Windstärke 7 hatte es. An Land hätten die Bäume mit dem Wind zu schwanken begonnen. Vor diesem Schiff waren alle Schiffe nur Boote gewesen. Blaue Faltboote.
Die innerdeutsche Grenze gab es seit kurzem nicht mehr, die blaue Grenze nach Skandinavien konnten die Insulaner jetzt legal passieren. Das Schiff fuhr von der großen, frisch gewendeten Insel zur kleinen, nördlicheren Insel. Die Familie an Bord wagte ihren ersten Ausflug ins Ausland und landete auf Dänemarks Rønne in einem Irish Pub.
Auf der Rückfahrt übergab sich die jüngste Tochter das erste Mal auf See und schüttete danach eine große Rolle Smarties aus dem Duty-Free Shop in ihren geleerten Magen.
Die Familie lebte mit 29 anderen Einwohnern in einem Inseldorf. Einer von ihnen besuchte erst nach 32 Inseljahren die Nachbarinsel. Die ist 1,5 Seemeilen entfernt, das sind nichtige 2 km und vom dorfnahen Ufer kann man die Insel und ihren Leuchtturm gut sehen. Zu einem Geburtstag hat er die Überfahrt dorthin von der Tochter geschenkt bekommen, sie würde mitkommen. Er musste also. Sie umrundeten die Insel an einem Junitag mit Fahrrädern, holten sich Sonnenbrand und fuhren abends mit der letzten Fähre zurück.
Auf der Breege hat sie sich anfangs oft den Kopf gestoßen. Die Pantryküche lag einige Stufen tiefer als der Gastraum und zum Servieren musste sie ständig die Stufen hinauf und hinab steigen. Wenn der Motor gestartet wurde und alle bereit waren zum Ablegen, stand sie hinter der Bar und hörte den hängenden Biergläsern beim Klirren zu.
Die stießen sich auch ihre Köpfe.
Bei Hochzeiten gab es auf der Stubnitz Spanferkel. Die Schiffseignerin – und später auch Kapitänin – steckte Lichtstriche sprühende Wunderkerzen ins Fleisch, an der Wirbelsäule des Ferkels entlang. So rollte das funkelnde Schweinchen auf die Schiffsgäste zu. Die Kellnerinnen
standen in weißen Blusen vor der Furnierwand zur Pantry und kuckten dazu feierlich.
Zur Kapitänin gehörte auch ein Kapitän. Der war klein, mit weißem Gregory-Peck-Bart und Beinen, die zu einem O gebogen waren. Sie war eine große, wogende Frau mit lila-rot gefärbtem Haar. Unter dem weißen Kapitänshemd trug sie Korsett und an den Hafen, zu den Schiffen ihrer Reederei, fuhr sie mit einem winzigen Cabriolet, das mit Sonne und Mond und Tag und Nacht lackiert war.
Eine ihrer Kellnerinnen verlieh die Kapitänin an ein Flusskreuzfahrtschiff, das in ihrem Hafen Halt machte. Dort hat das Mädchen gelernt, wie Frotteetücher zusammengelegt werden und dass die Kabinen der pensionierten Fahrgäste nie gleich rochen, aber alle alt. Zum Bettenmachen atmete man noch vor der Kabine tief ein. Man faltete das Laken um die gebogene Matratze und ließ diese dann aufschnappen, dann glättete sich das Laken von ganz allein. An Deck des langen Schiffs durfte man nie laufen, das dumpfe Geräusch hätte durch das ganze Schiff gehallt und die Fahrgäste hatten es gerne ruhig. Im Wäscheraum dagegen waren alle Geräusche vom Frottee gedämpft, es war warm und weich und dort ruhte sich die verliehene Kellnerin manchmal aus.
Er hätte den Text für die Hafentour entlang der Hansestadt auch aufnehmen und abspielen können, aber er zitierte ihn manchmal viermal am Tag – wortwörtlich so wie an den Tagen davor. Fuhr man längere Zeit mit dem Stralsunder, konnte man, während man die Gläser polierte oder aus Cappuccinopulver und heißem Wasser Cappuccino mit Sprühsahne obenauf machte, den Monolog mitsprechen. „Meine Damen und Herren, das hier ist Brackwasser. Hier fließen Ostsee und Bodden zusammen. Aal und Hering, Plötz und Zander: alles schwimmt hier durcheinander“. Auf diesem Schiff ist ihr nie ein Bier über Bord gegangen. Einer, der mal eins von ihr bekommen hatte, sagte ihr, sie würde ihn an seine Tochter erinnern und gab ihr – statt Trinkgeld – einen Kuss auf die Stirn. Er sagte, er hätte nun Kontakt zu ihrem Gehirn aufgenommen und sie würde ihn nie vergessen.
Im Frühling rauschte ein Tiefdruckgebiet über eine griechische Fähre, Wasser drang am Heck ein und das Schiff geriet in Seenot. Mit dem Namen El Niño im Kopf ging sie eine Woche später nachts an Deck, weil es stürmte und die Fähre auch griechisch war. Wenn sie untergingen, auf dem Weg nach Korinth, wollte sie nicht in der Kabine eingeklemmt ertrinken, sondern hatte sich vorgenommen, im Havariefall lieber gleich über Bord zu gehen. Auf zwei Plastikstühlen lag sie also im Panoramabug und schlief ein als es endlich hell wurde. Ihre Kabinenmitbewohnerinnen hatten sich einstweilen ihre Getränke von älteren Männern in der Bordbar bezahlen lassen.
