Rehabilitierung mit Abstrichen

Vor zehn Jahren, am 1. März 2012, trat das Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz für die Justizopfer des Austrofaschismus in Kraft. Paul Schuberth hat den Historiker Florian Wenninger dazu befragt.

Bevor wir auf das Gesetz zu sprechen kommen, wäre zum besseren Verständnis vielleicht ein kurzer Überblick zu politischer Repression und Verfolgung zur Zeit des Austrofaschismus hilfreich. Wie stellte sich Repression und politische Verfolgung zur Zeit des Austrofaschismus dar, und welche Gruppen waren davon betroffen?

Dazu gibt es eine kurze und eine etwas längere Antwort. Die kurze Antwort ist, dass die Repressionspolitik unterm Austrofaschismus bis heute unzureichend erforscht ist. Es gibt ein paar Eckdaten, die bekannt sind. Grundsätzlich ist es so, dass auf Basis des Notverordnungsregimes der Spielraum für die Opposition ab dem März 1933 systematisch beschnitten wird; dass die Auflösung oder Einschränkung der Versammlungsfreiheit, die Auflösung von Vereinen, die Beschlagnahme von Vereinsbesitz, die Zerstörung von Gütern Formen der Repression darstellen. Individuell wird die Repression vor allem mit dem Verbot des Republikanischen Schutzbundes, der Freidenker und der Kommunistischen Partei. Aber es gibt natürlich auch eine Repression gegenüber dem nationalsozialistischen Rivalen, nachdem dieser ab 1933 auch zunehmend beginnt, Gewalt gegen rechte Gruppierungen anzuwenden, während er bis dahin praktisch ausschließlich Linke attackiert hatte; der Unterschied ist aber, dass mit der NSDAP – bekanntlich bis zum Juli 1934 und dann relativ rasch auch anschließend an das Dollfuß-Attentat wieder – Verhandlungen gepflogen werden, um sie ins Regime zu integrieren. Während man gegen die Linke durchgehend hart vorgeht und es solche Verständigungsversuche nicht gibt – sieht man jetzt einmal von einzelnen Testballons ab, die aber mehr oder weniger Imagepflege sind. Wie schaut die Repression im Detail aus? Ab Mitte 1933 werden auch Einzelpersonen von der Polizei zunehmend ins Visier genommen. Es kommt auf der einen Seite zu präventiven Anhaltungen, für die kein Gerichtsverfahren notwendig ist; Leute werden in Haft genommen, um allfälligen politisch motivierten Straftaten vorzubeugen. Für Männer werden Anhaltelager eingerichtet, Frauen werden in Polizeiarrest und in Einrichtungen der Landesgerichte festgehalten. Eine große Verhaftungswelle setzt im Jänner 1934 ein, also in dem Moment, in dem sich der austrofaschistische Staatsstreich seiner Vollendung nähert, und damit auch das Risiko von Gewalttaten ein letztes Mal steigt. Im Jänner und Anfang Februar werden die Führungskader des Schutzbundes verhaftet. Im Zuge der Februarkämpfe werden dann allein in Wien etwa 10.000 Menschen festgenommen. Wie viele es im gesamten Bundesgebiet sind, wissen wir nicht, denn es gibt keine vollständige Aktenüberlieferung. Aber es ist wohl von mindestens nochmal 3.000 Verhafteten in den Bundesländern auszugehen. Ein Teil von ihnen wird vor Gericht gestellt. Sowohl die Standgerichtsverfahren als auch der Prozess gegen die im Vorfeld der Kämpfe festgesetzte Schutzbundführung haben den Charakter von Schauprozessen. Die Standgerichte