… und später nicht mehr wahr

Magnus Klaue erläutert, was ein Text, den der Liedermacher Kurt Demmler für Nina Hagen geschrieben hat, über die Sexualpolitik der DDR aussagt.

Als Angela Merkel am 2. Dezember vergangenen Jahres in Berlin mit dem Großen Zapfenstreich aus dem Amt der Bundeskanzlerin verabschiedet wurde, durfte sie sich wie ihre Vorgänger drei Musikstücke aussuchen, die zu diesem Zweck gespielt werden sollten. Sie wählte Hildegard Knefs 1968 entstandenes Chanson »Für mich soll’s rote Rosen regnen«, das 1771 von dem katholischen Priester Ignaz Franz geschriebene Kirchenlied »Großer Gott, wir loben dich« und den Hit »Du hast den Farbfilm vergessen«, der Nina Hagen, die damals Leadsängerin der Rockband Automobil war, 1974 in der DDR in die Charts brachte und sie in der Bundesrepublik bekannt machte. Die Behauptung, Merkel sei ihre Kanzlerschaft hindurch eine geübte Vermittlerin gewesen, schien durch diese Musikauswahl noch einmal bestätigt zu werden: Knef als Vertreterin eines nach Frankreich und den Vereinigten Staaten hin offenen Deutschlands, das Minderheiten gegenüber tolerant ist (Knef war ein Idol der Schwulenbewegung der 1980er Jahre); Franz als Komponist eines der wenigen katholischen Kirchenlieder, die im protestantischen Gottesdienst gesungen werden; und Nina Hagen als rebellische und irgendwie trotzdem patriotische DDR-Punkerin. Dass Merkels Auswahl Anstoß erregte, lag am dritten Lied, und zwar nicht wegen Nina Hagen, die ihren esoterischen Anwandlungen zum Trotz ihren gesamtdeutschen Ruf als patzig-sympathische »Rockgöre« nie eingebüßt hat, sondern wegen des Songschreibers, dessen Biographie nicht zur geschlechtersensibel renovierten neuen Bundesrepublik passt.

Komponiert worden war »Du hast den Farbfilm vergessen« von Michael Heubach, der bei Automobil das Keyboard spielte, damals ein Liebesverhältnis mit Nina Hagen hatte und als »Micha« in dem Song selber vorkommt. Der Text stammte von dem Liedermacher Kurt Demmler, der 1943 als Kurt Abramowitsch in Posen zur Welt gekommen war, 1963 ein Studium der Medizin an der Karl-Marx-Universität in Leipzig begonnen hatte und trotz seiner eher regimekritischen Haltung bis zu dessen Abschluss 1969 unter anderem Lieder für Veranstaltungen der FDJ geschrieben hatte. Bis Mitte der 1970er Jahre verdiente Demmler sein Geld sowohl als Arzt wie als Liedermacher und arbeitete in dieser Zeit unter anderem mit Veronika Fischer und Nina Hagen zusammen. Ein Jahr vor Erscheinen von »Du hast den Farbfilm vergessen« wurde er mit dem Kunstpreis der DDR ausgezeichnet, 1974 erschien von ihm neben dem Nina-Hagen-Hit das Album »Verse auf sex Beinen«, das in der Bundesrepublik als sexuell freizügig im Vergleich mit anderen DDR-Songs gelobt wurde. Obwohl Demmler sich 1976 gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aussprach und auch sonst in seinen Liedern, wie in anderen Wortbeiträgen autoritäre Züge des Realsozialismus kritisierte, war er weithin beliebt und erhielt 1985 den Nationalpreis der DDR.

