Jüdischer Kampf gegen die »Eiterbeule des Nationalsozialismus«

Mit ‚Die jüdische Kriegsfront‘ ist das letzte, posthum veröffentlichte Buch von Vladimir Ze‘ev Jabotinsky erstmals auf Deutsch verfügbar. Alexandra Bandl und Aron Weiss porträtieren den russischstämmigen Zionisten.

Zu Buch und Autor

»Die Schlacht um die jüdischen Kriegsziele wird sich in erster Linie an der Lüge entzünden, man könne sich im Ghetto behaglich einrichten.«

Mit diesem Satz führte Vladimir Ze’ev Jabotinsky seinen Lesern die Notwendigkeit eines jüdischen Staates vor Augen. Das Werk Die jüdische Kriegsfront sollte »der nichtjüdischen Welt die jüdischen Forderungen vortragen« (S.182), in der Hoffnung, es würde einen Beitrag dazu leisten, dass die weltweit verstreuten Juden als vereinigte Kriegspartei an der Seite der Alliierten kämpfen, um gemeinsam am Siegertisch den jüdischen Staat ins Leben rufen zu können. In der englischen Originalaus-gabe wurde »The Jewish War Front« im Jahre 1940 publiziert. Die deutsche Erstfassung erschien jüngst im Freiburger Ça ira-Verlag – noch auf Initiative von Joachim Bruhn.[1] Von den Herausgebern wurden neben einer kurzen Chronik über Leben und Werk Jabotinskys noch zwei umfangreiche Essays im Anhang (wieder-)veröffentlicht. Im Beitrag Renate Göllners werden entlang des Romans »Die Fünf« Jabotinskys Herkunft und dessen Erfahrungen im Odessa der Zarenzeit beleuchtet. Der zweite Essay stammt von Gerhard Scheit und ist eine erweiterte Fassung des ersten Teils der in der Zeitschrift sans phrase erschienenen Reihe »Theorie des Zionismus, Kritik des Antizionismus«.

Jabotinsky wurde 1880 in Odessa geboren. Seine Geburtsstadt war zu diesem Zeitpunkt keine 100 Jahre alt. Es lebten dort neben Russen, Ukrainern, Polen, Deutschen, Griechen, Armeniern und Franzosen auch zahlreiche Juden, die um die Jahrhundertwende die zweitgrößte Gruppe stellten. Hillel Halkin weist in seiner Biographie über Jabotinsky die Behauptung zurück, dieser entstamme einem assimilierten Elternhaus. Gemessen am Stetl, dessen Kinder andere berühmte Zionisten wie Chaim Weizmann oder David Ben Gurion waren, erscheint die bürgerliche Familie Jabotinsky durchaus als assimiliert. Dennoch wurde Jabotinsky im traditionell-jüdischen Sinne erzogen, da die Mutter einen koscheren Haushalt führte sowie die Feiertage und den Shabbat einhielt. Das jiddische Sprichwort »lebn vi got in Ode« (Leben wie Gott in Odessa) zeugt davon, dass Odessa die einzige Stadt östlich von Budapest war, in der sich ein osteuropäischer Jude sowohl zutiefst jüdisch, als auch völlig wohl unter Nicht-Juden fühlen konnte, denn nur dort vermischten sie sich in wirklich neutralen Räumen. Hillel Halkin beschreibt in seiner Biografie, dass Ben-Gurion einmal in den 1930er Jahren bemerkt habe, dass Jabotinsky der einzige ihm bekannte zionistische Politiker sei, der nicht die geringste instinktive Angst vor Nichtjuden habe und sich niemals von ihnen einschüchtern lasse. Nichtsdestotrotz wurde Jabotinsky nicht nur von seinen politischen Gegnern gerne als »unjüdisch« bezeichnet und auch er selbst bemerkt in seinen Memoiren, dass das harsche Klima, in dem viele Juden seiner Zeit aufwuchsen, wohl eine bessere Voraussetzung für eine jüdische Existenz gewesen sei.[2] Dennoch ermöglichte ihm seine Kindheit in Odessa einen aufrechten Gang, der sich in einer beispiellosen Unerschrockenheit in politischen Debatten niederschlug.[3] Im Jahre 1903 wurde Jabotinsky Zeuge des blutigen Kishinev-Pogroms. Vor dem Eindruck der antijüdischen Gewaltwelle gründete er eine Selbstverteidigungsgruppe namens »Jerusalem« und wandte sich dem Zionismus zu. Sich als Jude zur Wehr zu setzen, war durchaus revolutionär und stellte einen Bruch mit der elterlichen Generation dar.

