Gesundheitssystem am Sterben

Über die Krise des Gesundheitswesens und progressiv gedeutete Unmenschlichkeit schreibt Paul Schuberth.

Kaum eine europäische Zeitung kann man durchblättern, ohne auf Begriffe wie »Gesundheitskrise« oder »Krise der medizinischen Versorgung« zu stoßen. Am Beispiel des früher als vorbildlich gehandelten britischen staatlichen Gesundheitssystems, dem NHS, lässt sich zeigen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt. Studien in – des radikalen Marxismus unverdächtigen – britischen Medizinjournalen wie dem Journal of Epidemiology and Community Health legen nahe, dass die Austeritätspolitik in Großbritannien mit ihren Haushaltskürzungen alleine in den Jahren 2010–2019 zu etwa 300.000 zusätzlichen Todesfällen geführt hat. Das war die Ausgangslage vor der Pandemie, die ab 2020 im Vereinigten Königreich weit über 100.000 Todesopfer forderte und viele Menschen mit Folgeschäden der Infektion und Langzeiterkrankungen zurücklässt. 2024 erhöhte sich die Zahl derer, die aufgrund chronischer Erkrankungen »ökonomisch inaktiv« sind – wie es in der verdinglichenden Amtssprache heißt – auf 2,8 Millionen Menschen, was eine Steigerung um 700.000 im Vergleich zu vor der Pandemie bedeutet. 

Vor fünfzehn Jahren waren es einige wenige Patient*innen im UK, die zwölf oder mehr Stunden in der Notaufnahme auf eine Behandlung warten mussten; heute sind es Hunderttausende. 55 % aller Krebspatient*innen können innerhalb von 62 Tagen nach der Überweisung durch Hausärzt*innen mit ihrer Behandlung beginnen, während es 2010 noch knapp 90 % waren. Das Ergebnis sind laut Guardian 300 bis 500 Todesfälle pro Woche, die mit solchen Verzögerungen in Zusammen-hang stehen. Der Mangel an lebensrettenden Medikamenten hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt. Es gibt Berichte, dass Kleinkinder in staatseigenen Heimen an den Folgen von Schimmelexposition versterben. Krankheitsfälle mit Krätze, Skorbut und Rachitis – letztere sind Synonyme für Mangelernährung – nehmen rapide dazu (15–17 % der britischen Haushalte erleben Nahrungsunsicherheit); Ähnliches gilt für Infektionskrankheiten wie Keuchhusten oder Masern, die sowohl für Kleinkinder als auch für Erwachsene gefährlich werden können. Ärzt*innen geben zunehmend und im OECD-Schnitt überdurchschnittlich oft an, sich ausgebrannt zu fühlen; ein Ausdruck dessen war auch der sechstägige Streik der Assistenzärzt*innen im Jänner. Pflegekräfte wandern in besser bezahlte Jobs nach Neuseeland oder in die USA aus. In einer Zeitung wie der »Versorgerin« muss man nicht extra betonen, dass die Gesundheitskrise auch eine Klassenfrage ist. Wie die »British Medical Association« in einem Thesenpapier angibt, gibt der NHS pro Jahr 2,5 Milliarden Pfund für die Behandlung von Krankheiten aus, die in direktem Zusammenhang mit schlechten Wohnbedingungen stehen. Die Zahl von zwanzig Jahren, die der »healthy life expectancy gap« benennt, das meint einen Unterschied von zwanzig gesunden bzw. nicht gesunden Jahren, traut man sich aus Angst, Vulgärmarxist geschimpft zu werden, kaum niederzuschreiben. 

Wie gestaltet sich nun der dominierende politische Umgang mit all diesen Umständen? Zugespitzt und zusammengefasst: Dieser Umgang nimmt die Form von ideologischen Propagandakampagnen gegen kranke Menschen an. Schon den Kleinsten muss klar werden: Krankheit darf einen nicht daran hindern, jeden Tag Dinge lernen zu wollen, die man fürs spätere sinnlose und krankmachende Schuften brauchen wird. Nachdem der Anteil der »persistent absentees« (Schüler*innen, die wegen Krankheit längere Zeit nicht zur Schule kommen) stetig steigt, wurde nun die Initiative »Moments matter, attendance counts« gestartet. In Broschüren werden Eltern darüber aufgeklärt, mit welchen Erkrankungen sie die Kinder gut und gerne in die Schule schicken sollen. Im Vergleich dazu, in welchem Ausmaß nun kranken Erwachsenen gedroht wird, ist das noch Kinderkram. Premierminister Sunak konstatierte unlängst eine »sick note culture«, eine Kultur der Krankschreibung. Pläne sehen vor, den Hausärzt*innen die Kompetenz der Krankschreibung zu entziehen und sie einem Team von Fachärzt*innen und Arbeitsspezialist*innen vorzubehalten. Die Regierung spricht sich gegen eine »Übermedikalisierung« der Herausforderungen des Lebens aus, also gegen eine Pathologisierung. Der Kampf gegen Pathologisierung hätte in einer besseren Welt den Vorteil, Othering gegenüber Menschen mit weniger verwertbaren Fähigkeiten zu verhindern; in diesem Sinn gemeint, findet ein solches Othering jedoch umso mehr statt. Unterdessen macht die Meldung die Runde, dass im UK neun von zehn Pflegekräften krank arbeiten gehen. 
Ob sich durch die wachsende Zahl der Menschen mit Langzeiterkrankungen und Behinderungen nicht eine größere anti-ableistische Solidarität einstellen müsste – alleine diese Frage nur zu stellen, leistet einem Optimismus Vorschub, der sich eigentlich von selbst verbieten sollte.