Nach dem Mauerfall konnte Demmler an seine Erfolge nicht wieder anknüpfen. Bekannt wurde er in der neuen Bundesrepublik aber durch einen Skandalprozess, der auch seine DDR-Karriere rückwirkend in anderem Licht erscheinen ließ. Im Jahr 2000 wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern eröffnet, in dessen Folge er für schuldig befunden, aber mit einer sehr milden Strafe (90 Tagessätze à 20 Euro) belegt wurde. 2008 wurde er erneut angeklagt, diesmal sollten sehr viel weiter zurückreichende und schwerer wiegende Anschuldigungen gegen ihn verhandelt werden. Im Februar 2009, in der Nacht zum zweiten Verhandlungstag, an dem mit den Aussagen der von der Anklage vorgeladenen Opfer begonnen werden sollte, erhängte Demmler sich in seiner Zelle mit zwei zusammengebundenen Gürteln. Das zweite Verfahren gegen ihn sollte Fälle zwischen 1985 und 2005 verhandeln, in denen er insgesamt 52 Kinder missbraucht haben soll; außerdem soll es zwischen 1995 und 1999 in seiner Villa und in seiner Berliner Wohnung zu insgesamt 212 Übergriffen gegen Mädchen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren gekommen sein. Ihm wurde vorgeworfen, gezielt Kontakt zu Mädchen gesucht, mit ihnen regelmäßig telefonisch und brieflich kommuniziert, sie in Abwesenheit der Eltern in ihren Wohnungen aufgesucht und sie zum Zweck des Missbrauchs zu sich eingeladen zu haben. Im Rahmen des Prozesses wurde bekannt, dass Demmler schon in der DDR, wo er für das 1985 herausgekommene Album »Lieder des kleinen Prinzen« nach Motiven von Antoine de Saint-Exupéry mit Kindern zusammengearbeitet hatte, die Begleitung junger Mädchen suchte, die er in Abwesenheit der Erziehungsberechtigten traf, wobei er den Stolz der Eltern auf die Mitarbeit ihrer Kinder an seinem Musikprojekt ausgenutzt haben soll.

Nina Hagen selbst zeigte sich, als Merkels Musikauswahl bekannt geworden war, auf ihrer Facebook-Seite »erstaunt« darüber und wies darauf hin, dass Demmler »ein DDR-‚Staatsdichter‘ mit Sonderprivilegien« und »wegen systematischen Kindesmissbrauchs« verurteilt worden sei. Nicht zum Thema machte sie die abgründige Ambivalenz des Liedes selbst, die Merkel ebenso wie den damaligen Zeitgenossen, die es als lustiges Stimmungs- und Urlaubslied wahrnahmen, entgangen ist. Auf einer oberflächlichen Bedeutungsebene erzählt der Song von der Wut des weiblichen Ichs angesichts der Tatsache, dass »Micha« während eines Urlaubs auf Hiddensee den Farbfilm nicht mitgenommen hat, weshalb alle Ferienerinnerungen nur in Schwarzweiß verfügbar sind und niemand dem Paar glauben wird, wie wunderbar der Urlaub war. Für eine Wiederholung dieser Unterlassung droht die Frau dem Freund mit dem Abbruch der Beziehung: »Tu das noch einmal, Micha, und ich geh!«. Der Refrain fasst die Enttäuschung zusammen in den Zeilen: »Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael! / Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön‘s hier war, haha, haha. / Du hast den Farbfilm vergessen, bei meiner Seel‘! / Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr.« In der Eingangsstrophe kommen Teile des Refrains jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang vor. Dort heißt es: »Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee. / Micha, mein Micha, und alles tat so weh. / Dass die Kaninchen scheu schauten aus dem Bau, / So laut entlud sich mein Leid in‘s Himmelblau. // So böse stampfte mein nackter Fuß den Sand, / Und schlug ich von meiner Schulter deine Hand. / Micha, mein Micha, und alles tat so weh. / Tu das noch einmal Micha, und ich geh!«

