Was macht eigentlich ... das Proletariat?

Lars Quadfasel über den Zwang, sich das Leben selbst zur Hölle zu machen.

Im zweiten Teil meines Kulturindustrie-Aufsatzes (Versorgerin Nr. 96) verwies ich auf einen neuen Typus kulturindustrieller Identifikation: sich etwas Besseres zu wissen als die armseligen Gestalten, die sich im Fernsehen zum Affen machen. Das wäre zu spezifizieren. Denn die, die in den entsprechenden Reality-Formaten als erziehungsbedürftig (»Supernanny«, »Der Schuldnerberater«), Delinquenten (»Die Gerichtsvollzieher«) oder einfach nur als Deppen (»Frauentausch«, Talkshows und Talentwettbewerbe) vorgeführt werden, sind nicht einfach armselig, sondern auch fast stets Angehörige der so genannten Unterklasse.

Bemerkenswert an diesem Trend, der, wie der Aufsatzsammlung Reality TV and Class zu entnehmen ist, sich nahezu uniform in Europa und den USA durchgesetzt hat, scheint, dass nicht allein die Bourgeoisie die Demütigungen der Deklassierten genießt. Es ist die Unterklasse selbst, die  begeistert zuschaut. Dieser Effekt ist beileibe nicht aufs Fernsehen beschränkt. Sarrazins ganzer Erfolg beruht darauf: Weil da einer auf den Tisch haut, muss er einfach dem ›kleinen Mann‹ aus der Seele sprechen – selbst wenn der Autor aus seiner Verachtung für die Unterschicht gar keinen Hehl macht und den Unproduktiven (für die bei Sarrazin zwar idealtypisch, keinesfalls aber ausschließlich die Muslime einstehen) am liebsten die Kalorienzufuhr drosseln will.

Die einfachste Erklärung für dieses rätselhafte Verhalten mag in dem zu finden sein, was Owen Jones in Prolls beschreibt: in der Zerstörung des Selbstbewusstseins des Proletariats, dessen Degradierung zu (wie es im englischen Original heißt) »Chavs«. Exemplarisch rekapituliert Jones, wie die britische working class, deren Organisationen bis in die 1970er Jahre zu den europaweit stärksten gehörten, im Zuge der Thatcher-Revolution ideologisch und materiell entmachtet wurden. Die gegen massive Proteste durchgesetzten Bergwerksschließungen und Produktionsverlagerungen unterminierten die kollektive Handlungsfähigkeit, und mit dem Niedergang der Gewerkschaften schwand auch die politische Repräsentation des Proletariats: In der Labour-Regierung von 1945 waren unter den Ministern mehrere ehemalige Arbeiter; heute sind, wie überall in der Sozialdemokratie, selbst unter den Parlamentsabgeordneten kaum mehr welche zu finden. Die massive Subventionierung von Eigentumswohnungen ließ die proletarischen Wohnviertel zunehmend verfallen, und Fußballstadien, einstmals fest in der Hand der Arbeiterklasse, wurden zur Bühne, das Bild der teuflischen Unterklasse zu zeichnen: Nach der Katastrophe von Hillsborough, bei der aufgrund falscher Sicherheitsvorkehrungen und inkompetenter Polizeiarbeit 89 Menschen starben, wurde alle Schuld auf die »Tiere« geschoben, welche die Sterbenden bestohlen und auf sie uriniert hätten. Es folgte eine massive Erhöhung der Eintrittspreise, und die Mittelklasse übernahm die Zuschauertribünen.

Zu der wollte, unter Thatcher wie unter Blair, schließlich jeder gehören. Wer sich als Kumpel oder Fließbandarbeiterin stolz zur working class und deren Wertekanon bekannt hatte, identifiziert sich heute als genauso schlecht bezahlte Kassiererin oder Call-Center-Mitarbeiter, als Teil der aufstiegsorientierten Dienstleistungsbranche. Proleten, das sind die anderen, verwahrlost, gewalttätig, sexbesessen und stets über ihre Verhältnisse lebend – und der allgemeinen Verachtung preisgegeben. ›Chavs‹ sind, wie Jones anhand zahlloser Beispiele dokumentiert, die einzige Bevölkerungsgruppe, denen gegenüber man ungestraft seinen Vernichtungsphantasien freien Lauf lassen darf.