Wird öffentlich über die Krise des Gesundheitssystems diskutiert, kommt die anhaltende Pandemie kaum mehr vor. Wenn doch, dann fast nur als etwas, zu dessen Bekämpfung die Politik auf zu weitreichende Maßnahmen gesetzt habe. Welchen Anteil an der Verschlechterung der Gesundheitsversorgung hat Corona noch? Zum einen könnte der drastische Anstieg der Zahl chronisch kranker Menschen und pflegedürftiger Menschen zu einem Teil mit direkten Folgen der Durchseuchung zu tun haben. Es ist bekannt, dass eine COVID-19-Infektion das Risiko u.a. für Herzerkrankungen, Demenz und neurodegenerative Erkrankungen erhöht. Zum anderen haben sich die Dinge in Richtung Sozialdarwinismus verschoben. Es ist ja nicht so, dass wir zu Beginn der Pandemie das »Es sterben ja nur die Alten und Vulnerablen« nur gehört hätten – nein, all das wurde ja in konkrete politische Entscheidungen übersetzt: Studien und Untersuchungen ergeben, dass die zu Beginn und am Höhepunkt der Pandemie durchgeführte Triage in der Praxis behindertenfeindlich war. Im Vereinigten Königreich hatten etwa Menschen mit Down-Syndrom, mit Autismus oder anderen Lernbehinderungen ein wesentlich größeres Risiko, in einer Überlastungssituation der Spitäler mit einer akuten COVID-19-Infektion nicht behandelt zu werden. Maßgeblich dafür waren »Do-Not-Resuscitate«-Anordnungen, welche auch an sich gesunde Menschen, denen wegen ihrer Behinderung allerdings Gebrechlichkeit unterstellt wurde, betreffen konnten. 

Hinzu kommt das Phänomen der »stillen Triage«, also die an Pflegeheime gerichtete Anordnung seitens der Spitäler, ältere Infizierte nicht zur Behandlung zu schicken. Dass all dies ohne gesellschaftlichen Widerstand geschah, und dass Ähnliches durch das Ignorieren der »Interessen« vulnerabler Gruppen heute geschieht, erweitert den Spielraum, wie heute mit der Krise umgegangen werden kann. Die zum Beispiel zu Beginn der Pandemie immer bemühte Direktive, es gehe um die Verhinderung einer Überlastung der Intensivstationen – wodurch die Gesundheit der Einzelnen nicht einmal rhetorisch wichtig genommen werden durfte –, musste Nachwirkungen haben. Dazu gehört, dass es gegen die approbierte Lösung, angesichts der Krise nicht die Krankheits-, sondern die Behandlungslast zu verringern, kaum Einwände gibt. Solche »Lösungen« bahnen sich in vielen westlichen Ländern an. Hier eine kurze Auswahl wahllos zusammengestellter Meldungen: 

In Österreich steht nun zur Debatte, den Zugang zu Fachärzt*innenterminen zu erschweren. Eine Möglichkeit unter vielen, dem Umstand unbesetzter Kassenstellen bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung beizukommen. Wie »Der Standard« und Ö1 berichten, nahm binnen fünf Jahre der Rückgriff auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Altenheimen um 60 % zu. In Finnland wird der gesetzlich garantierte Zeitraum, innerhalb dessen eine Behandlung im Rahmen der Primärversorgung stattfinden muss, von 14 Tage auf drei Monate verlängert; Honorare für spezialisierte medizinische Leistungen werden erhöht; der vorgeschriebene Pflegekraftschlüssel wird verschlechtert; der Selbstbehalt bei Medikamenten wird erhöht; das Krankenhausnetz reduziert die Zahl der Notaufnahmen. In Spanien beträgt die Wartezeit auf Fachärzt*innentermine mitunter zwei Jahre, in Frankreich sollen sechs Milliarden Euro bei der Versorgung Langzeiterkrankter eingespart werden, in Kanada haben sechs Millionen Menschen keinen Zugang zu Hausärzt*innen (family doctors).

Ebenfalls in Kanada startete 2015 das MAID-Programm (Medical Assistance in Dying). Dort lässt sich beobachten, was »die Büchse der Pandora öffnen«, wovor hierzulande Behindertenaktivisten wie die mittlerweile leider verstorbenen Erwin Riess oder Herbert Pichler warnten, in der Praxis bedeutet. 2021 strich dort das Parlament die gesetzliche Anforderung, dass der natürliche Tod einer Person unmittelbar vorhersehbar sein muss, damit diese für die Durchführung eines assistierten Suizids in Frage kommt. Damit fällt das Tabu, Personen, die unter untragbaren Lebensumständen leiden, nicht aber unter einer todbringenden Erkrankung, die Aufnahme in das MAID-Programm zu »gewähren«. 2022 war, mit einem Anteil von 4,1 % an allen Todesfällen, assistierter Suizid bereits die fünfhäufigste Todesursache in Kanada. Dieser Erfolg des Programms wird sich noch steigern; seit März 2024 sind Personen mit psychischen Erkrankungen, darunter solche mit Drogenabhängigkeit, nicht mehr ausgeschlossen. Diese Entscheidungen werden oft mit einer »inklusiven«, progressiven Gleichheitsrhetorik gerechtfertigt.

Man muss nicht einmal leugnen, dass Befürworter*innen dieser Programme die besten Absichten haben können – aber kann trotzdem befürchten, dass Programme wie MAID das Sterben von Menschen als sozialpolitische Lösung von sozialen und Gesundheitskrisen in Kauf nehmen.

 


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Paul Schuberth lebt als Musiker in Linz und Dietach (OÖ).