Theologische Mucken

Maximilian Hauer über religiöse Sprachbilder in der Kritik der politischen Ökonomie.

Auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung, die Marx und Engels seit Mitte der 1840er Jahre entwickeln, verlieren die religiösen Ideen den Schein ihrer Selbständigkeit. »Das Bewusstsein kann nie etwas Andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess« heißt es in Die Deutsche Ideologie.

Hierin liegt von nun an ein Maßstab für jede Religionskritik. Marx statuiert Jahrzehnte später im Kapital auf unmissverständliche Weise: »alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahiert, ist – unkritisch«.
Zunächst steckte die Erforschung dieser materiellen Basis allerdings noch in den Kinderschuhen. Die radikale deutsche Intelligenz des Vormärz war es gewohnt, sich an Problemen der Theologie oder der Philosophie des deutschen Idealismus abzuarbeiten. Als in diesem Kreis der »Junghegelianer« schließlich das Interesse an Politik erwachte, lag es nahe, die neuen Gegenstände mit den bewährten Mitteln der Kritik zu bewältigen.
Hatte Ludwig Feuerbach in seinem Wesen des Christentums gezeigt, dass Gott keineswegs der allmächtige Schöpfer der Welt, sondern vielmehr ein pathologisches Geschöpf der menschlichen Einbildungskraft war, so übertrug Moses Hess diese Figur der Verkehrung von Subjekt und Objekt kühn auf die soziale Praxis.
Zunächst zog der Frühsozialist Parallelen zwischen der Stellung Gottes und der Struktur staatlicher Herrschaft: »die absolute Religion und der absolute Staat ist eben nichts anderes als der Absolutismus der himmlischen und irdischen Tyrannen über Sklaven« (Die Philosophie der Tat).

Alsbald entschlüsselte er die ökonomischen Phänomene nach demselben entfremdungskritischen Verfahren: »Das Geld ist im praktischen Leben den entäußerten Menschen ebenso allmählig und allgegenwärtig, eben so die Quelle alles Heils und Segens, wie Gott es in ihrem theoretischen Leben ist. (…) Alsdann versteht es sich von selbst, dass in derselben Weise, wie das Wesen Gottes, auch das Wesen des Geldes zu bestimmen, dass es nämlich ebenfalls das transzendente, praktisch entäußerte Wesen des Menschen ist.« (Über die sozialistische Bewegung in Deutschland)
Als Einzelner ist der Mensch dem »allmächtigen und allgegenwärtigen Gotte, dem Gelde« (Hess) wie einer transzendenten Macht unterworfen. Erst wenn der Mensch zur Einsicht in das Zusammenwirken der Individuen gelangt und das »Geheimnis des Sozialismus« lüftet, kann er durch einen revolutionären »Gattungsakt« den Götzen Mammon stürzen.

***

Marx war von diesen Gedankengängen Hess‘ in seinen ersten ökonomiekritischen Versuchen zwar tief beeinflusst, ging jedoch schon wenig später, im westeuropäischen Exil, schroff auf Distanz zum Genre des philosophischen Kommunismus. Dessen spekulative Begriffe und Methoden galten ihm nun als Ausdruck deutscher Rückständigkeit.
»Die Herrschaft der Religion wurde vorausgesetzt. Nach und nach wurde jedes herrschende Verhältnis für ein Verhältnis der Religion erklärt und in Kultus verwandelt, Kultus des Rechts, Kultus des Staats pp. Überall hatte man es nur mit Dogmen und dem Glauben an Dogmen zu tun.« (Die Deutsche Ideologie)
Die Übertragung der Religionskritik auf die Phänomene der materiellen Basis sei nicht nur methodisch unausgegoren, sie schien auch die wesentliche historische Tendenz der Bewusstseinsentwicklung zu verfehlen. Zumindest war dies die Hoffnung im Kommunistischen Manifest, das im Revolutionsjahr 1848 gerade die Transparenz der bürgerlichen Gesellschaft herausstrich: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. (…) Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. (…) Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. In einer Gesellschaft, in der nur noch das nackte Interesse und die bare Zahlung zwischen den Individuen vermittle, verdränge zweckrationales Kalkül alle anderen Bewusstseinsformen. Die Kritik der Religion schien sich daher erübrigt zu haben.«

