Einer der denkwürdigen Effekte der modernen Kommunikationsgesellschaft ist, dass – ungeachtet des populären Klischees der übermächtigen und manipulierenden Medienmaschinerie – unliebsame Meldungen keineswegs systematisch unterdrückt werden, sondern offen zugänglich sind und bezeichnenderweise dennoch keinerlei Umdenken bewirken. Aktuelles Beispiel ist der nun bereits monatelange Protest einer Gruppe von Flüchtlingen in Wien. Was mit einem Protestmarsch von Traiskirchen nach Wien begann, ist zu einer der größten Widerstandsaktionen von Flüchtlingen in Österreich gewachsen. Nach einem erfolglosen Gespräch mit politisch Verantwortlichen erreichte der Protest Ende Dezember ein neues Stadium, als die Flüchtlinge in den Hungerstreik traten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der Protest nun auch in den etablierten Medien präsent. Neben unzähligen Artikeln auf derStandard.at wurde auch in der Wiener Gratis-U-Bahnzeitung Heute, im ORF, in TV und Radio über die Flüchtlinge berichtet. Dazu kamen mehrere Protestaktionen und Demonstrationen in ganz Österreich, Diskussions- und Solidaritätsveranstaltungen, Besuche u.a von Josef Hader, Kardinal Schönborn, Jean Ziegler und dem Vizepräsidenten des Europaparlaments Othmar Karas, ein YouTube Kanal, Facebook und natürlich die Berichterstattung in den sogenannten alternativen Medien.
Sieht man von den unkritisch reproduzierten Äußerungen von Caritas-Direktor Landau und Kardinal Schönborn ab, wonach die Flüchtlinge von radikalen Aktivisten instrumentalisiert würden, war die Berichterstattung in den Mainstream-Medien größtenteils fair und wohlwollend. In diesem formalen Sinn war der Widerstand effektiv und erfolgreich. Vielleicht war es auch dieser eingeengte und realitätsferne Blick auf die Medienwelt und die hektischen Aktivitäten der linken Zivilgesellschaft, welche den Unterstützerblog REFUGEE PROTEST CAMP VIENNA zu den absurden Behauptungen veranlasste, »breite Teile der Bevölkerung« hätten sich mit den »Forderungen der Flüchtlinge solidarisiert« und die Proteste hätten eine »Verschiebung« des »Diskurses im Zusammenhang mit der herrschenden Flüchtlings- und Migrationspolitik« eingeleitet. Der nur psychologisch zu erklärende Hang linker Aktivisten, ihre realen Einflussmöglichkeiten zum eigenen Ruhm maßlos zu verklären, fordert auch hier noch seinen Tribut. Geblendet vom medialen Echo des »vieldiskutierten Thema[s]« und vermeintlicher »prominenter Beteiligung«, eingespannt in die Bestätigungsrituale politischer Veranstaltungen, welche mit gutem Gewissen zum Konformismus zwingen, entziehen sich Dynamik und Voraussetzungen des Geschehens einer
kritischen Reflexion.