Lässt sich der Refrain sowohl als parodistische Reflexion der vermeintlich besonderen Authentizität von Farbfotografien und als Verspottung der Tatsache deuten, dass Farbfilme in der DDR schwer zu bekommen waren und Seltenheitswert besaßen, so konkretisiert die erste Strophe den Echtheitscharakter von Farbfilmdokumenten in einer Weise, die die parodistische Dimension konterkariert. Sie erzählt offenkundig von einem Akt körperlicher Gewalt des Mannes gegen die Frau, der verborgen hinter dem hohen Sanddorn stattfand und dem Ich »so weh« tat, dass es die Hand des Mannes weggeschlagen, laut geweint hat und mit seinen nackten Füßen »so böse« in den Sand »stapfte«, dass die Kaninchen scheu aus ihrem Bau schauten. Die Drohung mit dem Abbruch der Beziehung bezieht sich diesem Blick folgend auf die Gewalttat, die nicht angemessen dokumentiert werden kann, weil der Schwarzweiß-Film die Verletzungen des Ich nicht glaubwürdig abbilden kann: »Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr«. Die Zeile »Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön‘s hier war haha, haha« erscheint vor diesem Hintergrund wie ohnmächtiger Hohn angesichts einer Misshandlung, deren Erfahrung das Ich mit niemandem wird teilen können.

Aufschlussreich ist die Ambivalenz des Liedes, die jedem, der ihr einmal auf die Spur gekommen ist, das Vergnügen an dessen witzig-parodistischer Ebene und an seiner munteren Darbietung (Polkatakt, Saxophon und Tuba) verdirbt, nicht etwa, weil sie ein Indiz für Demmlers Vorliebe für sexuelle Gewalt gegen Mädchen oder gar für einen sexuellen Übergriff Michael Heubachs gegenüber Nina Hagen wäre (für letzteres gibt es keinerlei Belege), sondern, weil die nicht wahrgenommene Doppelbödigkeit aussagekräftig ist für das von Freunden des Realsozialismus oft als unverkrampft und libertär wahrgenommene Verhältnis der DDR-Bürger zur Sexualität. Diese Bedeutungsebene des Liedes wird in der letzten Strophe, die beschreibt, wie das Ich die Schwarzweiß-Fotos des Ferienaufenthalts im Fotoalbum durchblättert, explizit gemacht, wenn es heißt: »Ich im Bikini und ich am FKK. / Ich frech im Mini, / Landschaft ist auch da, ja.« Die Insel Hiddensee galt in der DDR als »Kamerun in der Ostsee«, weil es sich an diesem »vergessenen«, dem Staatsgebiet vorgelagerten Teil der DDR scheinbar freier und ungebundener als im Rest des Landes, wie in einem libertären Exil innerhalb des Realsozialismus, leben ließ. Deshalb war Hiddensee in den 1970ern, als das Lied entstand, ein beliebter Urlaubsort staatsferner DDR-Künstler und -Intellektueller. Zugleich verweist die Erwähnung der Freikörperkultur darauf, dass sich am Beispiel der Insel exemplarisch der Wandel des Verhältnisses der DDR zur öffentlichen wie privaten Körperlichkeit studieren lässt.

FKK war in der DDR wie in manchen skandinavischen Ländern und im Unterschied zur frühen Bundesrepublik von Beginn an sehr beliebt. In fast allen größeren Badeorten – neben Hiddensee auf Usedom, in Wismar oder im Seebad Zinnowitz – wurde, ohne dass ausdrücklich um Erlaubnis gefragt wurde, nackt gebadet. Weil er in den FKKlern potentielle Dissidenten und Hedonisten vermutete, erließ der damalige Innenminister Willi Stoph im August 1954 ein Nacktbadeverbot, in dessen Folge Volkspolizisten Dünen und Strandkörbe nach illegalen Nackten durchmusterten; Verstöße wurden mit Bußgeldern geahndet. Doch das Verbot war derart unpopulär, dass zahlreiche Nudisten, um die Verordnung zu verhöhnen, nur mit Krawatte baden gingen, Vopos ins Wasser warfen oder sie hinter den Strandkörben verschanzt mit Sand bewarfen. Überdies erwies sich, dass unter den FKK-Anhängern viele hohe Staatsbeamte und SED-Funktionäre waren, so dass Stoph das Verbot nicht nur umgehend wieder kassierte, sondern eine ideologische Wende vollzog, die das Verhältnis der DDR zur Bürgernacktheit neu justierte. Was vorher als Ausdruck westlicher Dekadenz beargwöhnt wurde, galt nun als »sozialistisches Vergnügen«, pädagogische Handbücher empfahlen, Kinder nackt baden zu lassen, damit sie sich früh und ohne falsche Scham mit ihrem Körper auseinandersetzen könnten, der »unbekleidete Aufenthalt in der freien Natur« wurde Industriearbeitern als gesundheitsfördernder Ausgleich zur Arbeit empfohlen, und der vielfach neuaufgelegte staatlich finanzierte Reiseführer »Baden ohne« informierte über die Lage der schönsten FKK-Strände.