fällen dutzende Todesurteile, von denen immerhin neun vollstreckt werden. Schauprozesse gibt es übrigens auch später noch, vor allem den „großen“ Sozialistenprozess 1936, in dem ja auch Bruno Kreisky abgeurteilt wird. Neben diesen Schauverfahren, gibt es eine Vielzahl von kleinen Verfahren, wobei man nicht übersehen darf, dass auch die mit Rechtsstaatlichkeit wenig zu tun hatten. Der Austrofaschismus legt Wert darauf, politisch genehme Richter mit der Ahndung von politischen Vergehen zu beauftragen, und politisch zweifelhafte Richter möglichst unter Druck zu setzen. Die Unversetzbarkeit von Richtern wird bekanntlich aufgehoben. Wir beobachten, dass an den großen Gerichtsstandorten, also vor allem an den Landesgerichten 1 und 2 in Wien, nach Möglichkeit immer denselben Richtern politische Verfahren zugewiesen werden. Das heißt, es gibt eindeutig eine politische Justiz.  Aber es ist nicht die Justiz alleine, die politisch Unliebsame unter Druck setzt. Einerseits gibt es noch einen Verwaltungsstrafapparat: Die Polizei verhängt unabhängig von der Justiz eigene Strafen. Es kommt also oft auch zu Mehrfachbestrafungen. Es gibt den Entzug der Staatsbürgerschaften: Geflüchtete Schutzbündler, und auch Leute, die zur Legion, also zur SA nach Deutschland gehen, werden ausgebürgert. Weil das Regime der Richterschaft nicht traut, wird gegen die Juliputschisten 1934 vor Militärgerichten verhandelt, auch die verhängen mehrere Todesurteile, die teils auch vollstreckt werden Zusammenfassend: Es gibt eine tödliche Dimension dieser Repression, es gibt eine politische Justiz, es gibt Schauverfahren, es gibt Polizei- und Verwaltungsstrafen. All das vollzieht sich zeitlich in Wellen, die Zügel werden nach Bedarf gelockert oder angezogen. Von den tausenden Festgenommenen des Februars 1934 ist der Großteil nach einem halben Jahr wieder frei. Auch ein Gutteil der gerichtlich Abgeurteilten wird in den Weihnachtsamnestien 1934 und 1935 durch den Bundespräsidenten begnadigt. Allerdings schlägt sofort wieder die Staatlichkeit zu, sobald die Menschen wieder unliebsam in Erscheinung treten, sprich sich politisch betätigen.
Abseits der justiziellen Verfolgung gibt es auch etwas, das man als soziale Repression werten müsste: Menschen wird die Pension gestrichen, sie werden aus der kommunalen Fürsorge geworfen, sie werden aus ihren gemeindeeigenen Wohnungen weggewiesen, sie verlieren ihre Arbeitsplätze in Gemeinde- und Staatsbetrieben, aber auch in Privatunternehmen. Es gibt also ein breitgefächertes Spektrum von Repression, zu dem nicht zuletzt auch alltägliche Gängelung gehört: Menschen werden nicht in Haft genommen, bekommen keine Polizeistrafen, werden aber z.B. auf der Straße mutwillig angehalten und mit auf den Polizeiposten genommen. Mal geht das glimpflich aus und sie dürfen nach einer Weile wieder gehen, mal beziehen sie Schläge. Manchmal wird ihnen aufgetragen, sich jeden Tag zu bestimmten Uhrzeiten pünktlich beim Polizeiposten zu melden. Die Staatsmacht führt den Menschen also auf vielerlei Ebenen ihre eigene Machtlosigkeit vor Augen. In Summe sollen die Leute so dazu gebracht werden, den Kopf unten zu halten,  passiv zu bleiben. Un diese Strategie hat auch einigen

