Als der Lehrer und Pädagoge Alexander Sutherland Neill in den frühen zwanziger Jahren begann, die Erziehungspraxis der Neuen Schule Hellerau unter die Lupe zu nehmen, die 1920 bei Dresden gegründet worden war und zu deren wichtigsten Geldgebern er zählte, stellte sich bei ihm rasch Ernüchterung ein. Neill war der reformpädagogischen Schule nicht nur als Mäzen, sondern auch als Mitarbeiter verbunden. Er leitete deren »Ausländer-Gruppe«, die den unterschiedlichen kulturellen Hintergrund der Schüler und den Anspruch internationaler Kooperation herausstellen sollte. Die der deutschen Jugend- und Wandervogelbewegung verbundenen Hellerauer Lehrer, deren Vorbild der mit Walter Benjamin bekannte Schulreformer Gustav Wyneken war, erschienen Neill jedoch eher als provinziell denn als kosmopolitisch. Sie trugen die Kleidung der Pfadfinder wie eine Uniform, predigten Vegetarismus und Schlammbäder, den Verzicht auf Tabak und Alkohol und verachteten Unterhaltungsmusik und Kino als kulturzersetzende Produkte der angloamerikanischen Zivilisation. Ihr spirituelles Geraune und ihre Humorlosigkeit gingen Neill, wie er in dem 1923 erschienenen autobiographischen Buch »Dominie Abroad« berichtete, enorm auf die Nerven. Dass viele Lehrer in Hellerau sich weigerten, ihre Schüler mit den Filmen Charlie Chaplins vertraut zu machen, weil diese keinerlei erzieherischen Wert hätten, überzeugte ihn vollends davon, dass zwischen der britischen und der deutschen Reformpädagogik Welten lagen. »Wir hatten andere Ideale«, schreibt er über die eigenen Mitstreiter in seinem Buch: »Wir waren gewöhnliche Menschen, die Bier tranken, rauchten und Foxtrott tanzten. Unsere Absicht war es, unser eigenes Leben zu leben, während wir den Kindern freistellten, auch ihr eigenes Leben zu leben.« Bei den deutschen Reformpädagogen dagegen erkannte er eine Begeisterung für kollektive Charakterformung, bündische Gemeinschaftsrituale und ein Ressentiment gegen »unmännliche« Weichheit, die mit seinem Begriff von Erziehung unvereinbar waren.
Die Schule Summerhill, die Neill nach einer weiteren gescheiterten Schulgründung in Österreich schließlich 1924 in dem kleinen Ort Lyme Regis an der Küste von Dorset ins Leben rief, war freilich den reformpädagogischen Schulen in Deutschland in vielem ähnlich; die Unterschiede lagen weniger in der pädagogischen Praxis als in deren Begründung. Auch in Summerhill galt für die Schüler Alkoholverbot, auch dort bildeten Erfahrungen in der freien Natur und handwerklicher Unterricht wichtige Bestandteile des Schulalltags. Und auch in Summerhill wurde darauf Wert gelegt, auf Ausdrucksformen kindlicher und jugendlicher Sexualität nicht restriktiv, sondern offen zu antworten. Doch die protestantisch grundierte Ethik, die die deutsche Reformpädagogik prägte, spielte in Neills Schule keine Rolle. Das Verbot von Alkohol wurde nicht mit der befreienden Wirkung von Enthaltsamkeit, sondern gesundheitspolitisch begründet und war Neill vor allem deshalb wichtig, weil er mit vielen Kindern aus sozial depravierten Familien zu tun hatte, in denen Alkoholismus zum Alltag gehörte. Am Umgang mit Sexualität war die Differenz zwischen Summerhill und der Reformpädagogik besonders offenkundig. Obwohl für Pädagogen aus dem Umfeld der deutschen Lebensreformbewegung die Entdeckung der kindlichen Sexualität durch die Freudsche Psychoanalyse ähnlich bedeutsam gewesen war wie für Neill, zielte der lebensreformerische Habitus mit seiner Ostentation der Harmlosigkeit von Nacktheit, mit seinem gemeinschaftlichen Nudismus und seiner verklärenden Naturverbundenheit eher darauf, Sexualität in der Erfahrung der Heranwachsenden zu neutralisieren und zu entqualifizieren. Neill hingegen störte sich an der freireligös-spirituellen Überformung von Sexualität in den Schriften von Maria Montessori, Rudolf Steiner und anderen Reformpädagogen und stellte nicht einfach die Enttabuisierung von Nacktheit, sondern konkret der kindlichen Masturbation in den Mittelpunkt seiner Sexualerziehung.
