Als Hitler am 12. März 1938 auf dem Weg nach Linz war, dachte er noch nicht an die vollständige Annexion Österreichs. Nur ein knappes Viertel der Bevölkerung befürworte den »Anschluß«, warnte die Gestapo, Widerstand von Nazigegnern sei nicht auszuschließen. Der Jubel an den Straßen zerstreute aber Hitlers Befürchtungen, und als er in Linz einzog, war er sich seiner Sache schon so sicher, daß er der schlecht vorbereiteten Wehrmacht befahl, auf dem schnellsten Weg nach Wien vorzustoßen. Zwar kamen fünfundzwanzig deutsche Soldaten bei Verkehrsunfällen ums Leben, auch blieb ein Großteil der motorisierten Truppen sechzig Kilometer vor Wien aus Mangel an Treibstoff liegen; da aber keinerlei Feindberührung zu verzeichnen war, marschierte die angeschlagene Wehrmacht dennoch in der Hauptstadt ein. Der »Blumenkrieg« war gewonnen, die »Ostmark« erobert.
»Austria will sooner or later go Nazi«, hatte ein englischer Diplomat bereits im Sommer 1934 nach London gekabelt. 1936 wurden in Wien Nationalsozialisten in die Regierung aufgenommen, und am Abend vor dem Einmarsch ernannte der österreichische Bundespräsident Miklas den NSDAP-Innenminister Seyss-Inquart zum Bundeskanzler. Stunden zuvor hatten die österreichischen Nazis schon die Macht in den Landeshauptstädten übernommen. Hitler marschierte also in ein bereits »befreites« Land ein. »Dieses Volk von Dienstboten hat nur das bekommen, was es verdient«, notierte der französische Militärattaché.
Am 13. März 1938 beschloß der österreichische Ministerrat das Verfassungsgesetz über die Vereinigung mit dem Deutschen Reich. Das Protokoll endet mit den Worten: »Die Mitglieder der Bundesregierung erheben sich zur Feier der Stunde von den Sitzen und leisten den deutschen Gruß.«
1938 befanden sich ein Viertel der Wiener Betriebe im Eigentum jüdischer Besitzer, die »Arisierung« hatte also eine nicht zu unterschätzende materielle Dimension, allein in Wien wurden 70.000 Wohnungen geraubt. Die Aussicht auf Beute führte zu einem Sturm auf die Parteilokale, und im Nu waren 700.000 NSDAP-Mitglieder registriert. Zur gleichen Zeit wurden ungefähr 100.000 politische Gefangene gemacht. Die jüdische Bevölkerung – annähernd 200.000 Menschen – wurde vertrieben oder in Vernichtungslager deportiert. Ein Drittel der österreichischen Juden und die Hälfte der Roma und Sinti wurden ermordet.[1]
Widerstand kam hauptsächlich von Kommunisten, allein zwischen 1938 und 1943 wurden in Wien und Niederösterreich 6.000 von ihnen verhaftet, viele wurden hingerichtet oder starben im KZ. Den sozialistischen Widerstand ordnete die Gestapo als »Stammtischaktivität« ein, und der konservative Widerstand überschritt kaum die Schwelle eines geflüsterten »Grüß Gott!«
1,2 Millionen Österreicher wurden zur Wehrmacht eingezogen. 240 von ihnen erreichten den Generalsrang. Der Anteil von Österreichern im Sicherheitsdienst war überproportional hoch. In der Wiener Gauleitung war nur eine von achtzehn Positionen mit einem Deutschen besetzt, in der Wiener Gestapo stellten Österreicher achtzig Prozent des Apparats. Die NS-Herrschaft war also auch eine Herrschaft von Österreichern über Österreicher.
Der Krieg hinterließ 247.000 tote oder vermißte österreichische Soldaten, Zehntausende tote Zivilisten, 100.000 Kriegsversehrte, 500.000 Kriegsgefangene und einen Schwerindustriekomplex, der verstaatlicht wurde, um den Zugriff der Sowjetunion auf das ehemalige deutsche Eigentum zu vereiteln. Die Betriebe wurden von den schätzungsweise 200.000 Gefangenen der ostmärkischen Konzentrationslager – allein das KZ Mauthausen unterhielt 49 Nebenlager – errichtet. Die Zweite Republik hat ihren industriellen Ursprung im KZ-Wirtschaftskonzern, in Sklavenarbeit und Mord.