Welche Initiative steht hinter dem Rehabilitierungsgesetz – und warum kam sie so spät?

Die Forderung nach Aufhebung der Februarjustizurteile kam, denke ich, aus zwei Gründen spät. Der eine Grund ist, dass man sich juristisch ja mit der Generalamnestie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit der auch Übergriffe gegen Nationalsozialisten im Nachhinein außer Verfolgung gesetzt wurden, auf den Standpunkt stellen konnte, dass diese Urteile für nichtig erklärt worden sind. Eine Amnestie, also ein Strafnachlass, stellt bei eingehenderer Betrachtung aber natürlich keine Aufhebung der Urteile dar, damit bleibt die Rechtmäßigkeit der Urteile unbestritten. Eine Aufhebung der Urteile und damit die Feststellung des Unrechtscharakters der Verfolgung war politisch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten aber nicht durchsetzbar. In den 2000er  wurden dann die letzten Urteile der NS-Unrechts-Justiz, konkret der Militärjustiz, aufgehoben. Die standrechtlich hingerichteten Februarkämpfer blieben weiterhin verurteilte Verbrecher. Dieser Widerspruch stieß vielen Menschen sauer auf. Hinter der Aufhebungsinitiative 2009 stand eine Plattform von 97 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich an den Nationalrat, die Bundesregierung und den Bundespräsidenten mit der Forderung gewandt haben, die Urteile gegen DemokratInnen aufzuheben und den Verurteilten statt dessen ein Denkmal zu widmen.
SPÖ und Grüne haben das aufgegriffen, auch die ÖVP hat sich dann erstmals verhandlungsbereit gezeigt. Es bedurfte allerdings zwei Jahre ziemlich zäher Verhandlungen zwischen den beiden Regierungsparteien [damals SPÖ und ÖVP, Anm.], an deren Ende ein eher fragwürdiger Kompromiss stand, weil sich die Sozialdemokratie damals nicht wegen einer symbolpolitischen Frage auf einen Infight mit der ÖVP einlassen wollte.

Welche Art der Rehabilitierung ist im Gesetz vorgesehen – ist sie primär symbolisch oder können/konnten Betroffene oder deren Angehörige auch einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen geltend machen?

Es war der ÖVP ein ganz großes Anliegen in den Verhandlungen um dieses Gesetz, frühzeitig außer Streit zu stellen, dass zwei Dinge nicht geschehen dürfen: Erstens, dass Entschädigungszahlungen in Anspruch genommen werden können, und zweitens, dass von den Nachkommen von Geflüchteten Ansprüche auf die Staatsbürgerschaft erhoben werden können. Beides hat die SPÖ akzeptiert. Es gab tatsächlich Anfragen an uns als Forscherinnen. Nachkommen aus Mexiko, aus Argentinien, auch aus der ehemaligen Sowjetunion. Allen musste man sagen: Tut uns leid.

Im Initiativantrag zum Gesetz findet sich diese Passage: Ein Verurteilter, der „eine konkrete Diktatur – welcher Art auch immer – befürwortete, [kann] nicht rehabilitiert werden.“ Diese Einschränkung wurde wohl getroffen, um verfolgte Nationalsozialist/innen von einer möglichen Rehabilitierung auszuschließen. Doch die weitgefasste Formulierung legt nahe, dass damit auch Kommunist/innen gemeint sein könnten. Ist dem so?

In den genannten zwei Jahren der Verhandlungen hat die ÖVP immer wieder bestimmte Punkte moniert. Eine Sache, die ihr ganz wichtig war, war am Anfang klarzustellen, dass Personen, die Gewalt angewandt haben, nicht rehabilitiert werden sollen. Das war insofern natürlich etwas ironisch, als von Beginn an sehr klar war, dass das Gros der zu Rehabilitierenden Leute waren, die im Zuge der Februarkämpfe festgenommen wurden. Die also selbst Gewalt angewandt haben oder zumindest „Beitragstäter“ waren, um Widerstand gegen die Liquidierung von Demokratie und Republik zu leisten. Streng genommen hätte man die also von der Rehabilitierung ausgenommen. Im Zuge der Verhandlungen hat sich das dahingehend etwas gelockert, dass sich die Passage nicht im Gesetz findet, sondern in den Ausführungsbestimmungen. Sie hat also streng genommen keinen Gesetzescharakter. Nachdem für die Anwendung des Gesetzes das Straflandesgericht Wien zuständig ist, haben wir einen ganz guten Überblick, wie im entsprechenden Antragsverfahren mit dem Gewaltthema umgegangen wird, und wir können sagen: In der Praxis spielt es keine Rolle, weil das Gericht durchaus korrekt das Motiv hinter dem Gesetz anwendet. Die zweite Sache, die die ÖVP erfolgreich hineinreklamiert hat, ist ein Zitat aus dem Opferfürsorgegesetz. Dass nämlich nur jene Personen für eine Rehabilitierung in Betracht kommen, die sich für „ein freies und seiner Geschichte bewusstes Österreich“ eingesetzt haben. Hier wird retrospektiv ein Österreichnationalismus zur Voraussetzung einer Rehabilitierung, den in dieser Form selbst das Regime nicht gepflogen hat, das sich ja natürlich als ein deutsches Regime empfunden und inszeniert hat. Aber streng genommen könnte man sich da auf den Standpunkt stellen: Die Revolutionären Sozialisten haben den Anschluss eines demokratischen Österreichs an ein demokratisches Deutschland im Untergrund weiterhin befürwortet, und dementsprechend sind sie von einer Rehabilitierung auszunehmen. Auch in diesem Fall hat das zuständige Gericht das bisher nicht berücksichtigt. Der Gesetzestext ist aber natürlich trotzdem im Grunde inakzeptabel.

