Sie warteten auf einen Bus der Linie 64, die vom Bahnhof Termini zum Petersplatz in Vatikan führt. Der Dozent hielt in seiner Linken die zusammengerollte Ausgabe der kleinen kommunistischen Tageszeitung »Il Manifesto«, in der anderen Hand trug er eine Ausgabe der rechtsliberalen »La Stampa.« Groll erfreute sich an den präzisen Anfahrmanövern der Chauffeure in dem ausgedehnten Busbahnhof.
Die beiden blieben im Schatten einer überlebensgroßen weißen Marmorstatue des einstigen polnischen Papstes. Sie gehöre zum Hässlichsten, was er je gesehen habe, bemerkte der Dozent, sie sei sogar noch abstoßender als die Jesuitenkirche in Wien, die von Opus Dei Angehörigen gern für Taufen verwendet wird, wenn die Wiener Peterskirche sich als zu klein erweise.
»Seit wann verkehren Sie beim Opus Dei?« fragte Groll erstaunt.
»Als Wissenschaftler bin ich gezwungen, ein breites Spektrum der Bevölkerung zu beobachten. Und als Kriminalsoziologe darf ich mich von den frömmelnden Herrschaften nicht blenden lassen«, sagte der Dozent und zwinkerte Groll zu. »Unter den größten Finanzspekulanten und Steuerhinterziehern befinden sich nicht wenige ultrakonservative Würdenträger aus der Hochfinanz. Ich darf Sie daran erinnern, daß vor nicht langer Zeit der argentinische Papst die führenden Finanzexperten der Kurie abberufen und in entlegenere Bereiche, zum Beispiel zu den Malteserrittern, ausgelagert hat. Daraufhin schworen die verbitterten Herren dem Papst bittere Rache; es ist ein Wunder, daß der Pontifex noch lebt. Seine Entscheidung, nicht in den angestammten Papst-Räumen zu logieren, sondern unter seinen engsten Freunden, muß auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Gottseidank reagierte die Papst-Partei auf die Anwürfe der Reaktion mit der Veröffentlichung geheimer Dokumente, die Verflechtungen der alteingessenen Finanznomenklatura mit der römischen Mafia belegen. Seither sind sowohl kirchliche Gruppen und Orden als auch das römische Besitzbürgertum in Aufruhr und ziehen hohe Beträge von ihren Konten in der Vatikanbank ab.«
Der Dozent war wohl bei einer Hochzeit in katholischen Elitekreisen eingeladen und hat dabei allerlei aufgeschnappt, dachte Groll. Vielleicht gehört es in der Hietzinger Hautevolée zum guten Ton, den Bund der ewigen Ehe im Schutze der Jesuiten in deren Kirche zu besiegeln.
»Der Begriff Hautevolée zählt im übrigen zur österreichischen Umgangssprache, in Frankreich nennt man die Angehörigen der oberen Zehntausend die Haute Société«, meinte der Dozent als hätte er die Gedanken seines Freundes erraten.
Er danke für die Belehrung, erwiderte Groll und wies darauf hin, daß es für die High Society erstaunlich viele Namen gäbe. »Für meine Bevölkerungsklasse, die ‚Unteren Hunderttausend‘, gibt es da nicht so viel Auswahl, will man nicht in beleidigende Formen wie ‚Prolet, Ruß oder Lurch‘ abgleiten.«
Woran man wieder sehe, daß die Definitionsmacht sozialer Verhältnisse eine historisch gewachsene Kampftechnik der Upperclass sei, erklärte der Dozent. Wie solle man einen Standpunkt beziehen, wenn man nicht einmal über einen allgemein akzeptierten Begriff der Klassen- und Schichten verfüge. »Bei Ihnen als behinderter Mensch trifft das ja in besonderem Maße zu.«
»Da mögen Sie recht haben«, erwiderte Groll und hielt nach dem Bus Ausschau. »Ich bin sozusagen ein rollendes Prisma der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es gibt aber einen Begriff, der beide Dimensionen meiner Existenz auf eine streng wissenschaftliche und nicht abwertende Weise ausdrückt.«
»So? Da bin ich aber gespannt.«
»Ich habe lange nach ihm gesucht«, sagte Groll. »Erst in der Französischen Revolution, genauer gesagt, in den Schriften der Aufklärer um Diderot und Voltaire, bin ich fündig geworden. Es ist dort immer wieder von der unbedingt erforderlichen Erhöhung der niederen Stände die Rede.«
»Ich beginne zu verstehen …« Der Dozent faltete die Zeitungen zusammen und verstaute sie in seinem Stadtrucksack.
»Sie sehen in mir einen stolzen Vertreter der niederen Stände«, sagte Groll. »Begriffe sind Knotenpunkte der Erkenntnis, Werkzeuge des Denkens, und mit diesem Begriff können Sie meine Doppelexistenz adäquat erfassen. Einerseits Angehöriger der sozialen Unterschicht, anderseits durch eine Laune des Schicksals auf die Augenhöhe eines Kindes reduziert. Für mich ist die Erhöhung der niederen Stände keine philanthropische Marotte sondern eine Lebensnotwendigkeit. Vom vielen Hinaufschauen bekommt man nämlich Verspannungen der Nackenmuskulatur und Kopfschmerzen. Das ist ja auch der Grund, wieso ich Stehpartys- und Stehempfänge grundsätzlich meide. Die Erhöhung meines Ranges ist folglich eine Frage der physischen und psychischen Gesundheit. Im Übrigen lässt sich dieser Befund für alle Angehörigen der niederen Stände verallgemeinern.«
Nun trat der Dozent vor und schaute nach dem Bus.