Diese Integration der Freikörperkultur ins realsozialistische Selbstverständnis, die bis 1989 Teil der DDR-Kulturpolitik blieb, entsprach deren genuinem Charakter weit eher als die anfängliche Abwertung des Nacktbadens als Symptom dekadenter Vergnügungssucht. FFK war schon immer, von den Anfängen der Nudistenbewegung im Dunstkreis von Lebensreform und Kommunitarismus bis zu den Hippies der 1960er Jahre, ein Gegenentwurf zur Nacktheit an französischen oder italienischen Stränden, wo die Körper der Sonne preisgegeben werden, um sie schöner und attraktiver zu machen, und wo öffentliche Nacktheit am Strand erotische Koketterie befördert, statt sie zu neutralisieren. Genau solche Neutralisierung aber war das Telos der Freikörperkultur, die sich schon durch ihre Selbstbezeichnung von der Allianz zwischen Nacktheit und Verführung in der »Zivilisation« abgrenzte. FKK war immer, von der Jugendbewegung bis in die DDR, Teil einer sich selbst als hygienisch und gesund von der im »Westen« populären lasziven Nacktheit absetzenden Körperpolitik, die die aggressiven und unverfügbaren Aspekte menschlicher Sexualität, wenn nicht leugnete, so doch im Bild des nackten Leibes als Ausdrucksform mit sich selbst im Einklang befindlicher Natur (der Jugendstil nannte den nackten Körper »Lichtkleid«) seiner Widersprüche beraubte. Mit der Förderung der Freikörperkultur als Teil des realen Sozialismus erwies sich die DDR nolens volens als Erbe der Lebensreformbewegung.

Die Stärke von Demmlers Lied und von Nina Hagens Interpretation bestand gerade darin, dass im Kontrast zwischen manifestem parodistischen und latentem bedrohlichen Sinn, zwischen Hagens aggressiver Darbietung und der volkstümlichen Eingängigkeit der Musik, jener Widerspruch hervorgetrieben wurde, den die offizielle Körper- und Sexualpolitik der DDR verleugnete. Das Ideal harmonischer Transparenz und flacher, jeder Dämonie beraubter Sichtbarkeit, das in der sachlichen Leidenschaft für Freikörperkultur mitschwingt, wird im Lied konfrontiert mit seiner Kehrseite: der verschwiegenen, zum Verschwinden gebrachten, aber dadurch noch lange nicht wirklich verschwundenen Gegenwart der Verletzungen, die von der Persistenz der Widersprüchlichkeit und der aggressiven Impulse der Sexualität zeugen. Indem sie Demmlers Lied in ihren persönlichen Kanon aufnahm und diese Ambivalenz übersah, hat Angela Merkel sich zum Abschied noch einmal als Wiedergängerin der schlechtesten Traditionen jenes Staates erwiesen, von dessen Zerfall sie profitierte.

Strand an der Westküste der Insel Hiddensee – Landschaft ist auch da, ja. (Bild: Sebastian Negraszus (CC BY-SA 3.0))