Safe Spaces für die Nichtidentität

Nachbemerkungen zur Identitätspolitik: Ein schriftliches Interview mit Richard Schuberth.

Versorgerin: Vor einigen Ausgaben war in dieser Zeitung – anlässlich des Erscheinens deines Romans „Bus nach Bingöl“ – ein Gespräch mit dir zum Thema „Kulturelle Aneignung“ zu lesen (siehe Versorgerin #129). Das Thema Identitätspolitik lässt uns (im weitesten Sinne) scheinbar nicht los – ständig erscheinen Artikel, Bücher und „Streitschriften“, die sich damit befassen. Darum ganz grundsätzlich gefragt: Was verstehst du unter dem Begriff Identitätspolitik und warum beschäftigst du dich damit?

Richard Schuberth: Identitätspolitik (IP) ist ein Wort für recht unterschiedliche Dinge, und das bietet prächtige Möglichkeiten fürs gepflegte Aneinandervorbeireden. Vorausgeschickt sei, dass mir jegliche Einmütigkeit über seine Bedeutung verdächtig ist. Vielen Kritikern merkt man an, dass sie ihre Abneigung aus denselben Feuilletons beziehen, immerhin scheinen sie im konkreten Fall immer besser zu wissen, was diese IP nun ist, als ich, der sich seit über drei Jahrzehnten mit ihr herumschlägt. Für diese Erkenntnissicherheit beneide ich sie. Ich werde deine Frage somit nicht positiv beantworten. Jedenfalls wird IP ebenso auf rechte, nationalistische und fundamentalistische Bewegungen angewandt wie auf die Anerkennungskämpfe der neuen sozialen Bewegungen. Sie scheint sich quer durchs gesamte politische Spektrum zu erstrecken. Mich interessieren die Aspekte, die eine sich als links verstehende IP mit der Rechten teilt. Ohne es zu merken und ohne Ahnung von gemeinsamen ideengeschichtlichen Wurzeln. In der fortschrittlichen Lesart von IP tummeln sich Themen wie Political Correctness, Antirassismus, Wokeness, Sprachgenderung, Queerfeminismus, Critical Whiteness, toxische Männlichkeit, Postkoloniale Theorie ... alles Phänomene, die schon während meines Ethnologiestudiums diskutiert wurden. Damals boten mir ein antiwestlicher Kulturrelativismus sowie die Vergötzung von Differenz und Identität Gelegenheit, den alten Widerstreit zwischen materialistischem und idealistischem Denken im Feld zu studieren, und zwar nicht irgendwo in tropischen Dschungeln, sondern in den geistigen Moden am Campus. Seither ist Kulturalismus eines meiner Hauptthemen, worüber ich auch ein üppiges Buch zu schreiben gedenke, und damit ist schon mal ein kräftiger Happen dieser IP abgedeckt. Was die Identität anbelangt, so komme ich gar nicht damit nach, Safe Spaces für die Nicht-Identität einzurichten.

Trotz deiner mitunter sardonischen Kritik – und das mögen die Woken am wenigsten – verteidigst du IP immer wieder gegen ihrer Kritiker. Riskiert man dabei nicht, von beiden Seiten verachtet oder zumindest missverstanden zu werden?

Besser als von beiden gemocht zu werden, denn das wäre ein sicheres Indiz dafür, dass man zu verbindlich war, Widersprüche nicht aufgelöst hat und der Wagen im bequemen Sowohl-als-auch steckengeblieben ist. Ich suche die Ablehnung ja nicht. Aber in diesem Land wird man schon auf den Verdacht hin, dass man einer sein könnte, der einen nicht mag, nicht gemocht. Das eröffnet riesige Freiheitsräume. Die Arschkarte hat man gezogen, wenn man Dissident unter Dissidenten ist.

Nehmen wir an, diese ominöse IP wäre ein homogenes Phänomen und du wärst kurz mal von deinem Zwang zum fairen Differenzieren entbunden: Was an ihr und welche ihrer Ausprägungen stören dich am meisten?

