Der Dozent traf Herrn Groll in der Kärntner Straße zu Wien. Auf Höhe des Hotels Sacher hatten sie telefonisch einen Treffpunkt auf einer Parkbank vereinbart. Sie nickten einander zu und nahmen in gebührendem Abstand Platz. Beide trugen eine Maske.
»Ich bin ja gestern von Pritschitz am Wörtherseee nach Wien zurückgekehrt«, eröffnete Groll die Aussprache. »Sechs Wochen lang war ich in Quarantäne, nur vier Mal rückte ich aus, drei Mal für einen schnellen Einkauf und einmal um neue Bremsen für meinen Rollstuhl Joseph III. entgegenzunehmen. Obwohl ich isoliert war, habe ich dennoch Kenntnis von bemerkenswerten Ereignissen. Ich möchte Ihnen von einer Klagenfurter Ärztin und einem Salzburger Kollegen sowie einem Klagenfurter Sonderschullehrer erzählen.«
»Ich höre«, sagte der Dozent und zückte sein Mozzano-Notizbuch aus toskanischem Rindsleder.
Herr Groll schlug ein Bein über das andere und berichtete: »Die Ärztin, eine Anästhesistin und Intensivmedizinerin vom Klinikum Klagenfurt, weilte wegen eines Forschungsprojekts in einer staatlichen Klinik in Birmingham und zwar im Stadtteil Aston. Sicher haben Sie von dem berühmten Fußballklub Aston Villa gehört, der sieben Mal englischer Meister wurde und jetzt einem chinesischen Milliardär gehört? Oder von Aston Martin, dem Sportwagenproduzenten, dessen Flitzer nahe Aston zusammengeschraubt werden? Oder vom rot-ziegeligen Schloß Aston Hall aus der Shakespeare-Zeit, in dessen Park der Fußballklub sein Stadion hat?«
Er interessiere sich nicht für Fußball, sein Sport sei das edle Lacrosse, wo er die Ehre habe, Mannschaftsführer der Vienna Cherokees zu sein, erwiderte der Dozent. Englische Sportwagen lehne er seit seiner Jugend ab, als er mit dem Direktionsjaguar seiner Mutter von Chauffeur Herrn Kálmán täglich ins Theresianum gefahren wurde, wobei im Wochenrhythmus Pannen zu beklagen waren, worauf er zu spät in der Klasse erschien und sich hämische Bemerkungen des Lehrers und der Mitschüler über die Alltagstauglichkeit englischer Automobile hatte anhören müssen. Rot-ziegelige Schloßgebäude könnten ihm erst recht gestohlen bleiben, das Direktionsgebäude der elterlichen Maschinenfabrik bestehe aus roten Ziegeln und er sei froh, dort nicht unter der Kontrolle seiner Mutter als ewiger Direktionsassistent schuften zu müssen.