Historiker/innen machten schon 2012 darauf aufmerksam, dass der Personenkreis, für den das Gesetz relevant sein könnte, relativ eng gefasst ist. Zum Beispiel wurden Strafverfügungen, die auf Polizeiarrest oder Geldstrafen lauteten und nach Verwaltungsstrafrecht ergingen, nicht aufgehoben. Welche weiteren Schwachpunkte können Sie ausmachen? Ist die Hoffnung realistisch, dass das Gesetz in absehbarer Zeit eine Verbesserung erfährt?

Eine Forderung habe ich schon genannt: Die Rücknahme der Entziehung der Staatsbürgerschaft und die Möglichkeit für Nachkommen von geflohenen Schutzbündlern und deren Angehörigen, Anträge auf Verleihung der Staatsbürgerschaft zu stellen. Eine zweite Sache betrifft alle Verwaltungsmaßnahmen abseits der Anhaltung, bzw. auch die erwähnten sozialen Formen von Repression wie zum Beispiel Arbeitsplatzverlust. Die kann man nicht mehr rückgängig machen, aber man kann sie als Unrecht deklarieren. Eine dritte Sache, die die ÖVP versucht hat zu verhindern, und die auf eine Halblösung hinausgelaufen ist, war: Die ÖVP wollte die Aufhebung der Urteile, aber sie wollten nicht, dass den Betroffenen Dank und Anerkennung im Namen der Republik für ihre Widerstandshandlungen ausgesprochen wird. Schlussendlich ist die ÖVP davon zum Teil abgerückt, und im Gesetz wird nun, sozusagen pauschal, die „Achtung“ der Republik ausgesprochen. In der individuellen Rehabilitierung, die durch Nachkommen beantragt werden kann, wird aber mehr oder weniger nur in einem dürren Schreiben mitgeteilt, dass das Urteil als aufgehoben beziehungsweise als nicht erfolgt zu betrachten sei. Das hat also wenig festlichen, wenig offiziösen Charakter. Es kommt wie ein Strafzettel daher, wie ein möglichst unpersönliches Schreiben einer Verwaltungsbehörde. Und ich denke, dass das dem Anlass nicht angemessen ist. Menschen haben ihr Leben für eine demokratische Grundordnung riskiert, der sich heute alle verpflichtet fühlen. Dem sollte Rechnung getragen werden. Ich glaube, dass das nicht nur für die Nachkommen wichtig wäre, sondern dass das allgemein ein wichtiger Schritt in einer demokratischen Geschichtspolitik wäre. Und zur Hoffnung auf Verbesserung: Interessanterweise gab es mehrmals Initiativen aus dem Justizapparat, es war also Juristinnen und Juristen ein Anliegen, hier eine saubere Lösung herbeizuführen. Unter Minister Brandstätter wurde daraus aber nichts. Als dann Alma Zadić Justizministerin geworden ist, haben wir gehofft, dass das besser wird. Man muss leider sagen: Da hat man andere Prioritäten, als ich in dieser Sache mit der ÖVP auseinanderzusetzen. Es ist auch dem Kabinett klar, dass das Gesetz weiterhin eine Baustelle ist, nur folgen daraus keine Konsequenzen.