Über ihre Blindheit gegenüber dem linken Portefeuille (Klasse, Kapitalismus, materielle Bedingtheit etc.) oder ihrem Plan, die Welt durch korrekte Sprache und korrektere Umgangsformen korrekter zu machen, wurde schon genug gesagt. So sieht es jedenfalls aus, wenn der Debütant_innenball zum gesellschaftlichen Widerstand abkommandiert wird. In ihren unappetitlichsten Auswüchsen (und von denen allein rede ich hier) ist IP infantilisierte Gesellschaftskritik. Sie zeigt das Bild, das sich verwöhnte Kinder, die plötzlich die Ungerechtigkeit entdecken, von der Welt machen. Cowboys gegen Indianer. Es ist ehrenhaft, die Partei der Indianer zu ergreifen (obwohl das auch oft perverse Säue waren). Noch ehrenhafter wäre es, die Strukturen von Herrschaft, Imperialismus, Antisemitismus und Rassismus zu verstehen.
Die doofe IP ist die allerletzte mir bekannte Schwundstufe idealistischen Bewusstseins, und exponiert dieses in seiner naivsten Form, das aber mit inquisitorischer Militanz. Nach der postmodernen Aushungerung der alten Aufklärung wiederholt sie alle Kinderkrankheiten der bürgerlichen Gegenaufklärung, nur mit dem Bewusstsein marktgeiler, frisch politisierter Instagram-Poser. Sie macht alles falsch, was Gesellschaftskritik nur falsch machen kann: Sie moralisiert, individualisiert und enthistorisiert gesellschaftliche Dynamik. Wie jedes Moralsystem kennt sie nur antagonistische Kategorien. Und die kennen keinen Humor. Das wäre nicht so schlimm, weil ich dem bemüht inkorrekten Humor ohnehin mehr Cancel Culture an den Hals wünsche, aber wer keinen Witz hat, hat erfahrungsgemäß auch Probleme mit der Dialektik, oder sagen wir, mit Denken allgemein.
Unzweifelhaft ist diese IP Ausdruck eines neuen Puritanismus, einer epistemologischen Eiszeit, die in Anbetracht der mannigfaltigen Krisenhaftigkeit, aber auch als logische Folge des postmodernen Karnevals vorhersehbar war. Damals feierte man mit dem Kult von Ironie, Uneindeutigkeit und Relativismus das Ende der Geschichte und im Grunde den Sieg des Kapitalismus. Jetzt erst merkt man, wie sich so ein Sieg bzw. Ende anfühlt. Kein Wunder, dass man sich vermehrt in exklusiven Communitys und hinter starren metaphysischen Normen zusammenkauert. Fluide Subjekte und minoritäre Kämpfe als Regenbogenkoalitionen einer pluralen Gesellschaft, das war das Schönwetterprogramm. Doch es ziehen Stürme auf, die Monaden, insgeheim ahnend, dass es um jeder gegen jeden gehen wird, werden nervös und klammern sich an Identitäten und Heilslehren. Die aktuellen Bedingungen befördern Essenzialismus und Tribalisierung, in der Rechten wie in der Linken.
IP folgt insofern der postmodernen Kritik objektiver Wahrheitsansprüche, als sie Sprecherposition, subjektive Empfindung und Gruppeninteressen um Deutungshoheiten kämpfen lässt. Andererseits verrät sie die Identitätskritik der Postmoderne und fällt trotz des unangreifbaren symbolpolitischen Jargons auf einen naiven Konkretismus zurück. Das merkt man bei den Pigmentbestimmungen der Critical Whiteness und der PoC. Viele tun nur so, als hielten sie Hautfarbe für ein soziales Konstrukt. Nein, sie meinen wirklich die Farbe der Haut. Wie die Rassisten selbst. Sie reden poststrukturalistisch und meinen naiv realistisch.
Ihre gepanzerten Begriffe sind geronnene Haltungen, zu denen man sich selbst nur in Ablehnung oder Zustimmung positionieren kann. Wahrheiten jenseits ihrer postulierten Polaritäten werden durch die Bank als Herrschaftsdiskurs oder mangelnde Empathie für ihre Kränkungen aufgefasst. Man hat in diesen intellektuellen Feldern das Gefühl, in einer paramilitärischen Kampfzone zu sein, wo jeder produktive Einwand einen Gewehrkolbenschlag ins Gesicht provoziert. Innerhalb ihrer Kategorien herrscht militante Eindeutigkeit, und die macht IP auch so attraktiv für Menschen, die mit diesem Jargon ihre religiösen und faschistoiden Bedürfnisse ausleben dürfen, ohne als religiös und faschistoid zu gelten.
Die Auffassung von Rassismus und Kolonialismus vieler IP-Aktivist_innen ist so unfassbar dumm, dass er die Fachwelt in eine Schockstarre versetzen muss. Die eine Hälfte kriegt den Mund nicht zu, die andere kuscht in opportunistischer Rücksichtnahme vor der guten Sache und Angst vor Jobverlust, weil Studenten nicht nur nicht denken müssen, sondern ein Lehrpersonal, das auf kritischer Reflexion beharrt, per Evaluierung rausgemobbt werden kann. Hätten wir geahnt, wie tief der Antirassismus einmal sinken würde, wäre es wohl besser gewesen, es hätte nie den Rassismus gegeben.
Das Allerscheußlichste an der IP, an der blöden halt (du wirst mich sicher nach der gescheiten fragen), ist also, dass sich hinter der Selbstimmunisierung moralischer Überlegenheit der richtigen Sache ein autoritäres Weltbild einschleicht, wie es sich bei jedem als gesellschaftlicher Widerstand auftretenden Puritanismus breitmacht. Diese Dynamik hat Max Horkheimer in den 1930er-Jahren in seinem wunderbaren Essay „Egoismus und Freiheitskampf“ anhand der Geschichte der Neuzeit erhellt. Ein Text, der Pflichtlektüre sein sollte.
Solch eine IP führt Krieg gegen differenzierendes Denken, das stets wegen seiner Impertinenz des Einspruchs als Komplize des hegemonialen Feinds diffamiert werden kann, weiters gegen jegliche Ambiguität und letztlich gegen Nicht-Identität. Innerhalb ihrer Etiketten, seien es PoC, Alte Weiße Männer oder kulturelle Aneignungen, ist jegliche interne Varianz, sind fließende Übergänge und Polyseme ausgekocht und rausdestilliert.
IP verwandelt gesellschaftliche Widersprüche, anstatt sie in ihrer Relationalität zu begreifen, in einen quietschenden und knarzenden Mechanismus von antagonistischen Instanthaltungen. Geradezu gespenstisch ist die gleichgeschaltete Einmütigkeit, die ihre Slogans und Phrasen bei ihren Anhängern automatisch herstellt. Weil es unterdrückte Wahrheit ist, braucht es keine Wahrheitsprüfung.
Seither wissen wir, dass der in Floridsdorf gestrandete Waldviertler Obdachlose qua Hautfarbe und Zipfelchen privilegierter kolonialer Herrenmensch ist, der sich gefällig beim etwas dunkleren Maharadscha von Bangalore für den britischen Imperialismus zu entschuldigen hat.

Lässt sich sagen, dass diese negativen Auswüchse der Identitätspolitik – wobei ich annehme, dass es sich bei der fein säuberlichen Trennung zwischen der guten und der bösen IP nur um einen hypothetischen Schachzug handeln kann –, lässt sich also sagen, dass diese IP mit ihrer Essenzialisierung von Differenz unwissentlich rechte Denkmodi reproduziert.