Dass, statt zu schweigen und in Sack und Asche zu gehen, die Unterschichten Handys haben und trendige Sportklamotten[1], enragiert den leistungsbereiten Mittelstand dabei besonders. Nicht nur in Großbritannien. In den anderen Industrieländern verläuft das ganze vielleicht nur noch etwas reibungsloser, weniger ideologisch rabiat, und am reibungslosesten in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus. Kathrin Hartmanns Wir müssen leider draußen bleiben führt am deutschen Beispiel vor, wie man die Unterschichten ganz zwanglos in Überflüssige verwandeln kann, ohne Gegenwehr befürchten zu müssen.

Wie enthusiastisch Lohnabhängige ihrer eigenen Enteignung zustimmen können, beschreibt am eindringlichsten der US-amerikanische Autor Thomas Frank. Arme Milliardäre, eine – hierzulande fast undenkbar – stilistisch brillante Sozialreportage, behandelt den konservativen Backlash nach der großen Bankenkrise 2007/08; zu einem Zeitpunkt also, als Obamas Wahl eine historische Linkswende zu signalisieren schien und alle Beobachter davon ausgehen konnten, die neoliberale Trickle-Down-Ökonomie (wenn man den Reichen nur genug Geld nachwirft, wird irgendwann auch unten davon etwas ankommen) sei auf Jahre hinaus erledigt. Stattdessen betrat die Tea Party die Bühne. Sie versprach, die normalen, hart arbeitenden Amerikaner gegen ›die da oben‹ zu vereinen – nämlich die elitären, Latte-trinkenden liberalen Intellektuellen und ihr ›big government‹. Schuld an der Krise sei nicht die Deregulierungsoffensive der letzten Jahrzehnte gewesen, etwa George W. Bushs Entmachtung der Bankenaufsicht, sondern die Tatsache, dass die Marktgesetze nicht noch effektiver durchgesetzt worden seien. Die Wut der Bewegung richtet sich entsprechend gegen den effeminierten »Kindermädchen-Staat«, der den Untüchtigen mit Steuergeldern unter die Arme greife, die Macher aber mit Petitessen wie Arbeits- und Umweltschutzregularien drangsaliere. Insbesondere im Süden und im Mittelwesten, wo es ohne staatliche Transferleistungen wirtschaftlich noch um einiges trister aussähe, erhielten Kandidaten, die versprachen, weitere Steuererleichterungen für die Reichsten durch weitere Einschnitte bei Sozialprogrammen zu finanzieren, bei Wahlen die entscheidenden Stimmen aus dem verarmten weißen Proletariat[2]; ein bizarres Klassenbündnis für die Umverteilung von unten nach oben, das seinen spektakulären Höhepunkt in einer großen Spendenkampagne für die amerikanische Handelskammer fand.

Frank zufolge sei es der Tea-Party-Bewegung gelungen, die allgemeine Wut über die staatliche Bankenrettung in ihre Bahnen umzuleiten. In der Tat sprechen Symbolfiguren wie Sarah Palin gerne von der »sozialistischen Wirtschaftspolitik«, die Obama im Auftrag von Wall Street betreibe. Aber die Popularität der Forderung, die Versager pleite gehen zu lassen, kann das nur bedingt erklären: Den Unterschied zwischen einem Finanzinstitut, das seine Spekulationsverluste sozialisieren lässt, und einer Familie, die aufgrund des Zusammenbruchs des Hypothekenmarkts ihre Ersparnisse verliert, muss man schon übersehen wollen.

Plausibler erscheint eine zweite Überlegung Franks. Der Triumph der Wutbürger, schreibt er, sei auch eine Reaktion darauf, dass aus Obama eben kein zweiter Roosevelt geworden sei. Die Linksliberalen, endlich wieder an der Regierung, wursteln sich durch; die Rechte aber hat Visionen. An irgend etwas muss der Mensch ja glauben; warum also nicht an die heilige Kraft des Kapitals? Wer als Durchschnittsverdiener seine zehn oder zwanzig Dollar an die Handelskammer überweist, erwartet ja nicht, einen materiellen Unterschied zu machen. Er verübt eine kultische Handlung: eine Opfergabe, die Götter des Marktes gnädig zu stimmen. Und Grund dazu haben alle, denn alle erfahren in der Krise, was sie zu verlieren haben – ihren Job, ihre Stütze oder ihre Bonuszahlungen.