»Wie dem auch sei«, erwiderte Groll. »Die Klagenfurter Ärztin begann also in der besagten Klinik in Birmingham zu forschen. Nach ein paar Tagen wurde sie von der Pandemie überrascht und arbeitet seither rund um die Uhr auf einer Covid-19-Intensivstation. Anfangs waren Schutzkleider und Masken Mangelware, aber das hat sich gebessert. Dennoch sind mehrere Pfleger und Ärztinnen erkrankt, eine Ärztin und ein Pfleger befinden sich seit zwei Wochen in einem lebensbedrohlichen Zustand. Wenn sie überhaupt mit dem Leben davonkommen, müssen sie schwere Lungenschäden gewärtigen. Die Klagenfurter Ärztin berichtet von anhaltend dramatischen Entwicklungen. Offiziell würden allein 28.000 Virus-Tote in den Alters- und Pflegeheimen angegeben. Rechne man noch jene alten Menschen hinzu, die in ihren Wohnungen verstarben, müsse mit einer Verdoppelung der Zahl gerechnet werden. Dazu komme noch eine hohe Dunkelziffer, denn die Verstorbenen würden nicht auf das Virus getestet und gingen daher nicht in die einschlägige Todesstatistik ein. Und alle wüssten, daß dies erst der Anfang der ersten Pandemie-Welle sei. Sie berichtet weiters, daß in der Presse ein Kampf zwischen Medizinern und Virologen, die zur Vorsicht mahnen und offen eugenisch argumentierenden Politikern, die überwiegend den konservativen Tories angehören, tobt. Ein besonders kaltschnäuziger Vertreter des Massentods für ältere Menschen – unter denen sich auch viele behinderte Patienten befinden –, ein gewisser Geoffrey Clifton-Brown, Schatzmeister einer einflußreichen rechten Gruppe innerhalb der Tories, wurde mit dem Satz zitiert, wenn man, was dringend erforderlich sei, die Wirtschaft wieder hochfahre, müsse man eben das Risiko in Kauf nehmen, daß unter den Älteren, und da besonders unter den Heimbewohnern, der Tod reiche Ernte halten werde. Der Meister des fremden Todes wurde übrigens im Vorjahr zum schlechtesten und faulsten Parlamentsabgeordneten des Königreiches gewählt.«
Kopfschüttelnd nahm der Dozent eine Eintragung in seinem Notizbuch vor. »Der ehrenwerte Mann fährt im Übrigen einen Sportwagen und zeigt sich ideologisch dem Tesla-Eigentümer Elon Musk verwandt, der die virusbedingten Ausgangsbeschränkungen Kaliforniens als ‚Faschismus‘ bezeichnet«, fuhr Groll fort. »Und im ‚Spectator‘ behauptet ein Kolumnist namens Toby Young, daß der Lockdown vielleicht das Leben einiger hundert alter Menschen verlängere, die dafür aufgewendeten Kosten aber eine unverantwortliche Verschwendung von Steuergeld seien.«[1]
»In Deutschland stößt Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble ins selbe Horn«, erwiderte der Dozent.
»Woraus man ersehen kann, daß auch Rollstuhlfahrern der Humanismus nicht automatisch zuwächst. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, drückt es noch deutlicher aus. Der Zugewinn von Lebenszeit für ein paar Menschen, die sowieso bald sterben würden, stehe in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen und sozialen Schäden, die der Lockdown verursache. Als sich dagegen massiver Protest erhob, redete er sich feige auf die hungernden Kinder Afrikas aus, die der Hilfe mehr bedürften als die deutschen Senioren. Als würde auch nur ein afrikanisches Kind gerettet, wenn man schwerkranken Menschen in Deutschland die Behandlung verweigert.«
»Ja, die Grünen haben in Fragen des Lebensschutzes eine offene Flanke. Ich erinnere mich, daß der damalige Gesundheitssprecher der Grünen, der Mediziner Kurt Grünewald, der von 1999 bis 2013 im Nationalrat saß, im Hochsommer 2001 sich die Euthanasie an vermeintlich hoffnungslosen Fällen vorstellen konnte. Der damalige Bundessprecher der Grünen, Alexander van der Bellen, sprang ihm bei und lobte das holländische Modell der aktiven Euthanasie, das man sich näher anschauen solle. Er, van der Bellen, könne sich unter bestimmten Voraussetzungen auch aktive Sterbehilfe vorstellen. Die ÖVP und die SPÖ reagierten damals mit scharfem Protest und die Grünen zogen sich schleunigst von diesem vergifteten Terrain zurück.«[2]
»Ich bewundere Ihr Gedächtnis«, sagte Groll.