Eine vom Gefühl beherrschte, religiöse Vergangenheit weicht einer »nüchternen« Gegenwart, in der Verstand und Interesse regieren. Diese Erzählung erinnert an die Fortschrittstheorien der Aufklärung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der positivistischen Lehre fortlebten. Deren Ahnherr Auguste Comte unterteilte die Entwicklung der menschlichen Geschichte in drei aufeinander aufbauende Stadien, die durch verschiedene Geisteszustände geprägt seien: Theologie, Metaphysik, positive Wissenschaft. Während so manche im Prozess der Zivilisation zurückgebliebene außereuropäische »Rasse« nach Comtes Rede über den Geist des Positivismus 1844 noch irgendwo im religiösen Stadium zwischen Fetischismus und Polytheismus festhing und selbst »bei der großen Mehrzahl der weißen Rasse« noch der Monotheismus sein Unwesen trieb, habe sich bei der »geistigen Elite der Menschheit« ein Übergang aus jenem kindlichen Zustand in das »Mannesalter unsere Geistes« vollzogen. Die Gegenwart verklärt sich selbst zum Zeitalter der endlich herangereiften Vernunft, hervorragend verkörpert durch die Figur des Wissenschaftlers.

***

Das Manifest feiert das Bürgertum als revolutionäre Klasse und kolportiert daher Züge des bürgerlichen Selbstverständnisses. In seinen späteren Schriften war Marx weitaus skeptischer gegenüber dem aufgeklärten Selbstverständnis der bürgerlichen Epoche. Seine Auseinandersetzung mit dem Fetischismus in der Kritik der politischen Ökonomie ist hierfür beispielhaft.

Der Begriff »Fetisch« kommt ursprünglich aus dem Portugiesischen, religionswissenschaftliche Schriften verwenden ihn seit dem 18. Jahrhundert mit einem abwertenden Einschlag. In der religiösen Praxis des Fetischismus verehren die Fetischdiener profane sinnliche Gegenstände, denen sie übernatürliche Kräfte zusprechen. Wie bei Comte gesehen, galt diese Form des Kultes gemeinhin als besonders primitiv. Als religiöses Objekt ist der Fetisch von Menschen hervorgebracht, die einen Gegenstand sakralisieren und etwa in Hoffnung auf seine Schutzwirkung verehren. Erfüllt der Fetisch nicht den gewünschten Dienst, wird er wieder profaniert. Der Fetisch hat somit zwar eine gewisse Macht über den Fetischdiener, doch ist das Heilige hier nicht völlig unverfügbar.

Was hat dies nun mit dem Kapitalismus zu tun? Im Kapital versucht Marx, die Leserin dazu zu bewegen, mit ihm über die gesellschaftlichen Formen nachzudenken, die das Leben in unserer Epoche angenommen hat. Dabei gilt es zunächst den Schein ihrer Selbstverständlichkeit zu durchbrechen. Da wir es im Alltag immer mit den fertigen Resultaten der kapitalistischen Gesellschaft zu tun haben, besitzen diese Formen für das vorwissenschaftliche Bewusstsein »bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens«.

Gerade diese vertrauten, zur zweiten Natur gewordenen sozialen Formen, in denen wir uns tagein, tagaus bewegen, sollen uns problematisch werden: »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.«
Während der erste Blick auf die Ware die Gewissheiten des Alltags bestätigt, will Marx einen zweiten Blick provozieren, in dem das Vertraute in anderem Licht erscheint. Das vorher eindeutige wird zweideutig, wie in einem Vexierbild. Wo der gesunde Menschenverstand nur einen ordinären Holztisch zum Verkauf sieht, entdecken wir »ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.« Das Unheimliche bricht in das Altbekannte herein, wir werden uns in der eigenen Erfahrung fremd.