Dieses Antidenken sortiert Geschichte und Gegenwart nach Gut und Böse, und weil es sich – die persönliche Erfahrung narzisstischer Kränkung wird zur Grenze der eigenen Empathie und zum Modell der gesamten Welterfahrung – nichts Schlimmeres vorstellen kann, als dass sich Menschen und Gruppen anderen überlegen fühlen, wird alles und jedes nach bösen Haltungen abgescannt, und nach Diskriminierung, die natürlich Materialisierung von Haltungen sein muss. Gesellschaftliche Verhältnisse werden also als Produkte persönlicher Haltungen gelesen. Das ist nicht nur Idealismus in Reinform, sondern auch Ausdruck des Individualismus, so sehr dieser auch nach der Überwindung im Kollektiv sucht. Beide bleiben zwei Seiten einer Münze. Ich verwende diese konstruktivistische Verwendung des Begriffs „lesen“, die mich sehr nervt, nur ironisch gegen die fleißige Leserschaft der IP.
Die Krönung dieses Manichäismus aber ist, dass die Partikularidentitäten, denen Diskriminierung gilt, zu totalen, alles andere überlagernden Leitidentitäten werden, wie Supermagneten bleibt alles an ihnen haften. Nichts, keine Äußerung, die nicht im Sinne homogener Täter- und Opferidentität gelesen wird. Ohrenkratzen eines weißen Mannes wird folgerichtig als weißes Ohrenkratzen „gelesen“, nicht nur das, sogar als weißes männliches Ohrenkratzen. Tränen der Subalternen sind immer Tränen der Unterdrückung, selbst wenn sie aus Empathie darüber vergossen wurden, dass sich der nette alte weiße Herr soeben das Ohr aufgekratzt hat. Oder ein gewohnteres Beispiel: Die Arroganz eines Mannes gerät automatisch zum Geschlechtsmerkmal, was es ja zweifellos sehr oft ist, aber eben nicht immer und nur, während die Arroganz einer Frau sich als weibliches Self-Empowerment durchschwindeln kann. Mich stört hier weniger, dass Menschen durch Identitätsdeterminismus Ungerechtigkeit widerfährt, sondern dass sich im Schutz progressiver Ansprüche askriptive Vereinheitlichungen einschleichen, wie es sie sich nicht mal die Rassenbestimmungsbücher um 1900 getraut haben.  Opfer- und Täterkollektive treten wie naturhafte Schicksalsgemeinschaften auf: Die Kolonisierer und die Kolonisierten, die Kränker und die Gekränkten, die Weißen und die Farbigen ... Ganz Schlaue kommen irgendwann drauf, dass es auch Überschneidungen dieser Identitäten geben kann, und sprechen von Intersektionalität. Aber nie als Widersprüche, als Nüsse, die es zu knacken gibt (weibliche Folterer, farbige Kolonisatoren ...), sondern rein aggregativ, als ginge es wie bei einer Opfer-Lotterie darum, wer der Verdammteste der Erde sein darf.
Statements müssen nicht durchdacht werden, weil sie von Anfang an fertig sind, seitdem Menschen wandelnde Statements sind, Statements ihres Gruppenschicksals. Da wie bei Nation und Rasse innerhalb dieser homogenen Blöcke selten soziale Schichtungen „gelesen“ werden, ziehen sie so viele, dann doch um eine Spur privilegiertere, Trittbrettfahrer an, die mit synthetischer Wut und geballtem Fäustchen nichts unversucht lassen werden, um stellvertretend für die Underdogs unter ihren Brothers & Sisters die oberen Ränge der Gesellschaft zu usurpieren.
Die Tragik ist: Dieser Kinderkreuzzug will mit großer humanistischer Energie und ohne böse Absicht vollenden, was dem Faschismus bislang nicht gelungen ist: die identitäre Vernichtung alles Nicht-Identitären und von Individualität als Endziel von Emanzipation. Und niemand traut sich ihm wegen seiner hochmoralischen Embleme und Psalme in den Weg zu stellen außer die Zyniker der konservativen Mitte. Es müsste Aufgabe der minoritären Emanzipationsbewegungen selbst sein, diesen Auswüchsen Einhalt zu gebieten, schon allein, um zu verhindern, mit diesen verwechselt zu werden.

Auffallend ist, dass bei Identitätspolitik (meist als Schlagwort und geistige Abkürzung, um Reflexe auszulösen) und der Kritik daran die Fronten nicht so klar sind, wie bei anderen Themen. Könntest du die Entwicklung der Debatte aus deiner Perspektive schildern und wie sie zu dieser konfusen Situation geführt hat?