»Der Bus ist im Anrollen«, sagte er. »Der Reiseführer empfiehlt, auf Gepäck und Uhren Obacht zu geben. In der ‚Vatikan-Linie‘ sei die Gefahr von Taschendieben besonders groß.«
»Die Linie 64 wird stark von Klerikern frequentiert. Sie ist die Hauptverbindung der mit dem Zug angereisten Kirchendiener und Studenten mit dem Vatikan auf der anderen Seite des Tiber. Sie brauchen keine Angst zu haben, verehrter Dozent, ich habe die Herren in den schwarzen Soutanen immer im Auge.«
Der Dozent lachte. »Sie schauen sozusagen der Wirklichkeit unter den Rock!«
»So sie denn einen trägt«, erwiderte Groll.
Ein Bus der Linie 64 bog um die Ecke und fuhr zügig vor der Haltestelle vor. Der Chauffeur hatte Groll, der sich vor der mittleren Tür aufgestellt hatte, zugenickt. Der Abstand vom Bus zum Gehsteig betrug keine drei Zentimeter. Der Einstieg ging zügig vonstatten.
Im Bus kamen die beiden auf das Attentat gegen die Redakteure des »Charlie Hebdo« und das koschere Lebensmittelgeschäft zu sprechen. Der Dozent bekundete seine Abscheu vor den »politischen Feinspitzen«, die mit dem Argument, die Karikaturen seien schlecht, Verständnis für die Attentäter durchblicken ließen und schwang sich zu einer leidenschaftlichen Lobrede auf die Meinungsfreiheit, die künstlerische Freiheit und die Demokratie im Allgemeinen auf. Es sei schlechterdings kein Argument vorstellbar, das eine Einschränkung dieser Rechte zulasse, rief er aus. Die Fahrgäste nahmen den Ausbruch gelassen hin. Nur ein weißbärtiger Kleriker näherte sich. Er bat den Dozenten nicht etwa um eine Mäßigung der Lautstärke, sondern um eine historisch korrekte Darstellung der Grundrechte. Er sei nämlich Professor für forensische Theologie an der City University in New York und habe noch bei der englischen Marxistin Joan Robinson sowie bei den Herren Baran, Bachrach und Sweezy in den siebziger Jahren studiert. Er erwähnte auch Schriften des austrokeynsianistischen Ökonomen Kurt Rothschild, der in Linz lehrte, sowie ein vor kurzem erschienenes Buch eines in Australien lehrenden Griechen, Giannis Varoufakis.«
»Der griechische Finanzminister?« fragte der Dozent verblüfft.
Der Kleriker lächelte. »Ein blendender Analytiker, er verbindet gedankliche Schärfe mit Witz. So etwas ist unter uns Ökonomen selten.«
Groll rückte den Rollstuhl näher zur Tür. »Wir wollen zur Trajanssäule und müssen bei der nächsten Station aussteigen«, sagte er zum Mann in der Soutane. »Ich helfe Ihnen«, erwiderte der und stellte seine Tasche ab.
Sekunden später stand Groll sicher auf der Straße. Der Dozent, der Kleriker und zwei weitere Fahrgäste hatten ihn und den Rollstuhl kurzerhand aus dem Bus getragen. Groll war sowohl von der Kraft des Priesters als auch von dessen Rasierwasser angetan – es roch nach den Weiten der Prärie.
»Lassen Sie Kaiser Trajan grüßen, der Mann war ein hervorragender Ökonom«, rief der Kleriker und winkte zum Abschied. Mit aufheulendem Motor und stark schwankend reihte der Bus sich in den Verkehr ein.
Als Groll sein Rollstuhlnetz zurecht rückte, fiel ihm ein Zettel in die Hand. Er las: »For my beloved friend, his holyness! We need Revolution in Vatican-Economy. I recommend Marx, Karl. Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852) plus Mehrwerttheorien Band II., Paul A. Baran / Paul Sweezy: Das Monopolkapital (1966), Bachrach und Baratz: Power and Poverty (1971), Joan Robinson: Grundprobleme der Marxschen Ökonomie, Verlag des ÖGB Wien 1951 sowie von derselben: Die Akkumulation des Kapitals, Europa Verlag 1965. Dazu die most imortant Schriften des Ökonomen Kurt Rothschild aus Linz – Steel Mill, Upper Austria und das 2012 herausgekomme Werk Der globale Minotaurus, die Finanzkrise und die Zukunft der Weltwirtschaft, München 2012, verfasst von Giannis Varoufakis. Lies nur ein Wort und die Welt wird gesund!«
»Der griechische Finanzminister!« rief der Dozent, der mitgelesen hatte.
»Die Trajanssäule besuchen wir später, wir müssen sofort in den Vatikan, zum Papst!« sagte Groll bestimmt.
»Kann das nicht warten?«
»Keine Sekunde. Wenn dieses Papier in die falschen Hände kommt, droht der vollständige Kollaps der globalen Ökonomie mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden und die Binnenschiffahrt!«
Die abschüssige Straße nutzend, nahm Groll Fahrt auf. Der Dozent rannte neben ihm her.