Föderalismus und Staatsversagen

Eine Groll-Geschichte von Erwin Riess.

Der Dozent traf seinen Freund, Herrn Groll, an der Rückseite des Burgtheaters im ersten Wiener Gemeindebezirk. Im Theater wurde »König Ottokars Glück und Ende« von Franz Grillparzer gegeben. In diesem Stück werde Österreichs Gründungsmythos verhandelt, sagte der Dozent. Tatsächlich tat Grillparzer den Schritt zurück ins Mittelalter aber nur, um die versteinerten Verhältnisse im Österreich des Jahres 1820 zu kritisieren, er bediente sich also einer Methode, die hundert Jahre später bei Bertolt Brecht als »Theater der Verfremdung« bekannt wurde. Das gemeinsame Vorgehen von ungarischen und steirischen Rittern – auch die Unterkrain, das heutige Slowenien, stellte Mitkämpfer – brachte nach einer geglückten List den Sieg. Stunden nach der verlorenen Schlacht wurde Ottokar von einem Kärntner Ritter, der dem Lager des Böhmenkönigs angehörte, wegen einer erlittenen Demütigung ermordet.

Vertreter des liechtensteinischen Geschlechts spielten auf Seiten Rudolfs von Habsburgs eine wichtige Rolle. Den steirischen Historiker und Reim-dichter Ottokar von Horneck läßt Grillparzer die berühmten Zeilen sagen:

S‘ ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein / Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen; / Allein, was not tut und was Gott gefällt, / Der klare Blick, der offne, richt‘ge Sinn, / Da tritt der Österreicher hin vor jeden, / Denkt sich sein Teil und läßt die andern reden!

»Aber im Gegensatz zur Ansicht der patriotischen Literaturkritik ist der Text keine Liebeserklärung an Österreich, sondern Ausfluß eines bitteren Sarkasmus, den Grillparzer nach der Ablehnung des Manuskripts am Hofburgtheater entwickelte. Nur ein Zufall, bei dem die Kaiserin eine Rolle spielte, führte dazu, daß das österreichische Entstehungsdrama dennoch aufgeführt wurde. Die Übertreibung ist ein Stilmittel der Ironie, Grillparzer übertreibt hier in jedem Satz. Es gehört eine ordentliche Portion benebelter Heimatliebe dazu, das nicht zu sehen.«

»Grillparzer beschreibt also den Sieg der österreichischen Länder über den König von Böhmen und Herzog von Österreich, der Steiermark, Kärnten und der Krain«, rekapitulierte Groll.

»Man könnte es so sagen. Natürlich, das Burgenland fehlt ebenso wie Vorarlberg und Salzburg, das damals ein Erzbistum außerhalb des beginnenden österreichischen Staatsverbands war. Rudolf hatte nichts zu verlieren gehabt; wäre die Schlacht nach der Papierform ausgegangen, hätte er auf seinen Ansitz im schweizerischen Kanton Aargau zurückkehren müssen. So aber hatte er sich mit seinen regionalen Verbündeten an Ottokars Stelle als bestimmender Player im östlichen Mitteleuropa etabliert. Sie sehen, der Föderalismus ist sehr alt, älter als die Staatswerdung.«

In der Schenkenstraße hielten die beiden vor einem unscheinbaren Bürogebäude inne. »Verbindungsstelle der Bundesländer« stand auf einem Schild.

»Zuerst waren die Länder, dann kam lange nichts«, wies der Dozent auf das Schild. »Spät kamen der sich formierende Staat und seine bescheidene Hauptstadt. Aber von der Mittelaufbringung bis zum Heerbann hatten die Länder jenes Gebilde, das man heute Bund nennt, am Gängel-band. Der immer wieder durchblitzende Chauvinismus der Länder, wie wir ihn am Beispiel Tirol besonders deutlich erleben, hat seine historischen Wurzeln.«

»Dazu kommt noch der erweiterte oder tiefe Staat im Vorfeld des klassischen Staats – ich nenne hier nur den Raiffeisenkomplex, der seinerseits sowohl mit dem Bankensektor als auch mit der Kirche verbunden ist, die Industriellenvereinigung, für die dasselbe gilt und etliche andere vorstaatliche Einrichtungen wie ausgelagerte Universitäten und Fachhochschulen, sowie staatsnahe Medien wie Tageszeitungen und Privatsender. Wobei in der Machtnähe zwischen Boulevardmedien und den seriösen Blättern kein Unterschied besteht. Sie werden in der Kronen Zeitung, im Kurier und im Profil keine längeren kritischen Artikel über die Stadt Wien und Raiffeisen finden, im Standard und Falter findet keine Kritik der Aktivitäten des ausgelagerten und damit keiner demokratischen Kontrolle unterliegenden städtischen Wirtschaftssektors besonders im Immobilienbereich statt. Sie werden in der Presse keine Kritik an Raiffeisen, in der Kleinen Zeitung keine an der monopolistischen Immobilienpraxis der Kirche finden. Und die Bundesländerzeitungen sind Verlautbarungsblätter der Landesregierungen und regionaler Wirtschaftskonglomerate. Die einzige Zeitschrift Österreichs, die sich in einer umfangreichen Serie kritisch mit Raiffeisen auseinandergesetzt hat, war der Augustin, der nicht von Presseförderungen abhängig ist. Eine Obdachlosenzeitung als letzter Hort einer von Gängelung freien Berichterstattung!«

Die beiden wichen einer langsam rollenden Limousine mit oberösterreichischem Kennzeichen aus. Der Wagen blieb stehen, ihm entstieg der FPÖ-Vizelandeshauptmann Haimbuchner. Gemeinsam mit einem jungen Mitarbeiter verschwand er im Bürogebäude.