Auch aufgrund eigener Erfahrungen mit dem rigiden Disziplinarsystem und den Körperstrafen seiner viktorianisch geprägten Kindheitsbiographie, nahm der 1883 geborene Neill die Notwendigkeit der Vermittlung zwischen den Triebansprüchen des Individuums und den Anforderungen der Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit schwerer als deutsche Reformpädagogen, die (mit der Ausnahme von Siegfried Bernfeld) eher eine naturgegebene Harmonie zwischen Individuum und Gemeinschaft unterstellten, welche durch den modernen Siegeszug von Rationalität, Abstraktion und Warentausch aus dem Gleichgewicht gebracht worden sei. Neill sah demgegenüber das Verhältnis zwischen den Individuen, ihren Triebimpulsen und den Erfordernissen der nicht nur modernen Gesellschaften – anknüpfend an die Arbeiten von Wilhelm Reich, mit dem er befreundet war – durch scharfe Antagonismen geprägt. Die kindliche Masturbation war für ihn, im Einklang mit Freuds Schriften zur Sexualtheorie, eine frühe und notwendige Form der Vermittlung zwischen den Sphären von Trieb, individueller Phantasie und sozialer Praxis, die den Kindern ermögliche, ihren eigenen Körper lustvoll als Objekt ihrer selbst wahrzunehmen und sich ihm nicht mehr blind ausgeliefert zu fühlen, sondern Kontrolle über ihn auszuüben, ohne die sich in ihm ausdrückenden Ansprüche zu verleugnen. Wie der primäre Narzissmus, so Neill, sei die Manipulation der Geschlechtsorgane bei der Masturbation eine notwendige Voraussetzung freier Objekterfahrung der künftigen Erwachsenen.
Im Namen religiöser und ethischer Gebote oder ökonomischer Zwänge den Kindern aufgezwungene Einschränkungen masturbatorischer Handlungen und verwandter Praktiken (Doktorspiele usw.) könnten hingegen, wie Neill im Anschluss an Freuds Schriften zur kindlichen Sexualität argumentierte, zu sexuellen Störungen bis hin zu Gewaltneigungen, Frauenverachtung, Hass auf Homosexualität oder Ressentiments gegen deviantes Verhalten führen. Zu solchen Restriktionen zählte Neill auch die spirituelle Überhöhung des Leibes zum »Lichtkleid«, wie sie in der deutschen Lebensreformbewegung gängig war. Durch die Skepsis gegenüber der Spiritualisierung des Leibes war auch der größte Unterschied begründet, der Summerhill von der deutschen Reformpädagogik abhob: Neills strikte Ablehnung charismatischer Autorität. Steiner, Montessori, aber auch Wyneken glichen sich bei allen Differenzen zwischen ihren Erziehungskonzepten darin, dass sie der als kalt, anonym und unmenschlich wahrgenommenen staatlichen Verwaltung die Authentizität des charismatischen Pädagogen entgegensetzten, in dessen Anteilnahme, Wärme und Patronage jene Ganzheitlichkeit verkörpert sei, die in der von Fragmentierung geprägten Moderne der Zerstörung preisgegeben werde. Diesem Kult der Ganzheitlichkeit stand in Neills Schulmodell die Überzeugung gegenüber, dass Kinder ganz wie erwachsene Menschen die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zu eigenständigem Urteilsvermögen und zur Einsicht in den Unterschied zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse mitbrächten und im Grunde die einzige Aufgabe der Lehrer darin bestehe, gute Bedingungen für die Entwicklung dieser Fähigkeiten zu sichern. An die Stelle der Verherrlichung des Charismas trat bei Neill die Sympathie für den Spleen, für die Idiosynkrasie, für individuelle Talente und auch Defizite, die er als Ermöglichung nicht von Gemeinschaft, sondern von freier Kollektivität ansah.
Anders als die deutsche Reformpädagogik war Neills Schulmodell keineswegs institutionenfeindlich. Im Gegenteil haben sich wenige Schulreformer so ausführliche Gedanken darüber gemacht, welchen Ausdruck der Primat individueller Freiheit in den pädagogischen Institutionen finden sollte.Gerade weil er die Notwendigkeit von Erziehungsinstitutionen ernst nahm, grenzte sich Neill scharf gegen den Begriff der antiautoritären Erziehung ab, für den er von der Achtundsechziger-Bewegung in Anspruch genommen wurde, und sprach stattdessen vom »selbstregulativen Lernen« und von der Erziehung zur »Selbstmächtigkeit«. Deren Grundlage sah er nicht einfach in der Freiwilligkeit (kein Unterricht, keine Freizeitbeschäftigung oder sonstige Tätigkeit sollte in Summerhill Pflicht sein), sondern in deren Überführung in selbstbestimmte Regelwerke, die von den Schülern und Lehrern kooperativ festgelegt, beschlossen und bei Bedarf verändert werden sollten. Mit dem heute gängigen Ideal des lebenslangen Lernens, mit der Verabschiedung des Frontalunterrichts und dem Rollenbild vom Lehrer als Erziehungscoach hatten die institutionssoziologischen Überlegungen Neills wenig zu tun. Statt schon im frühkindlichen Alter die Verschmelzung von Privatsphäre, Öffentlichkeit und Staat zu befördern, zielten sie darauf, den Heranwachsenden Techniken und Erfahrungen institutioneller Selbstorganisation zu vermitteln, die über bestehende staatlichen Erziehungsagenturen, zu denen als deren Komplement auch die Familie gehört, hinausweisen sollten.
