»Warum wollte man mich umbringen?«

Mit »Vom Hass zum Genozid« liegt Léon Poliakovs frühe Studie über die Shoah nun erstmals auf Deutsch vor. Anselm Meyer schreibt über Entstehung, Inhalt und Bedeutung des Buches.

Gilt für die Geschichtswissenschaft, dass das Nächstvergangene das am schwersten zu erkennende ist, vergehen normalerweise erst einige Jahrzehnte, bis die zeitgeschichtliche Forschung sich an die Aufklärung und Deutung der Ereignisse macht, so galt dies nicht für die Shoah. Noch während die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in vollem Gange war, wurde der Grundstein für die spätere Holocaust-Forschung gelegt. Der Historiker Emmanuel Ringelblum erstellte, noch während er im Warschauer Ghetto sein Dasein fristen musste, ein erstes Archiv über die Ereignisse und Vorgänge im Ghetto. Alles aufzuschreiben, alles für die Nachwelt zu dokumentieren und damit an die Opfer zu erinnern, war das Credo der frühen – jüdischen – Forschung. Direkt nach Kriegsende begann vielerorts und aus vielen verschiedenen Federn eine systematische, geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der jüngsten und schlimmsten Tragödie in der an Tragödien reichen Geschichte des Judentums. Viele dieser frühen Arbeiten sind in Vergessenheit geraten, bzw. wurden aktiv verdrängt. Léon Poliakov hat bereits 1951 (!) mit »Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden« (auf frz. »Bréviaire de la haine) eine Studie zur Vernichtung der Juden vorlegte, die späteren Arbeiten wie denen von Raul Hilberg in nichts nachsteht. Hatte es Hilbergs Buch »Die Vernichtung der europäischen Juden« von 1961 schon schwer, überhaupt ein Publikum zu finden (es ist dem kürzlich verstorbenen Verlagslektor und Herausgeber der »Schwarzen Reihe« des Fischer-Verlags Walter Pehle zu verdanken, dass das Buch in Deutschland schließlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde), so wurde Poliakovs Buch in Deutschland gar nicht wahrgenommen. In Frankreich dagegen gehört es zu den Standardwerken und wird immer wieder aufgelegt.

Es ist nun der Ägide des Verlages Edition Tiamat und dem Historiker Ahlrich Meyer zu verdanken, dass das Buch nun mit knapp 70-jähriger Verspätung erscheinen konnte. Meyer war es eine Herzensangelegenheit, das Buch aus dem Französischen ins Deutsche zu übertragen. Ihm ist eine kongeniale Übersetzung gelungen.

Das Buch ist wahrlich ein »historisches Meisterwerk«, wie Meyer schreibt. Tatsächlich ist es eine meisterhafte Darstellung der Genese des Genozids von den Anfängen der Ausgrenzung in Deutschland bis zum industriellen Massenmord in den Vernichtungslagern. Doch wie konnte Poliakov so wenige Jahre nach Kriegsende eine solch detaillierte Studie vorlegen? Die Antwort ist erstaunlich einfach: Poliakov stütze seine Arbeit vor allem auf die Akten und Dokumente des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses, sowie auf weitere, bereits entstandene Dokumentensammlungen.1 Poliakov hatte früh Zugang zu den Quellen, da er im Stab der französischen Anklage in Nürnberg anwesend war. Die Schriftstücke und Prozessmitschriften wurden von den Alliierten bald als Teil der Reeducation-Programme kurz nach den Prozessen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die von Poliakov verwendeten Quellen erzählen eine eigene Geschichte: Sie machen deutlich, wie früh man über die Verfolgung und Ermordung genau im Bilde sein konnte. In Deutschland, am Institut für Zeitgeschichte (IfZ), einer staatlich gegründeten Institution für die Erforschung des Nationalsozialismus, war man lange der Meinung, dass man sich erst an eine Geschichte der Shoah wagen könne, wenn wirklich alle Akten zugänglich seien. Angesichts der Arbeit von Poliakov (und später Raul Hilberg), dem das IfZ lange Zeit nichts Vergleichbares an die Seite stellen konnte, stellt sich die Frage, ob es sich bei einer solchen Aussage nicht um eine Verdrängungsstrategie handelte. Dafür spricht auch der Umgang des IfZ in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz mit jüdischer Forschung zum antisemitischen Genozid. Am IfZ kannte man Léon Poliakov durch dessen Mitstreiter Joseph Wulf, ebenfalls ein Überlebender und ein autodidaktischer Historiker, mit dem Poliakov zahlreiche Quelleneditionen zum Nationalsozialismus und zur Shoah herausgab. Aber man wollte nichts von seiner, bzw. ihrer Arbeit wissen, ja, behinderte sie sogar noch durch abschätzige Kommentare. An einer Kooperation war man nicht interessiert, obwohl Wulf oft nachfragte und seine Mitarbeit anbot und hoffte, man würde in München am selben Strang ziehen wie die jüdischen Forscherinnen und Forscher, die sich im Namen Emmanuel Ringelblums vor allem in Paris und New York an die Arbeit machten. Doch Wulf und Poliakov wurden durch das IfZ nicht unterstützt, geschweige denn als Kollegen oder Mitstreiter anerkannt. Später sollte es Raul Hilberg, dem Doyen der Shoah-Forschung, ähnlich ergehen.