Wie gesagt waren die Frontstellungen schon vor 30 Jahren ähnliche oder dieselben. Vor allem wurde damals heftig um den Identitätsbegriff gestritten. Doch wechseln die Diskurse auch gerne ihre Masken. Man kennt z. B. „Gutmensch“ als Abwertung aus dem rechten oder liberalen Milieu, für engagierte Leute oder alle, die sich nicht mit einer Arschlochgesellschaft abfinden wollen. Wenige wissen, dass er um 1990 von linken Autoren im Dunstkreis des Verlags Edition Tiamat und der Zeitschrift konkret (Klaus Bittermann, Gerhard Henschel, Wiglaf Droste ...) geprägt wurde, um den selbstgefälligen Moralismus innerhalb einer konformistischen Linken von damals zu persiflieren. Das war absolut notwendige Kritik, die großartige Texte zeitigte und deren Lektüre der Debatte nach wie vor wohltäte.
Es wird immer schwieriger, sich in deren Frontstellungen und wechselnden Allianzen zurechtzufinden. Dabei kommt es zu fantasievollen Diskurscamouflagen, denen nicht auf den Leim zu gehen es eines so filigran differenzierenden Bewusstseins bedarf, wie es kaum mehr zu haben ist heute.
Ich wuchs mit dem traditionslinken Dogma auf, dass beim politischen Handeln und Denken einzig das Ergebnis zähle und die Motive einerlei seien. Nichts ist falscher als das! Dieses markige Dogma verstand unter Motiven immer nur subjektive, vielleicht psychische Beweggründe. Aber es gibt nichts Richtiges, das aus seinem ideologischen Kontext gelöst werden könnte. Wer den nicht mitdenkt, wer auch im Diskursiven nicht Taktik, doppelte Böden, Täuschungen und Färbungen mitreflektiert, wer an die Unhintergehbarkeit positiver Aussagen glaubt, ist entweder Positivist oder religiös (oft beides), auf dem Schlachtfeld der Ideen wie auf dem gesellschaftlichen Parkett wird er notwendig ausrutschen. Und es ist kein Zufall, dass IP und marxistisch inspirierte IP-Kritik in ihrem moralischen Rigorismus wie aus einem Ei geschlüpft zu sein scheinen.
Nur zwei Beispiele aus der Debatte. Robert Pfaller schreibt in seinem Bestseller „Erwachsenensprache“ viele kluge Dinge, wendet klassische Puritanismuskritik auf die Wokeness von heute an und führt den von Sennett, Elias und anderen aufgearbeiteten Gegensatz von Gesellschaftsspiel des 18. Jahrhundert versus einem hinter Authentizität und Rechtschaffenheit sich verkapselnden bürgerlichen Ego ins Rennen. Alles schön und gut, wer will nicht hedonistisch und frivol über diese Heulsusen triumphieren, aber das ganze geistreiche Feuerwerk zündet er, der sich für einen Marxisten hält, ab, um letztlich ganz viel reaktionären Unfug, wie Geschlechterrollen und ritterliche Höflichkeit, zu affirmieren. Frauen würden sich z. B. nur zum Schein den Mackern unterordnen, und behielten als Manipulatorinnen des Patriarchats die eigentliche Macht. Ja klar, kennen wir – Herr und Knechtin. So what? Es läuft letztendlich auf einen Sanktus der bestehenden Verhältnisse hinaus. Und in nächster Konsequenz auf eine Neuauflage der nietzscheanischen Ressentimentthese. IP will ja nur Anerkennung und Egalität, also die sozialen Gegensätze planieren, weil sie zu doof für deren smarte Katzbalgereien ist. Doch da geht es nicht um Woody-Allen-Drehbücher, sondern reale Macht und Diskriminierung.
Vielleicht wird eine Gesellschaft, in der Herren und Knechte abgeschafft sind, wirklich langweiliger, vielleicht auch nicht, der marxistische Philosoph wird aber seiner geliebten aristokratischen Screwball-Comedys wohl verlustig gehen, in denen smarte Frauen unaufgeregt mitspielen anstatt zu kastrieren, was mitunter kastriert gehört.
Eine philosophische Kritik der modischen Gekränktheiten mag durchaus ihren Sinn haben, solange sie nicht zu einer Apologie der markttauglichen Abhärtung führt und vergisst, dass es sich bei vielen minoritären Anliegen nicht um Opferinszenierung, sondern die Anliegen realer Opfer handelt, Opfer realer Diskriminierung und Ausgrenzung. Und deren Ansprüche eben nicht Ausdruck von Wehleidigkeit, sondern offensives Heraustreten aus dieser bedeuten.
Andere Baustelle – Sahra Wagenknecht: Ein schematisierendes Ticketdenken würde ihrer Klassenkampf-kontra-Lifestylelinken-Erzählung vorbehaltlos zustimmen, und vielem anderen, was diese extrem schlaue Populistin so schreibt und sagt. Doch genaueres Hinschauen lässt erkennen, dass ihre echten Arbeiter und ihre Kiez-Schnöseln Pappkameraden eines extrem reaktionären Spiels sind, das längst schon nicht mehr als linkspopulistisch bezeichnet werden kann.

Es wäre also leicht – und manche tun das in Wagenknecht'scher Manier – die ganze Problematik einfach als Scheindebatte abzutun und stattdessen zur Rückkehr zu „klassischen linken Themen“ zu mahnen. So einfach ist es aber nicht: Wenn ich dich richtig verstehe, verrennt man sich leicht, wenn man nicht von Beginn an die Meta-Perspektive einnimmt und – klassisch materialistisch – die ganze Debatte selbst als Ausdruck der Verhältnisse begreift?

