihrer Mitwirkung am Massenmord zur Rechenschaft für ihre ohnehin kaum ermessbare Schuld gezogen werden können, desto vergnüglicher ist der Spaziergang durch die in Beton gegossenen Stelen der Selbstbeweihräucherung auf dem monumental angelegten Gelände des zur Unkenntlichkeit entstellten Holocaust-Triumph-Mahnmals in Berlin. Je stärker die Erinnerung an die NS-Vergangenheit innenpolitisch auf Legitimation von Migration und Kulturrelativismus in der Gegenwart ausgerichtet ist, desto deutlicher zeichnet sich die Wohlstandsverwahrlosung progressiven Denkens ab, dessen niedriges Niveau nicht mehr von der zum engagierten Entertainment herabgesunkenen Bewusstseinsproduktion des bildungs- und medienpolitisch institutionalisierten Antirassismus zu unterscheiden ist. Und je deutlicher der Judenstaat vom außenpolitischen Appeasement der Berliner Republik abweicht, desto verantwortungsbewusster können sich offizielle Repräsentanten der BRD gegenüber den Israelis gerieren, deren Staat man hierzulande trotz allem großherzig ein Existenzrecht einräumt – auch um das historisch illegitime Bestehen einer deutschen Nation nach 1945 vergessen zu machen.

Geschichtspolitisches Fantasie-Memory

Wer hat es in den Jahren des rasanten Aufstiegs der AfD zur 10-Prozent-Partei nicht mit panischer Angst zu tun bekommen und darüber nachgedacht, das Land zu verlassen, sobald sich die Machtübernahme vom 30. Januar 1933 wiederholt? Wer hat sich nicht dabei erwischt, am geschichtspolitischen Memory-Gedächtnisspiel teilzunehmen, dessen Spielregeln darin bestehen, die Rätselfragen der Gegenwart in die hyperreale Deutungsschablone der Jahre von 1933 bis 1945 zu pressen?
Das von Bildungsanstalten und der veröffentlichten Meinung angeleitete Spielszenario, das durch permanentes Warnen und Mahnen sowie Parallelisieren und Gleichsetzen den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart einebnet, entfaltet eine wirkmächtige Realitätsattrappe, um die passenden Paare auf den geschichtsdidaktisch anschaulich aufbereiteten Spielkarten zu finden: Darauf ist die NSDAP in verwandelter Gestalt der AfD wie ein Zombie zum Leben erwacht, Höcke erscheint als Goebbels‘ Wiedergänger, Sarrazin als Rosenbergs Reinkarnation, Diskriminierung steht in der Tradition der Rassenkunde, Moslems gelten als neue Juden und Flüchtlingslager als Pendant zum KZ[2]. Heilserwartungen sind hingegen mit Dekolonisierung, Diversität und Desintegration verknüpft.
Jedoch lässt sich die Krise des Dynamisierungsliberalismus[3] nicht mit instrumentellem Gedenkkitsch und Gesinnungsklamauk ungeschehen machen, da sich deren Folgen im gesamten politischen Gemeinwesen niederschlagen. Identitätspolitische Scheindebatten[4] legen den Fokus auf Gruppen und deren Diskriminierungserfahrungen und verdecken damit de facto Fragen zunehmender sozialer Ungleichheit[5]. Zugleich leugnet man seit Jahren den von Djihadisten und linientreuen Vertretern des Alltagsislam[6] erklärten Krieg zur Etablierung einer Gegen-Macht – wie in Madrid, London, Frankfurt, Paris, Kopenhagen, Straßburg, Brüssel, Nizza, Berlin, Manchester oder Barcelona äußerst gewaltvoll praktiziert – und arbeitet sich dagegen obsessiv an hochbetagten Menschen im Rollstuhl oder am Rollator ab, die ein Gebäck Mohrenkopf statt Schaumkuss nennen.
Indessen hat es die hochgejazzte Identitäre Bewegung vor ihrem kläglichen Zerfall trotz breiter medialer Aufmerksamkeit und europaweiter Mobilisierung im Jahr 2019 gerade mal auf 250 Demo-Teilnehmer geschafft, wohingegen an der Christopher-Street-Day-Party in Berlin im gleichen Jahr ungefähr eine Million Menschen teilgenommen haben. Die nationalrevolutionäre Zeitschrift Sezession stagniert bei 4.000 Abos, während das Lifestyle-Magazin für Gangsterrapper Backspin zirka 200.000 Abos aufweist. Der Organisationsgrad der Szene freier Kameradschaften ist nicht annähernd vergleichbar mit dem in den 1990er Jahren, als die Angst vor einem Vierten Reich zumindest teilweise eine reale Entsprechung auf den Straßen hatte. Anders als damals ist man heute aufgrund des demographischen Wandels mehr denn je auf Einwanderung und Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen.
Derartig widersprüchliche Erfahrungen und Fakten müssen den Erfordernissen des Spielprinzips weichen, zumal das Ziel des Spiels darauf ausgerichtet ist, sich im heroischen Kampf gegen rechtspopulistische Nazis selbst zu vergewissern, definitiv auf der Seite der Guten zu stehen. Es geht auch darum, Zeichen weißer Dominanzkultur zu dekonstruieren und den im Feindbild vom alten, weißen Mann fortwirkenden Hass auf den Bourgeois zu reaktivieren, um Sinnlücken im Realitätserleben zu schließen. Wer sich den Spielgenuss nicht durch Fehler in der Spielmatrix vermiesen lassen will, hat bestimmte Realitätspartikel aus dem Bewusstsein zu filtern. Auch deshalb ist die Rolle des Spielverderbers in das Spielgeschehen integriert. Dessen Hinweise – Faschismus sei auf Jugend, Führerkult, Fanatismus, Ehrgefühl, Ethnogenese sowie einem Bündnis von Mob und Elite angewiesen – lassen sich getrost in das Spielprinzip integrieren, indem sie zur Feindpropaganda erklärt werden.