In einem Artikel von 2012 schrieben Sie, dass die wahren Ausmaße der Repression noch unbekannt seien. In der Zwischenzeit haben Sie den Verein zur Erforschung der Repressionsmaßnahmen des österreichischen Regimes 1933-1938 gegründet und leiten aktuell Forschungsprojekte zum Thema. Welche Fortschritte gibt es in der historischen Forschung?

Es gab ja einen – dieses Wort ist dieser Tage etwas in Verruf geraten – Sideletter zu diesem Gesetz. Dieser beinhaltete die Vereinbarung, ein Forschungsprojekt in Auftrag zu geben, um zu klären, für wen dieses Gesetz überhaupt gilt. Man kannte namentlich nur einen kleinen Teil derer, die betroffen waren, und das Projekt hätte klären sollen, für welchen Personenkreis dieses Gesetz überhaupt anzuwenden ist. Am Tag nach dem einstimmigen Nationalratsbeschluss hat die ÖVP diese Vereinbarung über dieses Forschungsprojekt vergessen. Und die SPÖ hat nicht insistiert. Es war eine Hol- und eine Bringschuld. Daraufhin haben die Universitäten und die zeitgeschichtlichen Institute in Zusammenarbeit mit mehreren außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die sich auf die Durchführung des Projektes schon vorbereitet hatten, einen Forschungsverbund gegründet, um diese Forschung zu koordinieren. Und dieser Forschungsverbund, der „Verein für Repressionsforschung“, hat dann statt eines großen Projektauftrages viele kleine Forschungsanträge gestellt, um seinen ursprünglichen Zweck eben in Modulen abzuarbeiten. Die beschränkten Mittel und diese prekäre Arbeit machten es notwendig, die Forschungsarbeit stark einzugrenzen. Man hat sich also auf justizielle und polizeiliche Repressionsmaßnahmen fokussiert, wobei klar war, dass in beiden Fällen nur die Spitze des Eisberges abbildbar ist. Warum? Weil schon die Verfahren an den Landesgerichten und den Kreisgerichten viel mehr waren, als ursprünglich angenommen worden war. Am ehesten hatten ja die Landesarchive im Blick, wie viele Verfahren in Frage kommen. Das niederösterreichische Landesarchiv ist etwa von ungefähr 700 Betroffenen ausgegangen. Nachdem wir die Akten der vier Kreisgerichte durch hatten, waren es schlussendlich 7000, also zehnmal so viel. Und da schon die Kreisgerichte derartig viel Verfahren durchgeführt hatten, war klar, dass wir zu den Bezirksgerichten gar nicht kommen. Wir können nur Verfahren erforschen, die ein bisschen prominentere Ausmaße haben. Kleinere Strafverfahren, etwa weil jemand die Pfingstprozession nicht gegrüßt oder sich abfällig über Proponenten des Regimes geäußert hat, die auch unangenehme Folgen haben konnten, aber vor den Bezirksgerichten abgehandelt wurden, erfassen wir nur stichprobenartig. Wir erfassen auch nicht solche Strafen, für die es keine polizeilichen Bescheide gegeben hat. Und last not least, was wir überhaupt nicht abbilden, sind alle sozialrechtlichen Drangsalierungen. Wir recherchieren nicht: Wegweisungen aus dem kommunalen Wohnbau, Entzug von Eigentum oder sozialrechtlichen Ansprüchen, das Einfrieren von Pensionen und so weiter. Wir recherchieren nur Verfahren von Landes- und Kreisgerichten und zentraldokumentierte polizeiliche Maßnahmen, die über das Innenministerium und die dortige Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit gelaufen sind. Das dokumentieren wir. Und das ist schon viel mehr, als ursprünglich erwartet worden war. Zur Veranschaulichung: Obwohl in mehreren Landes- und Kreisgerichten ein Gutteil der Gerichtsakten überhaupt nicht mehr da ist, wir also gar nie erfahren werden, wie hoch die Gesamtzahl politisch motivierter Verfahren war, halten wir alles in allem momentan bei über 30.000 Betroffenen – Linke wie Nazis. Was wir auch sagen können, ist, dass – obwohl das Regime gegen Nationalsozialisten eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik fuhr, also auf der einen Seite immer wieder Integrationsangebote eröffnet und so letztlich die Infiltration staatlicher Institutionen und auch der Vaterländischen Front durch Nationalsozialisten gezielt fördert –  die Polizei weiterhin den Auftrag hat, allzu offenes Agieren von Nationalsozialisten hintanzuhalten. Und diesem Auftrag kommt die Polizei auch wirklich bis in den März 1938 nach. Was wir wissen, ist, dass auf Basis der Erfahrungen, die wir aus Niederösterreich und Oberösterreich haben, in den Bundesländern ungefähr zwei Drittel der Verfahren gegen Nationalsozialisten geführt wurden und ein Drittel gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. Wir schätzen, dass wir am Ende bei etwa 45.000 Personen zu liegen kommen werden. Wie gesagt werden auch in dieser Zahl viele von denen, die man ein paar Tage eingesperrt hat, die man geschlagen hat, die man aufgefordert, hat sich zu melden und so weiter –nicht enthalten sein.