»Mein Gedächtnis steckt hier drin«, der Dozent tippte auf den Block auf seinen Oberschenkeln. »Toskanisches Rindsleder ist teuer, aber klug. Und vor allem, es ist unbestechlich.« Er klappte das Notizbuch zu. »Sie erwähnten weitere Ärzte.«
Groll nickte. »Zum einen ist da ein Salzburger Notfallarzt. Er ging aus beruflichen Gründen nach Schweden und ist angesichts des Massensterbens in den Altenheimen und der bewussten Untätigkeit der Regierung und der Gesundheitsbehörden entsetzt. In den Einrichtungen sterben die alten und behinderten Menschen wie die Fliegen, berichtet er. Seit geraumer Zeit erkranke auch das ärztliche und pflegerische Personal, Todesfälle seien keine Seltenheit. So kommt es, daß Schweden eine fünf Mal höhere Sterberate als Österreich und eine um neun Mal höhere als Finnland aufweist, das früh strenge Vorsichtsmaßnahmen eingeführt hat.«
»Sie erwähnten eine dritte Person …«
»Ich meine einen Gemeinderat in Klagenfurt. Sein Name ist Georg Reinisch. Er absolvierte zwei jahre lang ein Schmalspurstudium für Betriebswirtschaftslehre an der Alpe Adria Uni Klagenfurt und machte dann die Lehramtsprüfung für ‚Allgemeine Sonderschulen und Sonderschulen für Schwerstbehinderte‘. Daß die ‚Schwerstbehinderten‘ auch Menschen sind und folglich als Menschen und nicht mit ihrer Behinderung anzusprechen sind – soweit reichte es im Kärntner Schulwesen nicht, zumindest nicht in den Lebenslauf des Herrn Reinisch, der seit 2012 im ‚Sonderschuldienst‘ tätig ist. Der Beruf ließ dem umtriebigen Klagenfurter aber Zeit, eine politische Laufbahn einzuschlagen. Er engagierte sich in der FPÖ Jörg Haiders, nach dessen Tod verlor er im Chaos der Abspaltungen und Wiedervereinigungen aber den Überblick und trat aus der Partei aus. Seit ein paar Jahren ist er ein sogenannter heimatloser Freiheitlicher im Klagenfurter Gemeinderat, auch so etwas
gibt es.«
»Das heißt, er lebt ohne Klubzwang als ‚wilder‘ Abgeordneter?«
»Und fällt durch lichtvolle Aussagen auf. So zieht er in verschiedenen Postings die Existenz einer Pandemie in Zweifel und unterstellt der Regierung eine sinistre Unterwerfungsstrategie der Bevölkerung. Außerdem behauptet Reinisch, die Italiener hätten aufgrund der schlechten Luft und der Tatsache, daß Antibiotika in Supermärkten erhältlich seien, ein schlechteres Immunsystem und seien folglich nicht so gegen das Virus gewappnet wie die stahlharten Kärntner.[3]«
»Mit seinen Verschwörungstheorien wäre er im FPÖ-Parlamentsklub in Wien gut aufgehoben«, führte der Dozent Grolls Gedanken weiter. »Klubobmann Kickl verdammt die Sicherungsmaßnahmen ja auch in Grund und Boden. In Klagenfurt gab es am 1. Mai einen von Freiheitlichen organisierten Autokorso und in Wien eine Demo gegen die Schutzmaßnahmen. Der Chef der rechtsextremen Identitären, Martin Sellner, ist dort ein gern gesehener Gast. Es sollte mich nicht wundern, wenn er auch bei der Organisation der Kundgebungen seine Hände im Spiel hätte. Daß sich auch der Gesundheitsökonom Pichlbauer in dieser Frage in die Reihen der Verschwörungstheoretiker einreiht und den schwedischen Weg lobt , zeigt nur einmal mehr, daß von den Gesundheitsökonomen für alte, schwache und behinderte Menschen eine permanente eugenische Gefahr ausgeht.«[4]
»Wenn ich Ihre Ausführungen zusammenfasse und sage, daß die zweite Welle schon da ist, diese aber nicht vom Virus verursacht ist, sondern von rechten Obskurantisten und Eugenikern …«
»Würde ich nicht widersprechen«, antwortete Groll und löste die strengen Bremsen seines Rollstuhls.