***

Ist es bloße Effekthascherei, gar romantische Lust an der Verrätselung, die aus diesen und ähnlichen Passagen zum »Fetischcharakter der Ware und seinem Geheimnis« spricht? Das hieße, den Erkenntniswert der religiösen Metaphern allzu gering veranschlagen. Denn Marx unterstellt eine wirkliche Ähnlichkeit zwischen der religiösen Entfremdung und den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise, die solche Übertragungen erst erlaubt:
»Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt (…) aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.« (Das Kapital)

Hier sind sie wieder, die Motive aus Feuerbachs Religionskritik: die Verkehrung von Subjekt und Objekt, das »Quidproquo« von Produzentin und Produkt, die Unterwerfung der Menschen unter ihre eigenen Schöpfungen, die sich ihnen gegenüber verselbständigen. Was bei der prosaischen Ware anfängt, steigert sich in der »Magie des Geldes« und kulminiert im Kapital als »automatisches Subjekt«, »sich selbst bewegende Substanz«. Anklänge an untote Automatenmenschen sind ebenso wenig zu überhören, wie Anspielungen auf den philosophischen Gottesbegriff.

Ist das Kapital also Gott? Durch sich selbst seiend und sich selbst genügend, allgegenwärtig und allmächtig? Dabei nicht einmal liebender Vater, sondern ein böser Dämon ohne Erbarmen? Und bestünde Marx‘ Kritik dann im verzweifelten Aufzeigen eines nicht zu wendenden Schicksals?
Nein. Zwar ist die Verselbständigung des gesellschaftlichen Lebensprozesses gegenüber den Individuen im Kapitalismus durchaus real. Marx‘ Reminiszenzen an Metaphysik, Theologie, Märchen und sogar den ‚primitiven‘ Fetischismus weisen den Bürger polemisch darauf hin, dass das Irrationale mitten in der aufgeklärten Zivilisation sein Unwesen treibt, statt ihr äußerlich zu sein. Trotz der Entwicklung von Kenntnissen und Fähigkeiten auf allen Gebieten sind wir nicht aus der Archaik der »Vorgeschichte« herausgetreten, in dem sich die Reproduktion der Gesellschaft ungeplant, blind und katastrophenhaft, »hinter dem Rücken der Produzenten« vollzieht.

Gleichwohl drückt sich in der Analogie des Fetischismus aber auch der Optimismus aus, das »Geheimnis« des Kapitalismus in ähnlicher Weise enträtseln zu können, wie das Geheimnis der traditionellen Religionen, die ihre gesellschaftliche Wirkmacht bereits weitgehend eingebüßt hatten.
Mit einer Denunziation von »Dogmen und dem Glauben an Dogmen« ist es dabei freilich nicht getan, wie Marx bereits in der Deutschen Ideologie gegenüber seinen junghegelianischen Zeitgenossen eingewandt hatte.

Vielmehr gilt es den materiellen Reproduktionsprozess der Gesellschaft einer genauen Analyse zu unterziehen, sodass historische Genese und systematische Logik der kapitalistischen Produktionsweise kenntlich werden: eine Spurensuche, die gerade die »vermittelnde Bewegung«, das Werden des kapitalistischen Gottes offenlegt. In der Nachzeichnung dieser Vermittlungsbewegung im Kapital zeigt sich, dass es keineswegs eine Natureigenschaft menschlicher Arbeit ist, Waren zu produzieren, so wie es keine Natureigenschaft physischer Dinge ist, einen Tauschwert zu besitzen – was innerhalb der fix und fertigen kapitalistischen Gesellschaft aber als »gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge« erscheint.

Die Kritik der politischen Ökonomie stellt also einerseits die wirkliche Verselbständigung der Gesellschaft dar, andererseits durchbricht sie
den Schein einer anthropologischen Notwendigkeit dieses Zustands und öffnet so den Blick auf die Möglichkeit einer anderen Form der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion. Sie führt die Leserin in Gedanken über die Formen hinaus, in denen sie sich tagtäglich »völlig zu Hause« fühlen muss – eine Befreiung der Einbildungskraft vom Konservatismus des Alltagsverstandes: »Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. (…) Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht.«
Kann kritische Phantasie dieses Ziel auch in Umrissen antizipieren, so macht sich Marx keine Illusionen über den dornigen Weg, der zu seiner Verwirklichung und damit zur Außerkraftsetzung des Fetischismus führt. Arbeitern, die die Eigentumsverhältnisse ändern wollen, prophezeite er nicht weniger als »15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe« (Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln).

Der Holztisch im Kapitalismus: Ein sinnlich übersinnliches Ding (Bild: Nevit Dilmen (CC BY-SA 3.0))