Was Frank, Jones und Hartmann nahelegen, ist, dass es unter den herrschenden Verhältnissen auch ganz anders ginge, die glorreichen Tage des New Deal und der Bergarbeiterstreiks jederzeit wiederkehren könnten. Aber die Degradierung des Proletariats ist, obgleich selbstverständlich politisch gewollt, doch zugleich naturwüchsiger Prozess. Was die rabiaten Klassenkämpfer Reagan und Thatcher ins Werk setzten, vollzog sich beinahe identisch auch unter der Volksfrontregierung Mitterands. Wie die diversen, selbst schon wieder desavouierten Dienstleistungs-, Finanzspekulations- und Dotcom-Euphorien stellen die Entmachtung der Gewerkschaften und die Deregulation des Sozialstaats bloß den Reflex auf die Tatsache dar, dass die Verwertung im industriellen Sektor an ihre kapitale Grenze stößt, was weder durch keynesianische Stützung noch auch durch Verwohlfeilung der Arbeitskraft auf Dauer zu überwinden ist.

In gewisser Hinsicht hat das für revolutionäre Theorie auch eine Befreiung bedeutet: Sie muss sich nicht mehr beständig daran relativieren, was als Bewusstseinsstand des Proletariats gilt. Dessen regressive Momente werden besonders bei Jones deutlich. Nostalgisch erinnert er in Prolls an die alten Arbeitermilieus, in denen Tugenden wie Bescheidenheit noch gepflegt wurden und der Zusammenhalt als soziale Kontrollinstanz wirkte, um Exzesse wie die jüngsten riots im Keim zu ersticken. Die wehmütige Beschwörung der Goldenen Jahre des Keynesianismus tut stets so, als seien ein Spitzensteuersatz über 50% das, wofür die Commune gestorben sei; und als wären gesicherte Arbeitsplätze am Fließband und in den Bergwerken ein Lebensziel statt etwas, dem freie Menschen keine Träne nachweinen sollten.

In der Praxis wurde die Linke freilich nur hipper und alerter, aber nicht klüger. Der annoncierte »Abschied vom Proletariat« und die Hinwendung zu den Neuen Sozialen Bewegungen war Abkehr vom Proletkult nur insofern, als man ein besseres Kultobjekt gefunden hatte – je nach Steckenpferd die Ökologie, den Diskurs oder die Menschenrechte. So wichtige Fortschritte die Frauen-, Schwulen- oder Dritte-Welt-Bewegungen bewirkten, so sehr haben sie zugleich auch die Wahrnehmung begünstigt, Herrschaft sei allein eine Frage des korrekten oder unkorrekten Verhaltens – und dabei haben Mittelstandskinder natürlich einen Startvorteil. Als solche fordern sie, die Termini Rassismus und Sexismus um den des »Klassismus« ergänzend, dazu auf, das Proletariat nicht etwa aufzuheben, sondern vielmehr, wie jede andere Identität auch, respektvoll zu behandeln; während ihnen zugleich im beständigen Distinktionswettlauf um den versiertesten Theorie-, Musik- und Subver-sionsgeschmack der ungebildete Proll die Negativfolie abgeben darf.[3]

Die Auflösung des Falschen hat, in der Linken wie gesamtgesellschaftlich, nicht dem Richtigen zum Durchbruch verholfen, sondern nur dem noch Schlechteren. Der allgemeine Trend, so versichern die Sozialwissenschaftler, gehe zur Individualisierung, kollektive Bindungen hätten ausgespielt. Aber als das noch denkbar erschien, bot just die gemeinsame Praxis (als Arbeiter, Studenten, Lehrlinge) die Gelegenheit zur individuellen Entfaltung: Sie überwand die Angst vor denen, denen der Einzelne ausgeliefert bliebe. So miefig und erdrückend proletarische Milieus, mit ihrer Orientierung am Kleinbürgertum, gewesen sein mögen, umso erdrückender ist heute die Isolation an der Kasse, als Altenpfleger oder als Dauerpraktikantin; und erst recht, blickt man über die Metropolen hinaus in den Trikont, wo die, die überhaupt noch ausgebeutet werden, sich glücklich zu schätzen haben.