Die jüdischen Kriegsziele

Jabotinsky beginnt seine Schrift mit einer Einführung der jüdischen Kriegsziele. Besonders betont er dabei die Wichtigkeit eines jüdischen Regiments in den Reihen der Alliierten, da dieses allein die Möglichkeit eröffnen dürfte, auch ohne eigenen Staat an der Gestaltung der Nachkriegsordnung mitzuwirken. Als Beispiel gelungener und verdienstvoller Vorgänger nennt er die Jüdische Legion der britischen Armee im Ersten Weltkrieg, welche er mitbegründete. So ist es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass Juden als Juden gemeinsam kämpfen, hoffen und sich aktiv am Kampf gegen »die Eiterbeule des Nationalsozialismus« beteiligen, die »sich in allererster Linie vom Judenhass genährt hat und ohne diese Krankheit niemals seinen gegenwärtigen Reifegrad erreicht hätte« (S. 13). Die Vehemenz, mit der er diese Ziele vorbringt, stützt sich auf die für die damalige Zeit erstaunliche Einsicht in das Ausmaß der jüdischen Katastrophe und die politische Wirksamkeit des Antisemitismus. Vor diesem Hintergrund entwickelt er seine Argumentation über grundlegende Gedanken zum Wesen des Antisemitismus hin zu den praktischen Fragen der Gründung einer jüdischen Heimstätte sowie der massenhaften Evakuierung von anderthalb Millionen bedrängter Juden. Leitthema sind dabei stets die »jüdischen Kriegsziele« und ihre Bedeutung für einen alliierten Sieg, den Jabotinsky in seiner Schrift bereits in bemerkenswerter Weise vorhersagt.

Der »objektive« Antisemitismus

Der Kern des zweiten Kapitels ist die Unterscheidung Jabotinskys eines subjektiven und eines objektiven Antisemitismus. Deutschland (und Österreich) bezeichnet er als Werkstätten des subjektiven Antisemitismus: »Was zuvor lediglich eine unbestimmte Neigung zu planlosen Straßenkrawallen gewesen war, wurde auf deutsche Initiative hin zu einem politischen System aufgewertet.« (S.38). Auch beschreibt er eindrücklich die Improvisationswut der deutschen Regierung, die während des Krieges »recht häufig in entscheidenden Momenten ohne klaren politischen oder strategischen Plan ans Werk gegangen ist« (S.67), womit er an Franz Neumanns Behemoth anschließt. Die Ablehnung des Zionismus führt er als weiteres Beispiel für den Wahn der Nationalsozialisten an:

Der Sadismus möchte sein Opfer nicht verlieren. Der biblische Bericht über den Exodus ist die erste Darstellung dieser kuriosen Wechselwirkung zweier gegenläufiger Leidenschaften. Die eine will die verhasste Brut auslöschen, die andere ihren Auszug verhindern (S. 54-55).

In Polen machten Juden ein Drittel der Stadtbevölkerung aus und arbeiteten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mehrheitlich als Groß-/Kleinhändler, Mittelsmänner, Ärzte, Anwälte, aber auch als Fabrikbesitzer oder im Bankenwesen. Jabotinsky setzt um die 1920er Jahre eine Wende an, da die in die Städte strömende, polnische Arbeiterschaft nun aufgrund der einsetzenden Automatisierung nicht mehr von der Industrie absorbiert werden könne und die ethnischen Gegensätze sich zunehmend verschärften. Am Beispiel der polnischen Genossenschaftsbewegung zeigt er den Unterschied zwischen subjektiv-antisemitischen Bewegungen, die den Juden als Juden schaden wollen und jenen, denen der Schaden an den Juden wesenhaft innewohne, ohne diesen zu beabsichtigen. Auch nimmt er vorweg, dass die Verstaatlichung der Schlüssel-industrien sowie die Bodenverteilung nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gretchenfrage würden, von der die davongekommenen Juden und andere ethnische Minderheiten tatsächlich in besonderem Maße betroffen waren. Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass »auch der objektive Antisemitis-mus in letzter Instanz auf bestimmte subjektive Einstellungen zurückzuführen« (S. 54) sei.

Was zunächst nach einer vulgär-materialistischen Apologie klingt, entpuppt sich durchaus als komplexe Analyse, die die Augen trotz des
an manchen Stellen durchklingenden Determinismus nicht vor der osteuropäischen Realität verschließt. Jabotinsky, der unter günstigsten Bedingungen eine »freundliche Anarchie« (S.78) bevorzugen würde, kommt zu dem Schluss, dass der Verschränkung von ethnischen und sozialen Konflikten nur durch die Schaffung eines eigenen Arbeitsmarkts in einer jüdischen Nation zu begegnen sei. Er erkennt bereits sehr früh das dialektische Verhältnis zwischen Diaspora und Israel, da eine wirkliche Gleichstellung der Juden in Osteuropa allein durch eine »massiv beschleunigte[n] Repatriierung der jüdischen Massen« (S.71) erreicht werden könne.