Wie sich das IfZ gegen Poliakov im Besonderen verhielt, wäre en detail in einer noch zu schreibenden Biographie darzulegen. Im Falle Hilbergs wurde bekannt, dass Gutachten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) aus den Jahren 1964 und 1980 von einer Übersetzung seines heutigen Standardwerks ins Deutsche abrieten. Der C.H.Beck Verlag, der das Projekt zunächst angehen wollte, sah in der Folge von einer Veröffentlichung ab.2

Das heutige Erscheinen von Léon Poliakovs Buch ist auch eine Erinnerung an die frühe jüdische Shoah-Forschung. Es scheint, dass deren fast verschollene erste Generation wieder ein wenig mehr Aufmerksamkeit bekommt. So sind kürzlich auf Deutsch die Memoiren Poliakovs »St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen« erschienen (ebenfalls bei Tiamat, siehe Rezension in der Versorgerin #123). Um an Wulf/Poliakov und weitere Forscher:innen zu erinnern, erarbeiteten Student:innen des Touro College in Berlin eine Ausstellung zur frühen jüdischen Holocaust-Forschung, die sehr eindrücklich zeigt, wie akribisch und weitreichend die Überlebenden ihr Schicksal und das der Opfer erforschten und erforschen konnten. Auch deswegen, weil sie von vornherein die Aussagen von Überlenden miteinbezogen, was im Münchner IfZ undenkbar war, wo man schon jüdischen Forschern Befangenheit unterstellte.3 Paradoxerweise sollten nur deutsche Historiker in der Lage sein, »objektiv« über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu forschen. Im IfZ fürchtete man sich vor unkommentierten Quellensammlungen, davor, die Quellen für sich sprechen zu lassen. Das hat sich natürlich inzwischen geändert. In den Fußnoten zu den Quellenangaben von »Vom Genozid zum Hass« finden sich für die meisten von Poliakov benutzen Dokumente Hinweise auf die entsprechenden (der insgesamt 16) Bände der »Edition Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden«,4 mitherausgegeben vom IfZ, die ca. 5000 Dokumente zur Geschichte der Shoah von 1933 bis 1945 zu ganz Europa für jeden leicht zugänglich machten. Dort finden sich natürlich viele Dokumente, auf die Poliakov noch keinen Zugriff haben konnte. Es ist deswegen umso bemerkenswerter, dass sich bereits anhand der Nürnberger Dokumente alle wesentlichen Ereignisse rekonstruieren ließen, wenn man nur wollte. Für Poliakov ging es nicht ums Wollen, es war ein Müssen, das ihn antrieb. Poliakov stellte sich die – so einfache, wie unumgängliche – Frage: »Warum wollte man mich umbringen?« Diesen Drang merkt man der Arbeitsweise Poliakovs an, wenn er immer wieder auch nach den psychologischen Motiven der Nazis fragt, und auf diese Frage zu antworten versucht. Letztlich wird es auf sie keine abschließende Antwort geben können, umso wichtiger ist es aber, diese Frage immer wieder zu stellen: Warum brachten die Deutschen 6 Millionen Juden um? Poliakov nimmt so einen wesentlichen Aspekt dessen, was in Deutschland erst viele Jahre später als Täterforschung etabliert wurde, in den Blick, nämlich direkt nach den Motiven der Deutschen zu fragen. Die Antwortversuche fallen vielfältig aus. Bereits 1951 