Erlebten die einen das Ende der NS-Herrschaft als die ersehnte Befreiung, war es für die NS-Parteigenossen die Stunde Null, die große Niederlage, der Zusammenbruch. Für die Mehrheit der Österreicher war das Kriegsende der »Umbruch«. Den Alliierten gegenüber verfolgte man die Taktik des Hofrates Pechacek aus dem Kabarett Wiener Werkel: »Nur net nervös sein. Mir wern die Befreier schon demoralisieren.«
In der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April heißt es: »Angesichts der Tatsache, daß die Reichsregierung Adolf Hitlers kraft der Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat ...«
Wer »macht- und willenlos« einen erheblichen Anteil der KZ-Mörder stellt, wer einen Eroberungskrieg nur deswegen ablehnt, weil er »aussichtslos« ist, wer niemals die »Bekriegung von Völkern gewollt«, wer also nichts Böses »gutzuheißen instand gesetzt war«, der ist nicht nur ein bedauernswertes Opfer der Sprache, sondern auch der Geschichte, mit einem Wort, ein wahrer Österreicher. Die Vorsitzenden der konservativen, der sozialistischen und der kommunistischen Partei unterzeichneten die Erklärung und stellten sich damit in den Dienst des »wahren Österreichers«. Und der katholische Publizist Friedrich Heer verkündete dessen Mission: »Aufgabe jedes wahren Österreichers war es nun, sich zu gürten zur Wanderschaft und Tag und Nacht mit brennender Fackel durch die Welt zu laufen, um das neue Europa zu suchen, den Ruf unter die Völker werfend: das alte Europa ist tot – auf, schaffet das neue.« Diese gemeingefährliche Drohung blieb aber nur Vorsatz, dem zerbombten Land fehlten die Mittel, das grausame Vorhaben in die Tat zu setzen. Erst Jahrzehnte später sollte der wahre Österreicher Alois Mock, Heers Wort eingedenk, als Außenminister mit brennender Fackel durch Jugoslawien laufen, den Ruf unter die südslawischen Völker werfend: »Das alte Reich ist tot – schaffen wir das neue, das Beinhaus!«
Österreich, das sich mit Aplomb in die Staatenwelt zurückgemeldet hatte, durchforstete seine Geschichte nach Spuren des wahren Österreichers. Das konservative Lager beschwor in Heimatfilmen die Biedermeier-Zeit und die von Lederhosenseppln und Dirndlträgerinnen bevölkerten Alpen. Das förderte den Tourismus und die Weinwirtschaft. Nicht die Denkmäler, sondern die Idee des Denkmalschutzes wurde zur Apotheose erhoben und zum Staatsgrundziel auch in der Politik gemacht. Barrierefreiheit ist heute noch ein wenig besuchtes Freifach in der Architektenausbildung. Die Europäische Union fordert zwar bis 2015 umfassende Barrierefreiheit in öffentlichen und Wohngebäuden, die Stadt Wien erstreckt die Frist aber bis zum Jahr 2042 (!) wobei 75 % der für Barrierefreies Bauen reservierten Gelder erst in den Jahren ab 2037 zu verwenden sind. Gleichzeitig schaffen Graz und Linz Vorschriften für Barrierefreies Bauen ab. Sie werden dabei vom Präsidenten der Wiener Architektenkammer und Vorsitzenden der Bundessektion Architekten in der Bundeswirtschaftskammer, Walter Stelzhammer, unterstützt, der seit einiger Zeit in Interviews vehement die Abschaffung der Barrierefreiheit fordert, weil sie die Kreativität der Architekten einschränke. Krüppel sollen gefälligst im dunklen Souterrain bleiben oder dorthin zurückkehren. Diese Episode zeugt nicht nur vom bewunderungswürdigen Mut eines politischen Herrenreiters, der es sich nicht nehmen läßt, bei unter Druck geratenen Gruppen noch kräftig nachzutreten, sie spricht ebensosehr für das feine Gespür mancher Intellektueller, daß die politischen Winde sich wieder in Richtung des »wahren Österreichers« drehen.
Die Zweite Republik kennt keine Sieger, sie kennt nur Opfer: Die katholischen Legitimisten, weil Otto Habsburg die Einreise nach Österreich verwehrt blieb; die Sozialisten, weil der Traum vom Anschluß an Deutschland in weite Ferne gerückt war; und die betrogenen Mörder und Glücksritter von der NSDAP, weil sie ihre Beute nicht länger genießen konnten. Die Kommunisten fühlten sich als Opfer, weil sie sich von der Bevölkerung um das Honorar für den Widerstand betrogen wähnten.
Seit den achtziger Jahren hat der »wahre Österreicher« wieder Konjunktur. Vom Bundespräsidenten, der auf antisemitischen Kampagnen in die Hofburg segelte, reicht das »wahre Österreichertum« über durchgeknallte Fernsehdodeln, die im Kniefall vor den Mächtigen und der Verhöhnung Schwacher ihre hellsten Momente haben, bis zu Haiders Kofferträgern, die dem Land sein faschistisches Erbe als runderneuerte Zukunftsvision andrehen wollen.
In Österreich erscheinen Verschiebungen in der gesellschaftlichen Tiefenstruktur gern als folkloristische Einlage. Sei es als grölender Herold des alpinen Übermenschen im Schistadion von Schladming oder wie bei jenem Präsenzdiener[2], der eine Ausgangssperre fürs Wochenende ausfasste, weil er einen im Korporalsrang stehenden Esel, der die Trommel der Gardemusik zog, nicht vorschriftsmäßig gegrüßt hatte.