Der international besetzte Theaterkongress wurde anlässlich der 125-Jahr-Feiern des Burgtheaters veranstaltet. In die Zukunft weisend wurde im Titel in Richtung Utopie am Theater gefragt: »Von welchem Theater träumen wir?«. Am Ende eines Vortrages passierte dann etwas Unerwartetes: Ein junger Mann erklomm die Bühne, stellte sich als Christian Diaz, Billeteur am Burgtheater, vor und erbat sich fünf Minuten Redezeit, um darauf hinzuweisen, was nicht nur auf der Bühne, sondern »vor der Bühne« passiere – und was beim Kongress aus seiner Sicht nicht genügend thematisiert werde. Nach wenigen Worten wurde er von der auf die Bühne eilenden Kuratorin des Kongresses abgefangen, die ihn auf ein Redeformat am Abend verweisen wollte. Es folgte ein kurzer verbaler Schlagabtausch, bei dem der Billeteur anbringen konnte, dass er nicht beim Theater, sondern über den global agierenden Sicherheitskonzern G4S beschäftigt sei, der außerdem Gefängnisse und Flüchtlingsheime bewache und in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sei. Es gehe ihm darum aufzuzeigen, was auch »vor der Bühne« passiere und dass dies im Zusammenhang mit der Utopie Theater hier nicht behandelt werde. Er riskiere seinen Job, wenn er darauf hinweise. Die Kuratorin verwehrte dem Mann Redezeit, sie habe zwar Verständnis für das Problem, wollte Themen aber doch lieber von Pollesch und Wuttke vorgetragen wissen, die noch kommen würden. Sie ließ sich auch vom eingeworfenen Billeteurs-Argument nicht umstimmen, wie unerträglich dies alles sei, zumal hier auch von den Foucaultschen Heterotopien geprochen werde. Willkommen beim Träumen übers Theater!
Diaz verließ die Bühne, ohne seine eigentliche Rede gehalten zu haben. Die Kuratorin schickte ihm noch ein paar Botschaften in den Publikumsraum nach, allerdings: Die Aktion war gelaufen, denn in diesen paar Minuten hatten sich der Heterotopos Theater und die Realität anscheinend schon so tief in die Augen geschaut, dass im öffentlich proklamierten Zusammenhang von Theater und umstrittenen Security-Dienstleister nicht mehr nichts gewesen sein konnte. Im Gegenteil: Über »den Billeteur«, alias Christian Diaz, Student an der Angewandten, ist in den nächsten Tagen und Wochen viel zu lesen gewesen und gesprochen worden. Elfriede Jelinek, die Anfang November einen »Autorenpreis« beim hochoffiziellen Theaterpreis Nestroy verliehen bekommen hatte, ließ im Rahmen ihrer Dankesrede bei der Verleihung etwa verkünden: »Anläßlich der Geburtstagsfeiern des Burgtheaters hat ein Billeteur versucht, auf die Situation der outgesourcten Mitarbeiter, wie er einer ist, hinzuweisen. Ein Krake, Dienstleistungs-Multi, der, unter all dem, was er sonst noch zu tun hat, auch Programmhefte im Theater verteilen läßt, so wie er gleichzeitig, aber auch zu andrer Zeit, Bootsflüchtlinge und Asylanten bewacht, wurde mit dieser Aufgabe betraut. Der Mann durfte sich nicht aussprechen, weil die Zeit der Veranstaltung zu weit fortgeschritten war. Ich kann hier auch nicht für ihn sprechen, ich müßte ihn schon selbst sprechen lassen. Dafür spricht in den Foren jeder von ihm und kaum einer von der Veranstaltung. Das hätte ich ihnen gleich sagen können.«
Matthias Hartmann, Intendant des Theaters, von dessen Veranstaltung nun anscheinend kaum einer mehr sprach und der sich mit seinem Theater zu Beginn noch von der Aktion, sagen wir, distanziert hat, hat in seiner Rede im Rahmen des Nestroy-Preises ebenso zugestimmt: Diaz habe den Bundestheatern den Spiegel vorgehalten: Er habe Recht, »es braucht Menschen wie ihn. Ihm gebührt ein Nestroy«. Einen Theaterpreis hat Christian Diaz für seinen, von ihm selbst als relativ spontan bezeichneten Auftritt in Folge nicht bekommen – dafür wurde er gekündigt: Von seinem Arbeitgeber G4S, »aus gegebenem Grund«, wie Diaz in einem Interview sagt. Beziehungsweise musste ohnehin kein Grund angegeben werden, denn er befand sich nach zwei Jahren Arbeit am Burgtheater noch (oder wieder) in der Probezeit – eine unter vielen gängigen Praktiken der Outsourcing-Betriebe, die Menschen sich ihrer Verhältnisse nicht sicher sein zu lassen.