Wie beurteilen Sie die direkten praktischen, aber auch die indirekten Folgen des Gesetzes – im Sinne eines möglichen Einflusses auf die gesellschaftliche Debatte über den Austrofaschismus?

Auch dazu gab es eine Diskussion während der Verhandlungen über das Gesetz. Im Zuge von Schwarz/Blau I wurden Entschädigungszahlungen für NS-Opfer mit Entschädigungszahlungen für die sogenannten Trümmerfrauen kombiniert. Und damals gab es große Inseratenkampagnen und Radiodurchsagen der Bundesregierung, um Leute dazu zu bringen, Anträge zu stellen und sich „ihr“ Geld abzuholen. Die Bundesregierung hat also ziemlich viel Geld in die Hand genommen, um die Information, dass es materielle „Wiedergutmachung“ gibt, bekanntzumachen. Ähnliches wurde im Zuge der Verhandlungen über das Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz angeregt, also zumindest öffentlich bekanntzugeben, dass es diese Rehabilitierung gibt und man sie beantragen kann. Das war natürlich alles ein Ding der Unmöglichkeit. Und selbst wenn: dann flattert halt irgendwann ein dürrer Dreizeiler ins Haus, dass die Repression als nicht erfolgt gelte. Trotzdem glaube ich, dass der symbolische Schritt wichtig war, denn dieser symbolische Schritt hat auch Eingang in den Schulunterricht gefunden. Kinder werden im Bewusstsein erzogen, dass der Staat den Unrechtscharakter dieser Maßnahmen, ja der Diktatur insgesamt festgestellt hat. Eine darüberhinausgehende größere Öffentlichkeit hat das aber nicht gefunden. Es handelt sich auf der einen Seite um ein schweres Versäumnis der damals handelnden Personen, die hinter dieser Rehabilitierung standen, und auf der anderen Seite um einen Erfolg der Verschleppungstaktik derer, die in Wahrheit diese Rehabilitierung nicht wollten.

Ist es verfrüht, die Aussagen von Bundeskanzler Nehammer und Innenminister Karner, wonach sie mit dem Begriff „Austrofaschismus“ kein Problem hätten, als Abkehr von der jahrzehntelangen Abgrenzungsschwäche zu deuten?