Die Flüchtlinge, welche buchstäblich um ihre Existenz kämpfen, sehen sich mit der traurigen Realität konfrontiert, dass keine relevante Instanz bereit ist, sich auch nur der Minimalforderung, einer garantierten legalen Aufenthaltsberechtigung und Arbeitsgenehmigung für die Protestierenden, ernsthaft anzunehmen. Dabei haben sie alles Menschenmögliche getan, was unter diesen zermürbenden Umständen möglich ist. Ihr hartnäckiger Einsatz und ihre Überzeugungen fußen nicht auf Einflüsterungen politischer Aktivisten, sondern auf der Erfahrung des Lebens in zerrütteten Gesellschaften, in denen Individuen zum Spielball brutaler Rackets und legaler Gewalt werden. Tatsächlich ist bei vielen Flüchtlingen die begründete Furcht vor dem entfesselten Terror islamistischer Milizen, die Erfahrung wahllosen und ungeahndeten Mordens das primäre Motiv, hier bis an die Grenzen zu gehen, um einer Rückkehr nach Pakistan oder Afghanistan zu entgehen. So schildert in der Zeitschrift Profil ein Flüchtling seine Verfolgung durch pakistanische Taliban, welche mehrere Mitglieder seiner Familie und einen seiner Mitarbeiter ermordeten, ein Bombenattentat auf sein Fotostudio ausführten und ihn schließlich selbst in Islamabad aufspürten und bedrohten. In Gesprächen während der Recherche zu diesem Artikel erzählten mehrere Flüchtlinge von ähnlichen Erfahrungen. Ein 34-jähriger Mann wurde von den Taliban gekidnappt und mehrere Tage auf einem Gelände mit leerstehenden Lagerhäusern festgehalten, welches den Taliban als Gefängnis und Ausbildungscamp diente. Die Gefangenen wurden von den Fanatikern religiös indoktriniert und sollten zu hörigen Gotteskriegern ausgebildet werden. Der Mann flüchtete nach einigen Tagen nachts mit einem Freund aus dem Camp in die Dunkelheit, gejagt von bewaffneten Wachen und Wachhunden. Sein Gefährte wurde auf der Flucht von den Taliban erschossen. Nachdem viele vor der Verfolgung durch Extremisten von Stadt zu Stadt in Pakistan flüchteten ohne Sicherheit zu finden, schien die Flucht in den Westen die einzige Garantie, nicht Opfer von Mord und Gewalt zu werden. Unter den Flüchtlingen ist auch ein Angehöriger der schiitischen Minderheit in Pakistan. Seit 2000 wurden Hunderte Schiiten Opfer von Angriffen und Bombenattentaten sunnitischer Extremisten. Zuletzt starben am 16. Februar 2013 über 80 Menschen bei einem Bombenanschlag auf einen mehrheitlich von Schiiten genutzten Markt in Quetta. »Der Terrorangriff auf die schiitische Hazara-Gemeinschaft zeigt das Scheitern der Geheimdienste und Sicherheitskräfte«, kommentierte laut derStandard.at der Gouverneur der betroffenen Provinz den Anschlag. Ein anderer junger Mann war ein Anhänger der Awami National Party (ANP), eine säkulare und demokratische Partei, welche zu den wenigen verbliebenen politischen Kräften in Pakistan zählt, welche es wagen, die islamischen Extremisten politisch herauszufordern. Über hundert Funktionäre und Anhänger der ANP wurden in den letzten Jahren von islamischen Extremisten ermordet. Nach der militärischen Niederlage der Taliban gegen pakistanische Sicherheitskräfte in der Swat-Provinz 2009 begannen die Taliban mit gezielten Tötungen ihrer Kritiker. Anhänger der ANP und andere politische Gegner aus der Swat-Provinz wurden selbst in der 13-Millionen-Metropole Karatschi aufgespürt und getötet. Am 22. Dezember 2012 wurde Bashir Ahmad Bilour, hochrangiger Funktionär der ANP und prominenter Kritiker der Taliban, bei einem Selbstmordanschlag in Peschawar ermordet. Die Gewalt in Pakistan geht nicht allein von islamischen Extremisten, sondern auch von kriminellen Banden, Milizen politischer Parteien und ethnischen Konflikten aus. Im Sommer 2011 eskalierte die Gewalt in der Metropole Karatschi, als bewaffnete Banden sich heftige Gefechte lieferten und auch wahllos das Feuer gegen Zivilisten eröffneten. Über 300 Menschen, darunter auch Kinder, wurden erschossen. Zum Teil brach die Wasser- und Lebensmittelversorgung zusammen und Einwohner mussten sich tagelang in ihren Wohnungen verstecken. Es sind diese Zustände, die Abwesenheit eines funktionierenden Rechtsstaates, die Unfähigkeit der Sicherheitskräfte, das nackte Leben der Bürger zu schützen, Folter, Verstümmelung sowie Entführungen durch Extremisten, welche Menschen aus Afghanistan und Pakistan dazu treiben, das Land zu verlassen. Man kann den Flüchtlingen in der Votivkirche nur wünschen, dass sich irgendeine unverhoffte Option bietet, die es ihnen letztlich doch ermöglicht, in Europa ein neues Leben zu beginnen.