Neuformulierter Antisemitismus

Marcel Matthies über Edward W. Saids Kampfschrift »The Question of Palestine«.

Die sogenannte Dekolonisierung ist im Universitäts- und Kulturbetrieb weiterhin eines der zentralen Themen. Paradigmatisch dafür steht Charlotte Wiedemanns vieldiskutiertes Buch Den Schmerz der Anderen begreifen (2022), das an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sogar Anlass für eine eigene Veranstaltungsreihe geworden ist. Weil die zu diesem Buch organisierte Ringvorlesung »Erinnerung in Komplexität« erwartungsgemäß vor allem darauf ausgerichtet war, die Geschichtspolitik zu diversifizieren und zu dekolonisieren, ist eine kritische Auseinandersetzung mit Edward W. Said, dem Begründer des Postkolonialismus, ausgeblieben. Nach den Hinrichtungs-, Folter- und Vergewaltigungsexzessen vom 7. Oktober 2023 drängt sich eine Relektüre von Saids The Question of Palestine (1979) auf, um zu prüfen, ob dessen – auf einer immensen Komplexitätsreduktion basierende – intellektuelle Brandstiftung dazu beigetragen haben mag, dass sich heute eine zum Selbstzweck gewordene jihadistische Gewalt als legitime Form der Dekolonisierung inszenieren lässt. Immerhin ist man sich nach 10/7 in einigen Milieus auch dank Saids Theorie schnell darüber einig geworden, dass man den Israelis das an ihnen verübte Massaker nicht so schnell verzeihen wird.

Edward W. Said gilt als die Koryphäe der Postcolonial Studies. 
Verdienst seiner Schrift The Question of Palestine ist es, die Israel-Kritik im Bereich der Theorie salonfähig gemacht zu haben. Er ist Stichwortgeber eines Geschichtsrevisionismus, der dadurch gekennzeichnet ist, die Existenz des Judenstaats für illegitim zu erklären, den Kampf gegen Israel auch im Westen zu einem wichtigen Anliegen politischen Engagements1 zu machen, historisch blind für die – dem Extrem-Ereignis Auschwitz zugrundeliegenden – Besonderheiten zu sein und diese Blindheit zum Zwecke der Agitation gegen Israel zu wenden. So sieht Said Israel nicht nur von einer »kolonialen Apartheit-Politik«2 (49) durchdrungen, sondern er setzt gezielt weitere revisionistische Pointen:

»Ich möchte die Analogie nicht zu weit treiben, aber es stimmt, dass die Palästinenser unter israelischer Besatzung heute genauso machtlos sind wie die Juden in den 1940er-Jahren.«3 Am Aussagegehalt dieses Statements wird die den Postkolonialismus kennzeichnende Unfähigkeit offenbar, historische Unterscheidungen überhaupt noch treffen zu können. In Saids Rhetorik hat die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Zionismus Methode. Said verteufelt den Zionismus so sehr, dass er in ihm nicht nur »eine schlichte Reproduktion des europäischen Kolonialismus nach Art des 19. Jahrhunderts« (100) zu erkennen meint. Stattdessen sei »der Zionismus viel mehr [...] als ein ungerechtes koloniales Herrschaftssystem« (107), denn mithilfe der zionistischen Organisationen werde »auch heute noch das Territorium illegal betreten, besiedelt und vereinnahmt« (107).

Exemplarisch für Saids infame Gleichsetzungen von NS und Zionismus stehen mindestens drei weitere Vorfälle: (1.) Nachdem die Sigmund-Freud-Gesellschaft in Wien im Jahr 2001 eine Einladung an Said zurückgezogen hat, vollzieht sich in Said eine Überidentifizierung mit dem Namensgeber Freud, weil dieser auch aus Wien vertrieben wurde: »Freud was hounded out of Vienna because he was a Jew«, schreibt Said, »Now I am hounded out because I‘m a Palestinian.«4 (2.) Gerhard Scheit hat darauf aufmerksam gemacht, dass der an Juden begangene Massenmord in Saids Texten überhaupt nur dann erwähnt werde, »um die Vertreibung der arabischen Bevölkerung von 1948 damit identisch zu machen.«5 Dies plausibilisiert Scheit wiederum mit Verweis auf ein Said-Zitat: »Ironischerweise«, so Said im Jahr 1995, »gibt es für unser Anliegen [gemeint ist eine finanzielle Wiedergutmachung für die Palästinenser] einen unmittelbaren Präzedenzfall, nämlich in den israelischen Forderungen gegenüber Deutschland«6. (3.) Ähnlich signifikant ist Saids Aussage in einem Interview, das der jüdische Israeli Ari Shavit im Jahr 2000 mit ihm geführt hat: Said antwortet auf dessen Frage, ob es aus seiner Sicht nicht unvermeidbar sei, Israelis zu hassen, mit der vielsagenden Gegenfrage: »What do you feel about the Germans?«7 Wohlgemerkt, es geht an dieser Stelle nicht um irgendwelche Deutschen, sondern um »the German Nazis«.