Zu Beginn, Mitte Oktober, hat sich ein offizielles Statement vom Burgtheater noch anders angehört: Man verweist auf die kosteneinsparende Auslagerung seit 1996 und fügt an: »Die Direktion des Burgtheaters hat Sympathien mit allen, die in den globalisierten Märkten Gerechtigkeit suchen. Es ist uns bewusst, dass mit dem Besuch einer Tankstelle oder eines Oberbekleidungsgeschäftes der aufgeklärte Bürger in ständigen Gewissenskonflikt gerät.« Das zeigt, wiewohl bewusst und wie gleichermaßen machtlos man sich den gängigen Outsourcing-Praktiken gegenübersieht: Von welcher Tankstelle, ähm, welchem Theater träumen wir? So montiert das Theater an sich seine eigene Funktion eines gesellschaftlich produktiven Heterotops ab, eines per Heterotopie-Definition »wirklichen und wirksamen« Ortes – dieser Ort befindet sich insofern an einem Rand, als dass dort zwar etwas Normatives manifest wird, die Gesellschaft sich aber noch nicht ganz oder gar nicht realisiert hat, sprich, wo noch etwas anderes stattfindet, stattfinden soll oder stattfinden kann – auch in seiner utopischen, richtungsweisenden Funktion für andere Gesellschaftsbereiche, und nicht in seiner völlig kapitulierenden Haltung (!). Diese besondere Version einer Heterotopie Theater, die hier manifest geworden ist, diese offen ausgesprochene Diskrepanz zwischen dem, was auf den Bühnen (mitunter sehr kritisch) verhandelt wird und dem, was hinter den Kulissen passiert, stellt wohl exemplarisch die Begründung dar, die Erregung zu erklären, die dieser kurze Auftritt bewirkt hat – ein breites Unbehagen darüber, was an der gesellschaftlichen Oberfläche an Ästhetik und Haltung behauptet wird, während sich der ökonomische Untergrund und die Gestaltung der sozialen Beziehungen ganz anders aufbauen. Man möchte sagen: Diese Strukturen bauen sich zunehmend perfekt diskrepant, um nicht zu sagen, schizophren auf.