Die bürgerlichen Prinzipien der Gewaltenteilung, der individuellen Freiheitsrechte, der Schutz des Einzelnen gegen die Mehrheit und die Geltungskraft in Freiheit beschlossener Regeln sollten in Summerhill auf gleichsam staatsferne Art erhalten und gegen die bürgerliche Gesellschaft verteidigt werden. Es gab in Lyme Regis von Anfang an als legislatives Organ die regelmäßig tagende Schulversammlung, die über Fortdauer und Veränderung der Formen des Zusammenlebens zu beschließen hatte. Ein Tribunal genanntes judikatives Gremium entschied über die Sanktionierung von Regelverstößen, wobei jegliche Körperstrafen, psychische Demütigungen und Formen der Mobjustiz ausgeschlossen waren (in Wahrheit beschränkten sich die vorgesehenen Strafmaßnahmen auf symbolische Akte wie den Küchendienst). Exekutive Funktionen wurden von Ombuds- und Aufsichtspersonen ausgeübt, deren Aufgabe Neill ähnlich wie die eines Schiedsrichters konzipierte, der bei Gruppenspielen über die Einhaltung des Fair Play zu wachen hat. Für die Lehrer von Summerhill galten all diese Regeln nicht minder als für die Schüler, dennoch sollte ihre Erziehungs- und Unterrichtsfunktion und damit ein notwendiges Moment von Sachautorität erhalten bleiben. Neill blieb sich stets bewusst, dass es zwischen erwachsenen Pädagogen und minderjährigen Schülern ein notwendiges Gefälle in puncto Wissen und Erfahrung gibt; nur sollte dieses Gefälle sich in Summerhill nicht eine gesellschaftliche Hierarchie übersetzen, sondern das Erwachsenwerden der noch nicht Erwachsenen befördern.
Über die Bedeutung der Familie und der Eltern dagegen sagt Neill in seinen Schriften erstaunlich wenig. Da Summerhill, darin den reformpädagogischen Schulen ähnlich, als ganztägiger Lebens- und Arbeitszusammenhang, im Grunde als eine libertäre Variante des Internats, konzipiert war, trat der in bürgerlichen Staaten notwendige Widerspruch zwischen der familiären Privatsphäre und der schulischen Öffentlichkeit für Neill in den Hintergrund. Tatsächliche scheint in Summerhill, wie sich Neills biographischen Schriften entnehmen lässt, das Verhältnis zwischen Lehrern, Eltern und Schülern bereits ganz ähnlich als Kooperation »auf Augenhöhe« angesehen worden zu sein, wie es in heutigen Schulen zur konformistischen Routine gehört. Die unspektakuläre Praxis, durch die sich Summerhill de facto nie stark von liberalen Internaten unterschied, dürfte dazu beigetragen haben, dass die Schule alle politischen Umbrüche bis heute überlebt hat. Bereits Ende der zwanziger Jahre siedelte sie aus Kapazitätsgründen nach Leiston in Suffolk über, während des Zweiten Weltkriegs wurde sie nach Wales verlegt, von wo aus sie Anfang der Fünfziger nach Leiston zurückkehrte. Dort existiert Summerhill bis heute und unterliegt wie schon immer seit seiner Gründung wegen seiner libertären Unterrichtspraxis zwar verstärkten Kontrollen durch staatliche Inspekteure, zeichnet sich gegenüber anderen britischen Internaten aber weder durch eine besonders kulturrevolutionäre Praxis noch durch einen Hang zur klandestinen Abschottung aus. Auch die Diskussionen über sexuelle Übergriffe auf Kinder, die sich an reformpädagogischen Einrichtungen wie der Odenwaldschule ereignet haben, betrafen Summerhill nicht, was wohl Neills Abneigung gegen den charismatischen Lehrertypus zu verdanken ist, die zur Gründungsgeschichte von Summerhill gehört.
Die harmlose Weise, in der Summerhill seit den sechziger Jahren in den pädagogischen Normalbetrieb integriert werden konnte, zeigt, dass Erziehung – anders als noch in der Achtundsechziger-Epoche von Anhängern wie Gegnern autoritätskritischer Pädagogik geglaubt wurde – im bürgerlichen Normalvollzug vielleicht ganz einfach keine Sphäre mit besonderem Revolutionspotential ist. In der erzieherischen Praxis erscheint Summerhill heute weit eher als eine Vorwegnahme von Tendenzen, die sich flächendeckend und konsensual durchgesetzt haben, ohne dass daraus für die Einzelnen ein revolutionärer Freiheitsgewinn zu verbuchen gewesen wäre. Neills Ideen, Phantasien und Träume einer besseren Schule, die dem Vertrauen auf das »Gute im Kind« verpflichtet wäre, haben hingegen keine Institution gefunden, die sie praktisch hätte werden lassen. Sie bleiben Glücksvorstellungen ohne Wirklichkeit.