betont er die Systematik der finanziellen und materiellen Ausplünderung bei der Ermordung der Juden, und das millionenfache Profitieren der deutschen Zivilbevölkerung durch diese Aktionen (S.143). Solche konkreten Antworten scheute man in der deutschen Geschichtswissenschaft lange Zeit. Als Tatmotiv für das größte Menschheitsverbrechen u.a. staatliche Bereicherung zur Kriegsfinanzierung und individuelle Vorteilsnahme feststellen zu müssen? Das galt es zu verdrängen. In der deutschen Geschichtswissenschaft wurde anfangs durch mystifizierende Sprache und anthropologisches Nachdenken »über das Böse im Menschen« sowie die Notwendigkeit der Rückbesinnung auf »die eigentliche deutsche Kultur« die Geschichte verdunkelt, wie Nicolas Berg in den ersten Kapiteln seiner wichtigen Studie »Die westdeutschen Historiker und der Holocaust« darlegt. Poliakovs Buch ist das Gegenteil von Mystifizierung und anthropologischen Verallgemeinerungen.
Als Zeitzeuge der Ereignisse nimmt er darüber hinaus Zusammenhänge und Details in den Blick, die nach Kriegsende erst einmal aus dem historischen Bewusstsein in der Dunkelheit verschwanden. So geht Poliakov zum Beispiel auf einen in Deutschland lange Zeit völlig unbekannten Verbündeten des Dritten Reichs ein: El Husseini, Großmufti von Jerusalem, eine der Galionsfiguren der palästinensischen Nationalbewegung und rabiater Antisemit, der Konzentrationslager besuchte und eine muslimische SS-Division aufstellte, um die Deutschen zu unterstützen. Ebenso widmet Poliakov den ermordeten Sinti und Roma ein Kapitel, deren leidvolle Geschichte unter der deutschen Herrschaft in Europa ebenfalls lange in Vergessenheit geriet. Er macht sich in seiner Studie immer wieder Gedanken, wie man das Neue am Nationalsozialismus mit seiner politischen und wirtschaftlichen Struktur auf den Begriff bringen kann. Wie Franz Neumann, der mit seinem »Behemoth« eine Pionierstudie zum Nationalsozialismus verfasst hat, die sogar noch während des Kriegs erschien, geht Poliakov von einem Staat aus, der in eine Mafia-ähnliche Bandenstruktur zerfallen war, die Deutschland zwischen 1933 und 1945 beherrschte.
Pionierstudien und »frühe Angriffe« auf das Material sind oft unvollständig, das liegt in der Natur der Sache, desavouiert sie jedoch nicht. Umso erstaunlicher ist es, dass in diesem Fall umgekehrt vieles, über das Poliakov bereits 1951 geschrieben hat, lange Zeit in Vergessenheit geraten ist. Das Buch ist deswegen auch ein Beitrag zur jüngsten Wissenschaftsgeschichte, da es wie ein Kontrastmittel aufzeigt, dass die zeitgeschichtliche Forschung den Stand von 1951 nur mühsam einholte.


[1] Die Aktenbestände werden in der Geschichtswissenschaft als IMT = International Military Tribunal, auf Deutsch IMG, Internationaler Militärischer Gerichtshof abgekürzt.
[2] https://www.welt.de/kultur/article170047193/Deutsche-Zeithistoriker-verteidigten-Deutungshoheit.html, letzter Zugriff 14.01.2022, 15:46 Uhr.
[3] Berg, Nicolas: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 337f.
[4] https://www.ifz-muenchen.de/edition-judenverfolgung/die-edition-vej