Saids Kampfschrift The Question of Palestine basiert auf der Prämisse, die Zionisten würden sich die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden vor allem zunutze machen, um eigene politische Interessen durchzusetzen. Um nicht über das Leid der Palästinenser sprechen zu müssen, werde der gesamte Westen indessen erfolgreich von den Zionisten getäuscht: »Zuerst weigerte sich der Zionismus, die Existenz einheimischer Bewohner Palästinas anzuerkennen; nachdem dies unumgänglich geworden war, billigte er den Einheimischen keine politischen oder nationalen Rechte zu. Als aber die Einheimischen ihre Rechte zu fordern begannen, wurde die westliche Welt systematisch dahingehend instruiert, den Kampf um diese Rechte mit Terrorismus, Völkermord und Antisemitismus gleichzusetzen.« (239) Bis 1966 habe man in Israel sogar eine »Terrorisierung und Kriminalisierung jeden arabischen Lebens von der Geburt bis zum Tod« (116) vollzogen. Wenn Said von »Anwendung der Folter, Bevölkerungsumsiedlung und Deportation der palästinensischen Araber« (124), ja sogar von der »Entmenschlichung des Arabers«8 (102) durch die Israelis schreibt, geht es ihm weniger darum, die Leiden der Juden in Auschwitz, Bełzec und Treblinka mit den Folgen der sogenannten Nakba9 zu vergleichen, als sie vielmehr gleichzusetzen und so die Präzedenzlosigkeit der Endlösung der Judenfrage wie nebenbei zu nivellieren. Das Juden zugefügte Leid steht bei Said direkt neben dem von Palästinensern erlebten Leid. Leiderfahrungen von Juden setzen sich Said zufolge sogar unmittelbar in den Leiden der Palästinenser fort. Durch Angleichung von Leiderfahrungen meint er, die Lebensbedingungen staatenloser Palästinenser mit denen von Juden, deren Existenzgrundlagen kollektiv entzogen worden waren, auf dieselbe Stufe stellen zu können. Zweifellos lässt sich hier eine Schwachstelle auch in Wiedemanns Aufruf zur Ausbildung von Empathie10 erkennen, wenn sie den Schmerz der Anderen dadurch begreifbar zu machen sucht, alles Leid unterschiedslos gleich zu machen, es zu anthropologisieren und damit zu enthistorisieren.

Saids Propagandafeldzug zielt dabei nicht auf eine grundlegende Kritik am Konzept der Souveränität ab, sondern richtet sich ausschließlich gegen die Ausübung jüdischer Souveränität. Ihm scheint die jüdische Souveränität als Selbstzweck den Schmerz, die Einöde und das Leid, die sie verursacht hat, nicht wert zu sein.11 Dass die britische Kolonialmacht während des Zweiten Weltkriegs überhaupt eine Einreise von Juden nach Palästina ermöglicht habe, ist für Said ein irreversibles Unrecht: »Ich denke, europäische Juden hätten in anderen Ländern untergebracht werden können, etwa in den USA, Kanada und England. Ich gebe den Briten immer noch die Schuld daran, dass sie Juden nach Palästina kommen ließen, anstatt sie woanders unterzubringen.«12 Somit stellt sich die Frage, inwieweit Saids Geschichtsbild an Wiedemanns Wunschvorstellung anschlussfähig ist, den Schmerz der Anderen überhaupt begreifen zu können. Neben einer absoluten Ignoranz gegenüber dem Projekt der Kibbuzim zeigt sich hier Saids unerbittliche Einstellung gegenüber der ausweglosen Situation von Juden, der sie während des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt waren. Aus Rücksichtnahme auf die arabische Bevölkerung wurden damals von den Briten sehr rigide Einreisebeschränkungen über das Mandatsgebiet Palästina verhängt, sodass eine Rettung von zigtausenden Juden verunmöglicht wurde. Doch aus Saids Sicht sind wahre Juden ohnehin dazu bestimmt, Objekte der Geschichte zu sein, über deren kollektives Exil-Dasein Nichtjuden entscheiden sollen.

Auch deshalb hat der Berufspalästinenser Said – der erstaunlicherweise aus einer christlichen Familie stammt, in guten Verhältnissen in Kairo aufwuchs und in den USA studierte – eine Vorliebe dafür entwickelt, sich mit Theodor W. Adorno, Erich Auerbach oder Leo Spitzer zu identifizieren. Denn diese deutschsprachigen Intellektuellen jüdischer Herkunft waren wie er gezwungen, ins Exil zu fliehen. Said bekennt: »I‘m the last Jewish intellectual. [...] The only true follower of Adorno.«13 ‚Jüdisch‘ zu denken, ist für Said augenscheinlich unauflösbar damit verknüpft, im Exil zu leben. Diese Vorstellung vom Jüdischen folgt einem fragwürdigen Essentialismus. Denn für Said ist das wahre Verständnis vom Jüdischen prinzipiell damit verknüpft, trotz der Shoah einer heimatlosen, passiven und unfreien Lebensweise unterworfen zu bleiben.