Den Dozenten schien die Szene zu amüsieren. »Wir haben es in Österreich mit einem ausdifferenzierten liberalen Rechtsstaat zu tun wie Kelsen ihn grundlegte« fuhr er fort. »Dazu gesellt sich das zweite Bein der Macht, die Länder – deren Machtfülle und Großherrlichkeit Kelsens Ansatz diametral entgegenstehen. Die Ironie der Geschichte will es, daß jene Verwaltungsebene, von der man durch den EU-Beitritt annahm, sie werde massiv an Einfluß verlieren – weil sie ja etliche Kompetenzen an die EU abgeben mußte –, sich immer mehr Bundesagenden aneignet. Daß der versagende Gesundheitsminister Anschober die entscheidende Bundeskompetenz in der Seuchenbekämpfung an die Länder abtrat – obwohl die Verfassung ihm alle Durchsetzungsrechte einräumte –, war sowohl eine fatale staatsrechtliche Kapitulation als auch die Hauptursache für das katastrophale Krisenmanagement im ersten Halbjahr der Pandemie, die um tausende mehr Tote als notwendig forderte. Die eine Stelle wußte nicht, was die andere an Ressourcen hatte, jedes Bundesland entwickelte immer verrückter werdende isolierte Ideen, teilweise war das Gesundheitssystem zusammengebrochen, eine verzweifelte Notversorgung war nur durch den Todesmut (keine Masken! Keine Schutzkleidung!) und den unfaßbaren Arbeitseinsatz von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und ihren Kollegen in den Spitälern, den Ordinationshilfen, Schwestern und Pflegern, möglich. Die samt und sonders überforderten Beamten des Gesundheitsministeriums hatten schon in den ersten Stunden der Krise den Überblick vollkommen verloren. Unglücklicherweise war auch der oberste Chef nicht nur überfordert, sondern auch noch eitel und ehrgeizig, in dieser Situation eine toxische Mischung. Sein mitleiderregendes Gewäsch (»die nächsten vierzehn Tage werden entscheiden«) war nur Ausfluß des von ihm zu verantwortenden allgemeinen Chaos, das seinen Ausgangspunkt in Anschobers Kapitulation vor den Ländern und Kanzler Kurz hatte, der plötzlich nicht als Kanzler, sondern als Pressesprecher der Länder fungierte. Die Landeshauptmannkonferenz, die es in der Verfassung als Institution nicht gibt, wurde zum Machtzentrum des Landes und hat diese Position auch nicht wieder abgegeben. Die österreichische Realverfassung hat sich durch die Pandemie entscheidend verändert. Die schleichende Aushöhlung der Bundeskompetenzen und der EU-Zuständigkeiten hat sich dramatisch beschleunigt. Eine für unmöglich gehaltene Kleinstaaterei und ein Provinz-Irresein, das in dieser Schärfe von keinem Kabarettisten erfunden hätte werden können, bestimmen die Szene. Parallel dazu stellten in einzelnen Bundesländern große Teile der Gesundheitsbehörden de facto ihren Dienst ein, Landessanitätsdirektorinnen und leitende Beamte gingen auf mehrwöchigen Urlaub und wenn sie wieder im Amt waren, boykottierten sie die Anstrengungen der Ärzte und Ärztinnen an der Front. Selbstredend, daß niemand wegen eklatanter Arbeitsverweigerung und offener Leugnung der Gefährlichkeit des Virus sanktioniert wurde.«

»Was die Debatten um den andauernden Zweitwohnungssitzskandal, die Bodenversieglung, den Wohnraumverlust, die Sozialpolitik und so ziemlich jedes wichtige Politikfeld der Regierung betrifft, die angesichts der unkontrollierten Machtfülle der Länder immer mehr zu einer Hülle mit Restinhalten verkommen, sind das deprimierende Aussichten.«

Er bitte um ein Fazit, bemerkte Groll.

Der Dozent atmete tief durch und sagte: »Österreich befindet sich auf dem Weg, ein klassisch liberaler Nachtwächterstaat zu werden, in dem die Regierung sich nur um Steuern, Außenpolitik und Flüchtlingsabschie-bungen kümmert. Alles andere machen – völlig ohne Kontrolle und Einspruchsmöglichkeit – die mit jedem Recht so genannten Landesfürsten. Wie angesichts dieser Tatsachen Klima-, Wohnungs-, und Raumordnungs-politik funktionieren sollen, kann man sich ausmalen. Für die zweite Republik wird es daher ein Afghanistan-Erlebnis geben – den sich beschleunigenden Zusammenbruch der demokratischen Strukturen und die Einrichtung von Wohlstandsinseln in Kitzbühel, am Wörthersee und einigen Innenstadtbezirken Wiens, in denen sich die vermögenden Teile der Bevölkerung verschanzen werden.«

»Dann lassen Sie uns die verbleibende Zeit nutzen, um im Pillichsdorfer Weinhaus ein vergorenes Traubengetränk aus dem Weinviertel einzunehmen«, sagte Groll.

Angesichts der aussichtslosen Lage sei das eine materialistische Schluß-folgerung, der er sich gern anschließe, sagte der Dozent. Mittlerweile hatte Landeshauptmannstellvertreter Haimbuchner in seinem Dienstwagen Platz genommen und der Wagen setzte sich in Bewegung. Groll grüßte freundlich mit einer Handbewegung, der Politiker grüßte überrascht zurück.

»Wie muß ich mir das jetzt erklären?« sagte der Dozent verblüfft.

»Er weiß nicht, wer ich bin«, sagte Groll.
 

Grobgliederung der Verwaltung in Österreich (Bild: Gemeinfrei)