Aktuell lässt sich häufig eine gewisse Polarisierung beobachten: Entweder werden postkoloniale Studien pauschal verteufelt, so als gäbe es in diesem Feld ausschließlich problematische Ansätze und Personen. Auf der anderen Seite werden die postcolonial studies aber auch stark verklärt, nach der Devise: Was moralisch richtig ist – nämlich Rassismus und Nachwirkungen des Kolonialismus zu analysieren und zu kritisieren –, das darf selbst nicht in die Kritik geraten. Gab es so etwas wie ein auslösendes Ereignis oder von Ihnen länger schon beobachtete Entwicklungen, denen Sie mit Ihrer Dissertation genauer auf den Grund gehen wollten?
Zuerst gehört hatte ich von diesen Ansätzen auf einer wissenschaftlichen Konferenz im Jahr 2011. Dort wurde debattiert, ob eine simultane Perspektive auf Kolonialismus und Nationalsozialismus nicht geboten sei. Mir war dieser Ansatz neu, jedoch fragte ich mich schon damals, wie diese Perspektive sich zur in der Holocaustforschung breit diskutierten Frage einer Einzigartigkeit und Beispiellosigkeit der nationalsozialistischen Vernichtung jüdischen Lebens verhalten würde.
Wie stark ist die Holocaustforschung aktuell von postkolonialen Ansätzen geprägt? Welchen Stellenwert nimmt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den postkolonialen Studien ein?
Die Frage der Prägung kann ich nicht abschließend beurteilen. In einigen neueren Einführungen in die Holocaustforschung gibt es eigene Abschnitte zur Kolonialgeschichte, beispielsweise im Oxford Handbook of Holocaust Studies aus dem Jahr 2010. Insofern hat die postkoloniale Diskussion die Holocaust-Forschung zumindest nachwirkend beeinflusst. Lange Zeit war der Holocaust kaum Thema der postkolonialen Theorie. Und falls doch, dann eher als Beispiel für ein Unterkapitel einer breiteren europäischen Geschichte der (Massen-)Gewalt und Unterdrückung. Die von mir untersuchten Ansätze sind eher spekulativ und theoretisch, weniger empirisch, ohne dabei jedoch auf empirische Bezüge gänzlich zu verzichten. Interessanter-weise ist die Kritik an diesen Ansätzen insbesondere im deutschsprachigen Raum ausgeprägt.
Was sind die Kernannahmen postkolonialer Ansätze der Holocaustforschung?
Eine zentrale Annahme dieser Ansätze ist, dass Nationalsozialismus und Holocaust in eine Art kolonialgeschichtliches Paradigma eingeordnet werden können – und sollten. Von linearen kausalen Bezügen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus wird eher nicht ausgegangen, jedoch von ideologischen und strukturellen Gemeinsamkeiten. Diese An- sätze treten in dieser Form seit etwas mehr als 20 Jahren in der Wissen-schaft auf. Ich vermute, dass das auch mit einer allgemeinen Entwicklung in den Geistes- und Sozialwissenschaften zusammenhängt, die sich – auch maßgeblich durch die postkolonialen Studien beeinflusst – mehr als zuvor auf Transfers, transnationale Bezüge und globale Perspektiven fokussieren.
Welche postkolonialen Ansätze der Holocaustforschung haben Sie in ihrer Studie berücksichtigt?
Die von mir untersuchten Ansätze sind schwerpunktmäßig in der Geschichtswissenschaft situiert und stammen vor allem von Jürgen Zimmerer und Dirk Moses. Ich habe mich allerdings auch mit einem erinnerungskulturellen Ansatz von Michael Rothberg sowie ausgehend von Überlegungen des postkolonialtheoretischen Autors Paul Gilroy mit einer Reihe von modernitätstheoretischen Ansätzen beschäftigt. Zimmerer und Moses sind in der wissenschaftlichen Diskussion die Autoren, die in der Diskussion als richtungsweisend gelten. Zimmerers oftmals aufgegriffener Vorschlag eines nicht kausalen, nicht linearen, sondern eher gewalt- und ideengeschichtlichen Weges »von Windhuk nach Auschwitz« wird immer wieder genannt und diskutiert. Rothbergs Studie habe ich ausgewählt, weil sie als eine der ersten Arbeiten überhaupt dezidiert und programmatisch Holocaust- und Postcolonial Studies miteinander in Verbindung bringt.
Wo liegen die Chancen und wo die Grenzen postkolonialer Perspektiven auf den Holocaust?
Jeder Vergleich bietet Erkenntnismöglichkeiten. Das ist eigentlich eine Banalität: denn im direkten Vergleich können Gemeinsamkeiten und Unterschiede von bestimmten Untersuchungsgegenständen deutlicher hervorgehoben und herausgearbeitet werden. Ein Vergleich von Kolonialismus und Nationalsozialismus ist also selbstverständlich zulässig und kann wissenschaftliche Erkenntnisse liefern. Mich hat aber vor allem interessiert, wie, was und aus welchen Gründen verglichen und ob die Schlussfolgerungen überzeugend sind. Eine aus einem Vergleich resultierende Gleichsetzung überzeugt wissenschaftlich nicht, wenn dadurch bestimmte Qualitäten von Gegenstand A oder B nicht adäquat beachtet werden, die eigentlich gegen eine Gleichsetzung sprechen.
Was sind die zentralen Ergebnisse Ihrer Forschung?