Im berechtigten Vorwurf der Indifferenz gegenüber Klassenkampf artikuliert sich oft auch ein autoritärer Hass gegenüber Differenz. Beide Seiten benutzen ihren linken Anspruch, um auf je eigene Weise rechte Affektmodi auszuleben. Am explizitesten zeigt diese Tendenz ihre faschistoide Fratze hinter dem Wagenknecht‘schen Dualismus von normalem deutschem Arbeiter und abgehobenem globalisiertem Hipsterlinken. Ich traute meinen Augen nicht, als ich Schwarz auf Weiß in ihrem Buch von der ideellen Harmonie von deutschem Arbeiter und ebensolchem Unternehmer, im sozialpartnerischen Honeymoon der guten alten Erhart-Konjunktur las, der guten alten Zeit also, bevor die Tschuschen, Hippies und Spontis alles vermiesten. Aus welchem Blutacker diese Idylle gesprossen ist und wer sie finanzierte, wird mit keinem Wörtchen erwähnt. Natürlich sind Wagenknechts dekadenten Lifestylelinken die Übertragung des vazierenden, raffenden Kapitals auf die Linke. Sie bezeichnet sie ja in explizit abfälligem Ton als Kosmopoliten. Wagenknecht beherrscht die Kunst, jedem potenziell richtigen Gedanken eine Messerspitze Ressentiment beizumengen, bis Rechte das Linke darin nicht mehr erkennen und dumme Linke nicht das Rechte. Sie bäckt gerade eine Volksgemeinschaft heraus und ist weitaus gefährlicher als die AfD. Warum? Weil ihr so viele dumme Linke, denen trotz ihrer Lippenbekenntnisse dialektisches Denken fremd ist und die deshalb ungesichert gegenüber jedem ideologischen Schein sind, auf den Leim gehen. Das Kalkül: den Diskurs dermaßen mehrfachcodieren, dass er sowohl Linke als auch Rechte mit einem einfachen Dualismus anlockt. Die Linken mit dem teilweise richtigen Antagonismus von Klassenkampf versus neoliberaler Lifestyle-Diversität, die Rechten mit dem Gegensatz vom verratenem deutschen Verlierer und der kosmopolitischen Elite. Die böse Pointe dabei: Den Rechten ist diese Anbiederung schnurz, die bleiben beim authentischeren Management ihrer Ressentiments, aber es triggert den uneingestanden rechten Bodensatz in vielen Linken. Wagenknecht kriegt keine Arbeiter, aber geistig versaute linke Kleinbürger, die per Redwashing traditionell rechte Inhalte entfaschisieren. So à la: Ich bin nicht hirnamputiert, sondern nur ein organischer Intellektueller, der die Sorgen der einfachen Leute ernst nimmt. Oder: Ich bin kein Nationalist, sondern bloß offen für identitätsstiftende Regionalismen als Widerstandspotenzial gegen globalisiertes Kapital. Kurzum: Wagenknecht macht keinen einzigen Rechten links, aber viele Linke rechts.
Eines muss klar sein. Was vom Proletariat übrig geblieben ist, spielt die geringste Rolle. Der sogenannte normale Arbeiter ist hier nur paternalistisch missbrauchtes Bauernopfer. Alle genannten Gruppen rekrutieren sich aus der riesigen, zerfallenden gesellschaftlichen Mitte, und ihre ideologischen Kämpfe sind auch verdeckte Verteilungskämpfe um das gesamte Bourdieu’sche Kapitalienspektrum. Sie machen Kleinbürgerpolitik für Kleinbürger. Und wie schon in der ersten Hochblüte der IP, in der deutschen Romantik, wird der einfache Mann, damals der idealisierte, aber völlig unpatriotische Bauer, vom aufstiegswilligen Bildungskleinbürgertum vorgeschoben. Der völkische Kleinstadtgelehrte kämpfte nicht für soziale Rechte der Bauern im Neoabsolutismus, sondern für dessen kulturelle Anerkennung gegen die Arroganz des französischen Universalismus, natürlich für seine eigene Anerkennung. Damals waren die Lifestyle-Linken die Anhänger der französischen Aufklärung.

Du kritisierst sowohl Auswüchse der IP als auch ihre Kritiker. Worin gleichen sich beide?

Ich kritisiere IP und deren Kritik, wenn ich sie für falsch halte. In einem Essay habe ich versucht, den identitären Charakter der IP-Kritiker hervorzukehren, die diese IP als einheitliches Phänomen konstruieren müssen, um sich als die verfolgte Minderheit bürgerlicher Vernunft dazustellen. Eine wirklich linke Kritik wird beide Pole als Teil derselben neoliberalen Matrix durchschauen. Die einen wollen die Umverteilungsgesellschaft diversifizieren, die anderen sagen: Wir sind liberal genug, ihr spaltet bloß und wollt ein Moralregime errichten. Und dann gibt es solche wie mich, die frech behaupten, sogar diese linke Kritik bedarf der IP als Negativfolie, um zu kaschieren, dass sie dem kapitalistischen Status quo auch nicht wirklich ans Leder will.
Es bilden sich fast täglich neue Fronten und Allianzen, doch grob lässt sich in Bezug auf IP ein Mexican Standoff von drei Duellanten erkennen, welche allesamt die Machtstrukturen affirmieren. Auf der einen Seite die revolutionären woken Kunstunibrigaden, die den Kapitalismus entrassifizieren, entkolonialisieren und entpatriarchalisieren wollen, und das mit einer ethischen Verpflichtung auf Benimmregeln und Symbolkultur, die sie als ahnungsloser ausweist als alles, was Marx & Co. vor 200 Jahren am falschen bürgerlichen Bewusstsein zu kritisieren begannen. (Natürlich beschränken die sich nicht auf Kunstunis, aber lasst mir diese fies-wahre Verallgemeinerung.) Auf sie eingeschossen haben sich die Medien des Mainstreams, die sich erst durchs IP-Bashing als Bannerträger ausgewogener bürgerlicher Vernunft inszenieren können, und mit teils richtiger Kritik daran arbeiten, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Sie inszenieren sich als neutrale Metainstanz und Linienrichter diskursiver Pluralität, geben sich zumindest kulturell nach links hin offen, aber legitimieren die rechte Mehrheitsverachtung gegenüber minoritären Anliegen, indem sie diese als neue Hegemonie aufblasen. Typischerweise wirft diese übermächtige Fraktion der IP vor, die Gesellschaft spalten zu wollen. Und reproduziert damit ihr ideologisches Lieblingsmärchen von gesellschaftlicher Einheit und Harmonie. Natürlich ist Gesellschaft seit jeher zerrissen, gespalten, antagonistisch, und zwar noch immer am eklatantesten entlang sozialer Bruchlinien. Dies zu bagatellisieren, darin sind IP und ihre Kritiker Brüder im liberalen Geiste. Doch holen sich letztere mitunter traditionslinke Scharfschützen ins Boot, über die sie der IP Ignoranz gegenüber dem Sozialen, dem Ökonomischen und der Klasse vorwerfen lassen. Würden diese Linken allerdings nur annähernd so radikal Klassenpolitik betreiben, wie die liberalen IP’s Anerkennungspolitik verfolgen, ließe sich ihre Kritik ernster nehmen. Im besten Fall reicht es bei ihnen aber zu nicht mehr als lauwarmer Sozialdemokratie oder, wie im Fall Wagenknecht, zu „sozialem Konservatismus“, also völkischer Scheiße. Will heißen: Die linken Kritiker einer linksliberalen IP wollen die Gesellschaft weniger verändern, als diese es tun wollen. In dieser Hinsicht ist IP bewunderungswürdig radikal, leider verraten ihre Denkkategorien ein äußerst infantiles Verständnis von Gesellschaft und Geschichte.
Es reicht also nicht, die Auswüchse von IP zu kritisieren, es bedarf auch der Mitkritik ihrer Kritiker, mehr noch: zu erkennen, dass dieser Dreifuß, dieses Mexican Standoff ein prächtiges, Sand in die Augen streuendes Spiel in der kapitalistischen Sandkiste ist. Identitäre Muster bemühen sie alle drei. Auffällig ist aber, dass die liberale Kritik der IP Mücken zu Elefanten aufbläst. Die Mücken fühlen sich, weil oft veritable Wichtigmacher_innen, geschmeichelt und ahnen nicht, dass ihre parodistische Überbewertung dazu dient, die Dosis an Aggression gegenüber ihnen zu steigern.