Die Nautilus ist kein Schiff. Die Nautilus ist Jules Vernes U-Boot und Kapitän Nemo versenkt damit auf einem Rachefeldzug Schiffe. Die Nautilus ist kein Schiff. Die Nautilus ist ein Restaurant auf der Insel. Darin sitzt die Familie, in maritimer Einrichtung, um den 25. Hochzeitstag zu feiern. Noch im selben Jahr wird die silbergehochzeitete Ehefrau aus dem Haus der Familie ausziehen und es die folgenden 15 Jahre nicht mehr betreten.
Auf den unendlichen Buffets standen Skulpturen, geschnitzt aus Melonen und Eis. Die Männer an Bord lasen Henning Mankell oder den „Spiegel“ und die Frauen lasen Joy Fielding. Es schien, als gäbe es nur Paperbackausgaben auf See. Sie war nach Dubrovnik geflogen, um als Ersatz für eine Blinddarmentzündung, Passagierin einer Kreuzfahrt zu werden. Es gab dort ein Deck mit einer roten Bahn für Jogger. Hier durfte an Deck gelaufen werden. Als das Schiff im Morgengrauen, am Markusplatz vorbei, in den Hafen von Venedig einlief, war nach einer anstrengenden Nacht das Ende der Beziehung der beiden Außenkabinenbewohner beschlossen. Aber Venedig hatte zuvor schon etwas Trauriges an sich gehabt.
Einen Tag hat sie auf einem festgemachten Ponton im Hafen einer winzigen Stadt Kuchen aus einer beengten Kajüte herausgetragen. Am Deck gab es Lichterketten und Strandkörbe für die Gäste, das fand sie schön. Da wäre sie gerne geblieben, gebraucht hat man sie aber nicht länger.
Novemberwetter: Zwei Trekkingrucksäcke, ein blauer Ikeabeutel, eine Sporttasche und zwei klappernde Trollies begrüßen sich laut und lachend und warten, sich gegenseitig die Arme reibend, auf die Weiße Flotte. Zu ihrem 30. Geburtstag setzt das Grüppchen auf eine Insel über. An Deck wird Sekt getrunken und die anderen Fahrgäste schauen den Frauen dabei zu. Am Hafen wartet ein Mann mit einem Handwagen und bringt die Gäste zum Haus. Die Trollies müssen sich selber ziehen. Auf der Rückfahrt fühlt es sich an, als würde etwas auf der Insel zurückbleiben.
Vor Istrien hat ein Schiff den Anker geschmissen, es ist heiß, Bässe schwingen sich von Deck. Eine Frau legt auf, auf ihrem Basecap steht B O Y. Sie startet eine elektronische Boat-Party vor der kroatischen Küste. Ein kleines Motorboot legt kurz an, danach sind mehr Drogen an Bord und ein Mann verkauft Lachgas in Luftballons. Die Holländer haben ihr eigenes Zeug. Where are you from? Eine geschmeidige Engländerin klebt sich Aufkleber mit Schrift, anstatt eines Bikinis, auf die Brüste und tanzt an einer der Stangen an Deck. „Bass moi.“ Am Bug sitzt jemand anderes und ein serbischer Schweizer stellt ihr seinen Bruder vor: „Das ist Slobo. Slobodan. Meine Eltern haben ihn nach Miloševic benannt.“ Er heißt Alexander.
Bevor sie an Bord der Junix geht, wird sie im Auto reisekrank. Noch zwei Tage im holländischen Hafen schwankt sie, ihr Gleichgewichtssinn in einen schläfrigen Dämmerzustand. Sobald es draußen dämmert, wird sie wach vor Angst vor den fremden Geräuschen. Sie kann nicht schlafen, liest „Moby Dick“ und überlegt sich andere Buchtitel. „Nachts seilen sich die Spinnen ab“ gefällt ihr gut. „Skorbut, der Schrecken der Meere“ schreibt sie sich auf, denn es ist kein Sauerkraut an Bord. Später ist sie nicht mehr allein an Bord und es geht aufs Meer, dann ist alles gut, die Übelkeit ist weg und den Kopf stößt sie sich nie. Dem Bootsmitbewohner erzählt sie, dass alle Männer der Familie bei der Marine waren. Die Uniform vom Großvater ist ein schwarz-weißes Foto im Haus der Oma. Er hat keinen Reis gegessen, weil er auf Java in Kriegsgefangenschaft gewesen war. Dort hatte es immer Reis gegeben. Auf der Junix gibt es Couscous. Marcouscous.
Als die Junix über das IJsselmeer fährt, fällt ihr ein, was ihr Großvater auf dem Friedhof hinterlassen hat. „Endlich hat mein Anker den Grund gefunden, der ihn für immer hält.“ Zu seiner Beerdigung kamen die vier verblieben U-Boot Kameraden. Der Großvater war der Jüngste an Bord von U 219 gewesen. Danach hat er dann 4 Jahrzehnte Autos lackiert und geraucht. In der Stadt, unter der er jetzt liegt, fährt immer noch ein Auto mit seinem Wunschkennzeichen.
Der vererbte Volkswagen zählt, wie das U-Boot, bis 219.