Ich glaube, dass die „Ständestaat“-Nostalgie in der ÖVP immer ein Anliegen von einigen durchaus mächtigen Einflussgruppen war. Eine zentrale Institution hinter dem Dollfuß-Kult war etwa der niederösterreichische Bauernbund, aus dem Dollfuß kam. Eine zweite Einflussgruppe – dort regt sich übrigens jetzt auch Widerstand gegen diese Rehabilitierung – war der Cartellverband, der in Teilen eine austrofaschistische Traditionspflege betrieben hat. Der Fairness halber muss man aber sagen, dass es da auch im CV unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven gibt. Ich war auch in CV-Verbindungen zu Gast, wo es durchaus wenig Verständnis gab für irgendwelche Nostalgien. Aber zum Beispiel die Franko Bavaria, deren Mitglied Dollfuß war, huldigt nach wie vor einem Dollfußkult. Beide Gruppierungen, also sowohl der Bauernbund als auch der Cartellverband, haben allerdings innerparteilich an Einfluss verloren, wenn man es mit den 60er- und 70er-Jahren vergleicht. Zudem kam esnatürlich auch in diesen Institutionen zu einem Generationenwechsel. Die Entideologisierung ist nicht nur ein Phänomen, das die politische Linke, sondern auch die politische Rechte trifft. Politiker wie Sebastian Kurz oder Karl Nehammer stehen auf keinem theoretisch elaborierten Fundament, sind wohl auch nicht groß geschichtsinteressiert. Sie haben in erster Linie einen funktionalen Blick auf die Vergangenheit: wo kann man die nützen, um das eigene Image zu pflegen? Das christlich-soziale Erbe hat bis in die Anfänge der Zweiten Republik auf einem antisemitischen Fundament gestanden; und plötzlich entdeckt die ÖVP in den letzten Jahren das christlich-jüdische Abendland als Bezugspunkt, will den Kampf gegen Antisemitismus aufnehmen, und ignoriert ihre eigene Historie dabei völlig. Man entledigt sich mit einer beeindruckenden Nonchalance jeder Verantwortung für die politische Tradition, in der man steht. Und ähnlich nonchalant geht man mit lang bekämpften und lang verteidigten Begriffen wie Austrofaschismus und Ständestaat um. Ich glaube, Herrn Nehammer und Herrn Karner ist es in Wirklichkeit egal; sie wollen gerne das Thema vom Tisch haben. Und wenn man noch die Möglichkeit hat, dem politischen Gegner „eines mitzugeben“, indem man auch völlig ahistorisch versucht, dessen Vergangenheit mit in den Abgrund zu reißen, indem man drauf hinweist, dass es ja beides gegeben habe, Austrofaschismus und Austromarxismus – ganz so, als sei das gleichwertig -  dann versucht man das natürlich. Aber es gibt hier keine irgendwie mit Informationen oder Ableitungen unterfütterte Annahmen über die Vergangenheit.

Eine Sache würde ich gern ergänzen, weil sie mich nach dem Gesinnungswandel in der ÖVP gefragt haben, und ich da eher pessimistisch bin. Hier glaube ich also nicht an einen Gesinnungswandel, sondern nur an eine Entideologisierung, an eine Entsorgung der Vergangenheit. Wo mir hingegen schon vorkommt, dass es zu einer Verschiebung gekommen ist, das ist in einer breiteren Öffentlichkeit. Die ÖVP entsorgt dieses Kapitel – oder würde es gerne entsorgen – ja auch deshalb, weil das „da draußen“ ja kaum noch jemand versteht; weil kaum noch jemand das Festhalten an einer offensichtlich diktatorischen, hochverräterischen Aktion in Richtung Staatsstreich 1933/1934 nachvollziehen kann. Das sehe ich als eine positive Entwicklung der letzten 20 Jahre. Ich glaube, dass ein demokratischeres Geschichtsbewusstsein Platz gegriffen hat. Nicht nur, weil es einen klaren Konsens gibt, dass dem Nationalsozialismus nichts Positives innewohnt, sondern auch weil diktatorische Regime per se stärker als früher abgelehnt werden. Das trifft eben auch das Dollfuß/Schuschnigg-Regime.