Kommen wir dann also zu der gescheiten IP. Gibt es Elemente von Identitätspolitiken, die bewahrt werden sollten?

Was heißt bewahrt? Ich finde sie durch die Bank unterstützungswürdig und notwendig. Bis auf die kulturelle Identität. Die kann mir gestohlen bleiben. Bei der freien Wahl nonbinärer Identitäten und den Finessen des Queerfeminismus bin ich mir noch nicht sicher, weil ich überlegenswerte Argumente von verschiedenen Seiten höre.
Das Ausspielen von minoritären Interessen gegen soziale und ökonomische Anliegen ist ein verhängnisvoller Irrtum, zumal beide unentwirrbar miteinander verquickt sind. Dass sich ein beträchtlicher Teil der IP in Sphären abspielt, die einmal als Überbau bezeichnet wurden, heißt ja nicht, dass die Basis darüber vergessen werden muss.
Die Scheidelinie zwischen konformistischer und nonkonformistischer IP liegt für mich in dem Maß begründet, wie sehr sie sowohl die marxistische Tradition als auch das Beste aus postmoderner Kritik absorbiert. D. h. wie sehr sie die Eigentumsverhältnisse miteinbezieht sowie dem Essenzialismus und dem Verknöchern von Identität widersteht, also dem Zerfall in hermetische Communitys oder Individualmonaden.
Solange die emanzipatorischen Gruppeninteressen rinnen statt zu gerinnen, wie provisorische Modulsysteme flexibel, pakt- und solidaritätsfähig bleiben, sind sie unschätzbare Sturzbäche der Subversion, die Geschlechterrollen, rassifizierte Macht und Normativität aushöhlen. Doch nur ein Tropfen eines Ferments namens Essenzialismus, und wir haben den Käse. Feste immobile Laibe mit streng riechendem Ausschließungspotenzial. Solange die Milchströme fließen, können sie zu immer neuen Allianzen und Hybriden zusammenfließen und erkennen einander als notwendige Sekrete der Entfremdung. Doch das alles strebt nach Verfestigung und Essenzialisierung, das heißt, nach der Naturalisierung des Kollektivs. Entfremdung sucht dann nicht mehr ihre eigene Überwindung, sondern stockt zum nicht besonders gut riechenden und verstetigten Opfermythos hermetischer Gruppen.
Das passiert, um drei pathische Bedürfnisse zu erfüllen, ein soziales, ein protoreligiöses und ein psychopathologisches, konkret: Geborgenheit im exklusiven Kollektiv, ontologische Orientierung und Feindbilder. Selbst bei der vernünftig anmutenden Rede vom „strategischen Essenzialismus“ kann man sich sicher sein, dass sie eine Ausrede ist, denn das Ferment ist längst in die Milch getröpfelt, sie beginnt zu stocken. Ein paar Tropfen dieses Labs, und die prächtigsten emanzipatorischen Kämpfe fangen zu stinken an.
Minoritäre Kampfidentitäten im besten Sinn sind offen und provisorisch, sie arbeiten an ihrer eigenen Überwindung, weil eine freie Gesellschaft dank völliger Gleichberechtigung die bestehenden Differenzen entpathetisiert. Es gibt dann keinen Grund mehr für Black Pride, Klassenstolz und „Fuck Patriarchy“, und das trotzige Bekenntnis, non-binary zu sein, wird so viel Begeisterung oder Entsetzen auslösen wie das Coming-out als Briefmarkensammlerin. Im Idealfall gehen aber diese aktivistischen Identitäten ihres Distinktionsgewinns und ihres lebensweltlichen Designs verlustig. Ein sehr lauter und sichtbarer Teil der IP rekrutiert sich aber aus der narzisstischen Sphäre des Mittelstandes, und wie das seit jeher beim bürgerlichen Bewusstsein der Fall war, bestimmt dort das Bewusstsein das Sein. Das heißt, zuerst war die Sehnsucht nach Distinktion und lebensweltlicher Selbstpositionierung, die sich erst die nächstbeste vakante Opferrolle suchen musste. Beziehungsweise machten sich diese IP’s zum Megaphon realer Opfer, sprachen und rappten für sie und wurden instagramgerecht zornig.
Das klingt wie eine böse Unterstellung, aber soziologische Studien würden mit ziemlicher Sicherheit die lautesten Stimmen der IP als diejenigen der oberen Mittelschicht ausweisen. Ansonsten würde nicht ein solches Gewese darum gemacht werden, wenn ausnahmsweise mal ein Arbeiterkind ohne gefakte Street Credibility in die pseudoegalitären Führungsriegen aufsteigen darf. Das ist nicht neu. Als Medien in den späten 1980er-Jahren begannen, Sonderredaktionen für „Ausländerangelegenheiten“ einzurichten, drängten sofort  migrantische Upper-Class-Sprösslinge zu den begehrten Jobs, um etwa eine Gastarbeiterbevölkerung zu repräsentieren, mit der sie zuvor in der öffentlichen Wahrnehmung nie und nimmer in einen Hut geworfen werden wollten. Doch mit der Erzählung von der gemeinsamen rassistischen Diskriminierung wurden sie wider Willen zu Volkstribunen von Communitys, die nur in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft existierten. Ich will natürlich dem iranischen Primarssohn und der dalmatinischen ÖVP-Funktionärs-Gattin rassistische Erfahrungen nicht absprechen, aber die Essenzialisierung einer minoritären Position versucht individuelle Differenzen, auch Opfererfahrung, zu einer einheitlichen Gruppenerfahrung zu egalisieren.
Es gehört mittlerweile zum Kampfrepertoire migrantischer Aktivist_innen, sich gegen Exotisierung zu wehren, paradoxerweise bauen nicht wenige von ihnen gerade auf dieser ihre Karrieren und Distinktionsgewinne im Kunst- und akademischen Sektor.