Die leitende Fragestellung meiner Arbeit war es, zu rekonstruieren, wie in komparativ-postkolonialen Ansätzen in der Holocaustforschung argumentiert wird. Welche Begriffe werden auf welche Art verwendet, von welchen Grundannahmen wird ausgegangen, welche Forschungslücken sollen geschlossen werden? Und schließlich: Überzeugen die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse? Vor allem interessierte mich dabei, wie und was überhaupt verglichen wird, welche Aspekte von Kolonialismus und Nationalsozialismus bzw. Kolonialgenozid und Shoa in den Blick genommen werden und aus welchen Gründen für eine Kontinuität – und damit: gegen eine qualitative Beispiel-losigkeit der Shoa – argumentiert wird und was damit überhaupt gemeint ist. Ein zentrales Ergebnis meiner Arbeit ist, dass in den von mir untersuchten Ansätzen zentrale Unterschiede zwischen (kolonialem) Rassismus und Antisemitismus nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Worin bestehen diese Unterschiede?
Der moderne Antisemitismus ist gekennzeichnet durch etwas, was in der Literatur häufig als von der Realität entkoppelter, verschwörungstheoretischer Wahn beschrieben wird. Auch wenn man natürlich durchaus und mit gutem Recht argumentieren kann, dass auch Rassismus von der Realität entkoppelt ist, hat er eben nicht diese Art von verschwörungstheoretischer Wahnstruktur, die einen unsichtbaren, übermächtigen und durch und durch bösartigen Feind imaginiert. Rassistische Stereotype funktionieren anders, da sie eher dazu neigen, die rassistisch Stigmatisierten auf ihre Körperlichkeit und/oder moralisch-intellektuelle Kompetenzen zu reduzieren, sie also zum Beispiel als wild oder unzivilisiert, körperlich unter- oder überlegen, als potenziell gefährlich abzuwerten. Der Rassismus dient der Aufwertung des Selbst auf Kosten der Abwertung eines Anderen. Jüdinnen und Juden hingegen werden im modernen Antisemitismus eher mit einem globalen, unsichtbaren, parasitären, nahezu allmächtigen heimtückischen und listigen Feind in Verbindung gebracht, der im Verborgenen für Leid und Elend sorge.
Und wie kommen Sie zu dem Schluss, dass die von Ihnen untersuchten Werke diese Unterschiede nicht ausreichend reflektieren?
Nehmen wir als ein Beispiel die Denkfigur des antikolonialen bzw. subalternen Genozids. Dirk Moses und Jürgen Zimmerer schlagen vor, damit die nationalsozialistische Vernichtung jüdischen Lebens zu beschreiben. Beide argumentieren recht ähnlich, dass Jüdinnen und Juden in der Imagination der Deutschen einen kolonialen Unterdrücker darstellten, von dem sich in einem antikolonialen bzw. subalternen Aufstand befreit werden sollte. So wird die Shoa aus einer zugeschriebenen Sicht der Nazis als ein antikolonialer bzw. subalterner Genozid gedeutet, eine Art antikolonialer Befreiungs-schlag also. Ich halte diese Denkfigur allerdings für problematisch.
Warum?
Prinzipiell liegen Zimmerer und Moses zunächst durchaus richtig darin, dass Jüdinnen und Juden im modernen Antisemitismus eine Übermacht unterstellt wird. Schwierig wird es dann aber, wenn diese fiktive Übermacht mit der einer Kolonialmacht verglichen wird. Denn koloniale Herrschaft funktioniert prinzipiell anders als das, was im Antisemitismus als verschwörerische Beherrschung durch das Judentum imaginiert wird. Außerdem ist es problematisch, sie mit dem Adjektiv »unsichtbar« zu beschreiben. Denn koloniale Herrschaft wirkte in vielen Fällen zwar auch sehr subtil, war vor allem real und manifest. Zum Beispiel in Dekreten und Verordnungen, Handelsbeziehungen, Ausbeutungsverhältnissen, kolonialrassistischen Bildern und Sprechweisen, in kolonialen »Schutztruppen«, die tatsächliche Gewalt ausübten, oder im kolonialen Genozid. Das Judentum dagegen war zu keinem Zeitpunkt ein derart realer Feind oder eine koloniale Macht und wurde auch nicht als Kolonialmacht imaginiert, sondern im antisemitischen Wahn als übermächtiger, bösartiger und unsichtbarer globaler Feind gefürchtet. Außerdem geht in dieser Analogie völlig verloren, warum das Judentum im modernen Antisemitismus nicht nur besiegt, sondern vollständig vernichtet werden soll.
Israelbezogene antisemitische Einstellungen sind auch im postkolonial-theoretisch interessierten Milieu durchaus verbreitet. Statt einer produktiven Debatte darüber scheint das Problem aber vor allem geleugnet oder verharmlost zu werden. Steht das im Zusammenhang mit den Schwachstellen der von Ihnen diskutierten Ansätze?
Tatsächlich gibt es innerhalb des akademischen und/oder politischen Postkolonialismus eine Häufung von israelbezogenem Antisemitismus und Unterstützung der BDS-Bewegung. So haben sich einige prominente, mit der postkolonialen Theorie verbundene Einzelpersonen wie etwa Chandra Talpade Mohanty und Gayatri Spivak pro BDS positioniert und Israel wiederholt als weiß-europäisches, siedlungskoloniales, rassistisches Projekt beschrieben. Möglicherweise wird der Antisemitismus in den »eigenen Reihen« auch deswegen geleugnet, weil er nicht erkannt wird und es von vornherein keinen überzeugenden kritischen Begriff von ihm gibt. Und das wiederum stellt ja auch ein Problem in den von mir untersuchten Ansätzen dar. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Wo ein adäquates Verständnis von Antisemitismus nicht vorhanden ist, kann er auch nicht richtig gesehen, geschweige denn kritisiert werden.
Klävers, Steffen: Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung. Berlin 2019.