Unter solchen Bedingungen bekommt das Nachdenken über Klasse leicht etwas Weltloses. Die Autoren von Über Marx hinaus, des derzeit wohl avanciertesten Sammelbands zur Neubestimmung von Klassenbegriff und -zusammensetzung, kritisieren Marx dahingehend, seine Theorie habe, allzu deterministisch, der revolutionären Subjektivität zu wenig Raum gelassen. Wo aber sollte die – unter Bedingungen, unter denen die meisten Lohnabhängigen sich kaum je trauen, auch nur freundlich nach ihren Rechten zu fragen – auf einmal herkommen? Ganz umgekehrt argumentiert die »Neue Marx-Lektüre«: Wenn Marx von Proletariat spreche, so Sven Ellmers, sei das rein formanalytisch zu verstehen. Ganz glücklich macht einen das auch nicht. Zweifellos stehen sich Bourgeoisie und Proletariat nicht äußerlich gegenüber, sondern sind durchs synthetisierende Dritte, den Wert, hindurch gesetzt; zweifellos auch ist das Kapital ein Verhältnis, das alle Beteiligten mit jedem Warentausch, auch dem von Arbeitskraft gegen Lohn, reproduzieren. Und dennoch indiziert der Begriff des Proletariats bei Marx zugleich mehr: die Erfahrung von Herrschaft. Wer diesen Überschuss nicht austreiben und doch auch nicht die Empörung als quasi naturgegeben voraussetzen will, hätte begrifflich festzuhalten, was Klassenherrschaft heute heißt: der Zwang, sich das Leben selbst zur Hölle zu machen.

Literatur

Sven Ellmers, Die formanalytische Klassentheorie von Karl Marx. Ein Beitrag zur »neuen Marx-Lektüre«. Duisburg: Universitätsverl. Rhein-Ruhr 2009, 130 S., 14,95 Euro
Thomas Frank, Arme Milliardäre! Der große Bluff oder Wie die amerikanische Rechte aus der Krise Kapital schlägt. München: Kunstmann, 2012, 222 S., 18,95 Euro
Kathrin Hartmann, Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. München: Blessing, 2012, 415 S., 18,95 Euro
Owen Jones, Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse. Mainz: VAT, 2012, 314 S., 18,90 Euro
Marcel van der Linden / Karl-Heinz Roth, Über Marx hinaus. Hamburg: Assoziation A, 2011, 605 S., 29,80 Euro
Helen Wood / Beverley Skeggs, Reality Television and Class. Houndmills: Palgrave Macmillan, 2011, 254 S., £ 20,99

[1] Zum Chav-Stereotyp gehört zwingend das unter Arbeiterjugendlichen beliebte Burberry-Outfit.
[2] Und zwar weitgehend ohne die christlich-fundamentalistischen Moralkampagnen, die in der Vergangenheit für die Loyalität der Wähler gesorgt hatten. Konservative Angriffe auf Frauen- und Schwulenrechte sorgten 2010/12 für mehrere desaströse Niederlagen; was die republikanischen Abgeordneten, die klugerweise den Mund gehalten hatten, natürlich nicht daran hinderte, in den Landesparlamenten, in denen sie die Mehrheit hielten, so viele Anti-Abtreibungs-Gesetze wie noch nie in der US-amerikanischen Geschichte zu verabschieden.
[3] Linke und Mainstreammedien pflegen beide gerne das Bild der sexistischen und xenophoben Unterschichtsangehörigen; in Großbritannien wurde der Fall Jane Goody, einer Big-Brother-Kandidatin, die eine indische Mitbewerberin rassistisch beleidigte, zum nationalen Gesprächsgegenstand. Keine Frage, dass Ressentiments unter den Deklassierten nicht selten besonders ungefiltert hervorbrechen. Nur könnten Kritiker in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Asylgesetze selten von Hilfsarbeitern geschrieben werden. Nur wer Macht hat, kann sie auch ausüben.