Saids Betrachtungen schwanken zwischen einem Verständnis des Zionismus als Kolonialrassismus, das Terror gegen Juden unausge-sprochen als Notwehr legitimiert, und einem, das noch weit darüber hinausgeht: Demnach ist der Zionismus eine Entvölkerungs- und Tötungsmaschinerie. Wer wie Said davon ausgeht, dass »Israel Palästinenser täglich erbarmungslos verfolgt und sogar tötet«14, dem ist die Einsicht sowohl in die Notwendigkeit des Zionismus als auch in die Verteidigung Israels gegen seine Feinde grundlegend verstellt. Indem Said das zionistische Projekt zu einem blutrünstigen Kolonial-Rassismus umdeutet, spricht er der jüdischen »Autoemancipation« (Leo Pinsker) nebenher ab, eine Reaktion auf den modernen Antisemitismus zu sein. Indessen versteigt sich Said sogar zu der Feststellung, der Zionismus habe sich selbst »niemals eindeutig nur als jüdische Befreiungsbewegung verstand[en]; vielmehr hatten die kolonialen Siedlungsprojekte im Orient Priorität.« (81) Anders gesagt: Die Besiedlung Palästinas ist aus Saids Sicht von einem zutiefst kriminellen Charakter der Landnahme und Plünderung durchdrungen. Wer aber ernsthaft annimmt, dem Zionismus sei an der Ausbeutung des Orients gelegen, der verkennt nicht nur das Programm des Zionismus und dessen Hoffnung darauf, frei und nie wieder wehrlos zu sein. Stattdessen knüpft dieses Ideologem nahtlos an den Antisemitismus an, wonach Juden parasitär und raffend seien und funktionierende Gemeinwesen zersetzen würden.

Saids Vorhaben, den Hass auf den Zionismus in eine akademisch aufgemotzte Theorie zu hüllen, wird nicht zuletzt in seiner verzerrten Sicht auf die Frage deutlich, wer die Schuld an einer misslungenen Politik der Anerkennung des Leids der Anderen trägt. Bemerkenswerterweise ist eine solche Anerkennungspolitik richtungsweisend auch für Wiedemanns Buch: So klar wie für Said Antizionismus vom Antisemitismus unterscheidbar sein soll, genauso eindeutig lässt sich für ihn die Frage beantworten, wer dafür verantwortlich ist, den Schmerz der Anderen nicht zu begreifen und stattdessen ausgerechnet da Gewalt einzusetzen, wo Empathie geboten wäre: »Die Nichtanerkennung Israels durch die Araber war meines Erachtens ein Vorgang von sehr viel geringerer Komplexität und Bedeutung als die Negation und später die Herabsetzung der Araber durch die Juden.« (100) Damit dichtet Said den Postkolonialismus systematisch gegen die Erfahrung ab, dass die relevanteste Ursache des arabisch-palästinensisch-israelischen Konflikts im feindlichen Verhältnis der Araber zum Zionismus bestand und bis heute fortbesteht.

[1] https://zeitung.faz.net/faz/geisteswissenschaften/2022-09-21/121f7cb2bc7e5240476fac4ec232fd64/?GEPC=s3
[2] Edward W. Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung. 1981, 49. Erstmals erschienen ist das Buch englischsprachig unter dem vielsagenden Titel The Question of Palestine im Jahr 1979.
[3] »I do not want to press the analogy too far, but it is true to say that Palestinians under Israeli occupation today are as powerless as Jews were in the 1940s.« Edward W. Said: From Oslo to Iraq and the road map. 2004, 206.
[4] Zitiert nach: Dinitia Smith: A Stone’s Throw Is a Freudian Slip. In: The New York Times. 10.03.2001. https://www.nytimes.com/2001/03/10/arts/a-stone-s-throw-is-a-freudian-slip.html
[5] Gerhard Scheit: Jargon der Demokratie. Über den neuen Behemoth. 2006, 185.
[6] Ebd., 185-186. Das Zitat stammt aus Edward W. Said: Frieden in Nahost? Essays über Israel und Palästina. 1997, 220.
[7] Edward W. Said: My Right of Return. Interview with Ari Shavit. In: Power, Politics, and Culture: Interviews with Edward W. Said. Hrsg. von Gauri Viswanathan. 2001, 443-458, hier 449.
[8] Im Original heißt es: »dehumanization of the Arab«. Said 1979, 90.
[9] https://jungle.world/artikel/2019/16/zweierlei-vertreibungen-zweierlei-integration
[10] https://www.suhrkamp.de/buch/fritz-breithaupt-die-dunklen-seiten-der-empathie-t-9783518297964
[11] Said 2001, 452. »Jewish sovereignity as an end in itself seems to me not worth the pain and the waste and the suffering it produced.«
[12] Ebd., 448.
[13] Ebd., 458.
[14] Edward W. Said: Mehr als einen Steinwurf von der Wahrheit entfernt. Ein ‚Kommentar der anderen‘ von Edward Said. Auszüge aus einem Beitrag für die Tageszeitung ‚Al Ahram‘. In: Der Standard, 28.03.2001. https://www.derstandard.at/story/526308/mehr-als-einen-steinwurf-von-der-wahrheit-entfernt