Der Nordau-Plan für Palästina

Im dritten Teil überprüft Jabotinsky zunächst die verschiedenen Vorschläge zur Ansiedlung von Juden in anderen Ländern, um diese nach einer sorgfältigen Abwägung letztlich zu verwerfen. Mit Blick auf den Plan Max Nordaus aus dem Jahr 1919 beschreibt Jabotinsky im vierten Teil sehr detailliert dessen Voraussetzungen im Mandatsgebiet Palästina. Den Produktivitätsmythos der Kibbuzim teilt er offenkundig nicht, seiner Einschätzung nach erlangt ein jüdischer Staat Autonomie und Wehrhaftigkeit, wenn er so schnell wie nur möglich eine moderne Industriegesellschaft bildet. Der Weg, den er für die »Stiefkinder Europas« (S.161) vorsah, besticht durch Voraussicht, politische Klarheit und mit einem angesichts des Elends unerwarteten Humanismus. Des Weiteren kritisiert Jabotinsky die »Politik der verschlossenen Tür« (S. 135), die den Juden von der britischen Regierung durch das »Weißbuch« zugemutet wurde und für welche es »weder eine moralische noch eine juristische Legitimation«[4] gebe.

In den letzten Kapiteln führt Jabotinsky seine verschiedenen Argumentationslinien zusammen und versucht, die Sorge über die Lage der Araber zu entzaubern. Der bekennende Kosmopolit betont anhand von Auszügen aus dem Entwurf der »Revisionistischen Exekutive«,[5] also dem Schlimmsten, was aus arabischer Sicht eintreten könnte, wie fortschrittlich der zukünftige Judenstaat nach westlichen Maßstäben aussehen könnte. Die Öffentlichkeit habe »keinerlei Grund anzunehmen, die jüdische Staatskunst sei zur Errichtung eines solchen Regimes weniger befähigt als die Englands, Kanadas oder der Schweiz« (S.166). Schließlich kommt Jabotinsky zu der Einsicht, dass all jene Zugeständnisse nicht viel an der Entscheidung der Araber über ihren Verbleib in einem jüdischen Staat ändern würden und auch ein Bevölkerungsaustausch kein Novum darstellen würde. Auch hier besticht Jabotinsky durch seinen Realismus, da er den grassierenden Antisemitismus seitens der arabischen Bevölk-erung als ein Friedenshindernis ausmacht und feststellt, dass es bereits zahlreiche Staaten mit arabischer Mehrheit gibt und die Nationalisten neben dem Deutschen Reich zahlreiche Unterstützer haben. Das Buch endet mit einer detaillierten Aufzählung der jüdischen Kriegsforder-ungen, die eine Quintessenz seiner vorangegangenen Thesen darstellt.
Jabotinsky selbst erlebte weder das Kriegsende, noch die Gründung des Staates Israel – er starb 1940 während einer USA-Reise.

Das Buch

Vladimir Ze’ev Jabotinsky: Die jüdische Kriegsfront, Deutschsprachige Erstausgabe, Ça ira Verlag, Freiburg i. Br. 2021, kartoniert, 256 Seiten, 26,00 EUR

 

[1] Der Mitbegründer der »Initiative Sozialistisches Forum« (ISF), sowie des damit verbundenen Ça ira Verlags ist im Februar 2019 verstorben.
[2] Siehe insbesondere das Kapitel »The Young Jabotinsky« aus: Hillel Halkin (2014): Jabotinsky. A Life.
[3] Laut Jean Améry habe erst die Gründung des israelischen Staates »allen Juden der Welt den aufrechten Gang wieder gelehrt.« Die politischen Forderungen Jabotinskys lassen sich nur vor dem Hintergrund seiner Biografie deuten, da er mit einer Leichtigkeit und Angstfreiheit aufwuchs, die osteuropäischen Juden größtenteils verwehrt blieb, für die er als zionistischer Aktivist jedoch vehement eintrat. Vgl. Jean Améry (2005): Der ehrbare Antisemitismus. Rede zur Woche der Brüderlichkeit [1976], in: ders., Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte, S. 177.
[4] Das »Weißbuch Palästina« beschränkte ab dem 23.05.1939 die Einwanderung zunächst auf 75.000 Juden, um sie anschließend von der Zustimmung der Araber im Mandatsgebiet abhängig zu machen.
[5] Der Begriff Revision bezieht sich auf eine Rückkehr zu Herzls Vorstellungen des Zionismus. Die Revisionistische Exekutive sah einen wehrhaften jüdischen Staat beiderseits des Jordans bis zum Mittelmeer vor, in dem Araber volle staatsbürgerliche Rechte genossen, doch in der Minderheit waren. Dies war nach Auffassung der Revisionisten unerlässlich für das Überleben des Judenstaates und war für die arabische Seite eine große Kränkung, da ihnen Juden in der Vergangenheit als Untertanen (Dhimmis) galten.

Vladimir Ze’ev Jabotinsky (Bild: Gemeinfrei)