Eine Realität, die viele gesellschaftliche Bereiche betrifft, die aber in diesem speziellen Kontext der Kunst, in diesem performativen Kontext, in der diskursiven Anschlussmöglichkeit besondere Aufmerksamkeit erfahren hat. Überraschend ist allemal, dass jemand von der Stelle eines Billeteurs, also von unterster Stelle, aus einem persönlichen Anliegen für den Bildungsauftrag des Theaters und für eine grundsätzliche Haltung von Kritik eintritt – und sich zunächst alleine vor alle stellt: Als David gegen Goliath. Und so können schließlich Geschichten erzählt werden! Denn Kritik üben viele, und viele kommen damit nicht durch. Aber an diesem erzählerisch pointierten und aktionistischen Kreuzungspunkt konnte hochoffiziell festgestellt werden: dass vieles so gar nicht mehr zusammenstimmt. Seither wurde und wird nämlich über nicht weniger als über Moral und Ohnmacht diskutiert. Es nützte auch nichts, dass das Burgtheater in seinem anfänglichen Statement weiter behauptete: »Nach unseren Recherchen wurden die Geschäftsgebaren der Sicherheitsfirma in Österreich immer wieder als gesetzeskonform überprüft.« Der ORF hat jedenfalls bereits eine Folge des Formats »Undercover Boss« abgesetzt, die im November ausgestrahlt werden sollte[1] (bei dem ein Chef von G4S seine Mitarbeiter bespitzeln, ähm, dort an die Basis gehen sollte) – weil die Korruptionsstaatsanwaltschaft parallel ermittle und man es seitens des ORF für unangebracht hielt, parallel zu sachlicher Ermittlung »ein Factual-Entertainment-Format mit Maskerade oder Verkleidung« zu bringen. Außerdem sorgte der Konzern zuletzt für Aufregung, weil er sämtliche nichthoheitliche Aufgaben im geplanten Schubhaftzentrum in Vordernberg übernehmen soll.
Institutionell hat sich von Beginn an die Interessensgemeinschaft Freie Theater eingeschaltet, die ohnehin die prekären Bedingungen der Freien Theaterarbeit anprangert. Sie bezeichnete in einer Stellungnahme die Praxis des Outsourcings als erschreckend: »Insofern, als dass am unteren Einkommensende millionenschwerer Einrichtungen Menschen aus Effizienzgründen in erodierte Arbeitsverhältnisse entlassen und unhinterfragt Konzernen wie G4S überantwortet werden.« Die IG Freie Theater, die sich für ein generelles Umdenken in der Förderpolitik einsetzt, tritt daher auch »entschieden gegen eine Finanzierung von Firmen wie G4S mit öffentlichen Kulturmitteln ein«, forderte weiters von Burgtheater und Bundestheaterholding gerechte Löhne anstatt Lohndumping und dass dem Outsourcen von Mitarbeiter_innen in Wort und Tat entgegengetreten werde. Real(kultur)politisch sieht das Ganze, trotz der hoffnungsfrohen Stimmung nüchtern, um nicht zu sagen, auseinanderdriftend, aus. Christian Diaz hat sich mit Matthias Hartmann in der Zwischenzeit getroffen, auch in Anwesenheit der IG Freie Theater. Man hat sich nun allgemein solidarisch mit den Anliegen erklärt und will die Bundestheaterholding ersuchen, die Möglichkeiten einer Neuausschreibung des Publikumsdienstes zu prüfen[2]. Der Konzern hat zwischenzeitlich an etwas anderem gebastelt, in Hartmanns eigenem Haus: Er hat Listen auflegen lassen, über die sich Kolleg_innen von der Aktion des Billeteurs distanzieren sollen. Die Billeteure beginnen sich aber nun zu solidarisieren, und man will sich nun mit ihnen treffen. To be continued … es bleibt zu hoffen, dass hier an den Bundestheatern (unter anderen Institutionen) die richtigen Schritte zugunsten der MitarbeiterInnen unternommen werden.
Die IG Freie Theater hat in ihrem Statement aber auch viel allgemeiner formuliert: »Wir träumen mit Christian Diaz von einem Theater, das sich gegen die Abschiebung von Menschen wendet, die in anderen Teilen der Welt unterbezahlt und in Elend die Produkte unseres Wohlstands herstellen.« Man kann wohl in diesem Zusammenhang überdenken, ob es dann reicht, die Frage zu stellen: Von welcher Sicherheitsfirma träumen wir? Denn wenn es um den großen Traum einer gerechten Welt geht, geht es um nicht weniger als um alles – um Moral, Politik, Ökonomie, Widerstand, die Tankstelle und letzten Endes auch ums eigene Konsumverhalten. Und hoffentlich nicht um ein sich langsam verwirklichendes Dystopia, mit einer Vielzahl von nebeneinander stehenden exterritorialen Zonen, die für zutiefst kranke und krank machende Verhältnisse stehen.