Du spielst ironisch mit dem Bild der Kunstunis als Brutstätten der IP. Und weist auf den Kampf um Ressourcen und Hegemonie im fortschrittlichen Segment hin. Du dürftest dieses Milieu ganz gut kennen. Diskurse werden von allen Seiten instrumentalisiert. Was am meisten stört dich an diesem Personal der IP, die du ja immer wieder auch verteidigst?

Es gibt einen bestimmten Typus, der sicher nicht die Mehrheit bildet. Ich weiß, wie sehr ich mich damit in die Nesseln setze, aber sei’s drum: Dieses Mikrosystem bietet die perfekte Serviceleistung für verwöhnte narzisstische Mittelstandkids mit echtem oder gefaktem Minderheitenbonus, die bislang Urlaubsfotos gepostet haben, sich mit dem modischen Brand des politischen Aktivismus zu inszenieren. Nie war es für Erfahrungslose einfacher, das Image gedemütigter Rebellen den wirklich Gedemütigten vor der Nase wegzuschnappen. Ohne geistige Anstrengung und Vorarbeit, als lebende Statements und meist gutaussehende Pin-ups der kollektiven Marginalisierungserfahrung – stellvertretend für weitaus marginalisiertere Vertreter ihrer Blutgruppe – Positionen, Marktvorteile und Awareness im linken Marktsegment abzuräumen, und das alles mit dieser stolz-zornigen und unsäglich lächerlichen Black-Panther-Attitüde, die sie auch nur aus Beyoncé-Videos kennen. Und alles an ihnen, bis in die letzte Fiber ihres verdinglichten Bewusstseins, ist Pop, aus dem Schaum des freien Marktes geboren, den diverser zu machen sie überhaupt erst aufgepoppt sind. Nachdem sie diesen Moment ihres Lebens wahrgenommen haben, nicht für, aber mithilfe einer guten Sache eine Marktposition zu erklimmen, können sie zu den Spießern hinaltern, die sie von Anfang an waren.

Nochmal zurück zum Gedanken von Identitätspolitiken als Ausdruck der Verhältnisse – Adorno hat Spinozas (schon von Marx kritisierten) Gedanken, wonach das Wahre sowohl sich selbst, als auch das Falsche anzeigt, umgedreht und darauf insistiert, dass man (im Sinne einer negativ formulierten Utopie) nur über die Kritik des Falschen dem Wahren (anders formuliert: dem guten Leben) auf die Spur kommt. Bevor man sich den Identitätspolitiken widmet, müsste man also bereits bei der Idee von „Identität“ ansetzen? Vermutlich schon im Urschlamm des bürgerlichen Subjekts, bzw. der Aufklärung?

Ich habe mich mit dem Identitätsbegriff noch immer nicht anfreunden können, weil er viel Unterschiedliches ausdrückt, und ich einen Großteil davon für problematisch halte. Eines bleibt er aber: statisch und exklusiv.
Auch wenn er über die Sozialpsychologie erst vor knapp 70 Jahren in den allgemeinen Sprachgebrauch gesickert ist, die Pathologien der Moderne haben seit der Aufklärung auf dieses Konzept nur gewartet. Er liefert die besten Modelle für individualistische wie kollektivistische Verkapselung. Obwohl ich es für widersinnig halte, habe ich meinen Frieden geschlossen mit seiner dynamischen Verwendung, im Sinne der fluiden, polymorphen, strategischen Identitäten, und was es da noch so alles für blumige Attribute gibt. Aber, sagt Rimbaud: „Ich ist ein anderer“ und Nietzsche weiß über die Gruppenidentität: „Die ferneren sind es, welche Eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu Fünfen miteinander seid, muß immer ein sechster sterben.“ Freiheit heißt, dass einer viele werden kann, nicht viele einer. Die liberale Gesellschaft behauptete, dass diese Freiheit schon erfüllt sei, die neoliberale preist sie noch dazu als arbeits- und kulturmarktkonforme Rollenflexibilität an, also Selbstausbeutung als Kreativität. Die Pest mit der Cholera bekämpfen hieße aber, dieser zynischen Ideologie mit neuer Sittlich- und Gemeinschaftlichkeit zu kontern, an deren pathetischem Ernst sich immer das Rattenmuffeln von Heuchelei und Repression erschnuppern lässt.
Ich weiß nicht, ob der eingeschränkte Platz hier zur Beantwortung deiner Frage reicht und ob ich sie ohne Nachrecherche überhaupt beantworten kann, ich möchte nur darauf hinweisen, dass viele der aktuellen identitätspolitischen Debatten die gesamte Moderne begleiten und erstmals im Übergang von Aufklärung zur Romantik artikuliert wurden. In England schon ein, zwei Generationen früher.
Ein paar Stichworte nur: Der Kult der individuellen Empfindsamkeit, die Kränkung als geronnener Identitätsmörtel, Emotionalität als Erkenntniskategorie, und wie oben erwähnt: Mittelstandskarrierismus, der sich der Diskriminierung bestimmter Gruppen bedient: wie Bauern, edle Wilde, Tiroler, Polynesier, Schwaben. Eine kleinbürgerliche Puritanisierung, angeblich gegen die moralische Verkommenheit des Adels gerichtet, aber zudem gegen den Esprit rationalistischer Aufklärung, wie sie schon bei Rousseau und dessen blutigem Schüler Robespierre angelegt ist: Transparenz, Ehrlichkeit des Herzens und sittlicher Ernst, tiefe Verachtung gegenüber Spiel, Travestie und Ambivalenz, eine Tendenz, die immer die Tür zum Totalitarismus aufstößt und umso problematischer ist, je humanistischer und fortschrittlicher sie sich gibt.
In England setzen sich um 1800 die sogenannten Radicals um den von Marx verspotteten Jeremy Bentham auch bereits für alle möglichen emanzipatorischen Freiheiten ein, Freiheit der Frauen, der Sklaven, der Körper – und verbinden es immer mit der Freiheit des Marktes und dem Freihandel. Auch hier die Parallele zur heutigen neoliberalismuskompatiblen IP.
Und nur scheinbar schließen einander damals schon bürgerlicher Individualismus und Gemeinschaftsideologie aus. Die ersten People of Color waren die Deutschen. Das meine ich mitnichten polemisch. Ihre Mittelstandsintellektuellen inszenierten sich erstmals als Opfer einer national codierten französischen Aufklärung. Die war damals in etwa das, was heute als Universalismus, sprich eurozentristischer kolonialer Herrschaftsdiskurs des weißen Abendlandes diffamiert wird. Und sie bastelten mit Herder und anderen ein pluralistisches Gegenmodell des indigenen Self-Empowerments. Damals um 1800 war das deutsche völkische Denken noch Flower Power und verstand sich als gerechte Stimme der Subalternen, Deutsche jammerten als Opfer des französischen Kulturimperialismus. Viele Staaten und Kulturen auf ihren Wegen von angeblich bedrohten zu bedrohlichen Völkern orientierten sich am deutschen Modell der Nationswerdung. Bevor das kulturelle Erwachen automatisch zum Chauvinismus führte. Am erfolgreichsten und abschreckendsten bei den Ideengeber selber, bei den Deutschen. Postkoloniale Staaten mit multiethnischem Gefüge, also wo keine dominante Gruppe zu einfach die anderen unterdrücken und assimilieren konnte, griffen schlauerweise eher auf politische Nationsmodelle, wie das französische und das US-amerikanische, zurück.

Und, ist der Universalismus eurozentristisches koloniales Herrschaftsdenken?

Andersrum. Eurozentristisches koloniales Herrschaftsdenken versuchte sich stets hinter dem Anspruch des Universalismus zu verstecken. Indo-, russo-, sino- und bantuzentrisches Herrschaftsdenken stellen für mich aber auch kein glaubwürdiges Widerstandspotenzial dar. Das Ideal einer transkulturellen kritischen Vernunft, die auch destruktiv sein kann, destruktiv nämlich gegenüber allen Versuchen, sie als europäische Folklore hinzustellen, und gegenüber blöden kulturellen Identitäten sowie einer unkritischen Vernunft, werde ich aber keiner Anfechtung preisgeben. Somit ist mein Beitrag zur Gleichstellung der, dass ich alle, die sich an diesem Heiligtum vergehen, gleich, ob alter weißer Mann oder queere Schottin, der ein Maori aus der linken Schulter wächst, mit derselben unvoreingenommenen Geringschätzung behandeln werde. Gestreichelt werden diese drei exemplarischen Köpfe jedenfalls nicht.
 
Abschließend möchte ich einen von dir vorhin formulierten Gedanken wieder aufgreifen, der emanzipatorische Kampf mit dem Ziel seiner eigenen Überwindung. Marx sprach vom Absterben des Staats, Karl Kraus von der Beschäftigung mit Politik als Voraussetzung ihrer Abschaffung. Egal ob Klassenkampf IP ist oder nicht, gilt dies nicht auch für die Linke allgemein?


Einer der Gründe, warum ich mich als linksradikal bezeichne, für die Überwindung des Kapitalismus bin, die Egalität aller Individuen, die Emanzipation aller diskriminierter Gruppen, den Triumph des Besondren über das Allgemeine, liegt darin, dass wir danach keine Linke mehr bräuchten. Eine doppelte Befreiung. Egal welche ihrer Sekten. Keine identitätspolitischen Dummjargons mehr, kein leninistisches Entschlossenheits-Gaga, keine sich im 5-Jahrestakt wiederholenden Belehrungen über das Gesetz der fallenden Profitrate, die ganze Phraseologie, mit der junge Menschen Denken lernen und aufgrund identitärer Selbstverkrustungen auch gleich wieder verlernen. Die ganze selbstverliebte Seriosität. Mit den verhassten Verhältnissen über den Rand der Weltscheibe gekippt. Hosianna! Leute werden wieder Bücher lesen, und nicht andere Menschen als irgendetwas. Ich werde nicht mehr als alter weißer Mann gelesen werden, sondern als brasilianischer Beach Guard oder schrecklicher Tatarenhäuptling, weil ich so gelesen werden will, und ich muss auch niemanden als Frau oder Buchstabenkombination lesen, aber ich kann damit prahlen, dass ich Balzac als Balzac lese, und mich darin sonnen, wie die auch nicht mehr jungen weißen, braunen, grünen Kids das total exzentrisch, wenn nicht sogar frivol finden.