Mythos Medienkunst

Zum Ausklang seiner Reihe »Mythos Medienkunst« hat Franz Xaver ein Mail-Interview mit Peter Weibel, Multikünstler und Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, geführt.

Franz Xaver: Wir haben uns kennengelernt als ich Anfang der 80er Jahren zu Dir nach Wien an die Angewandte gekommen bin, um dort Kunst zu studieren. Ich baute zu dieser Zeit Maschinen, hatte gerade mit meinem letzten Geld einen Homecomputer gekauft und experimentierte mit einer Laserröhre. Mit dem Begriff Medienkunst konnte ich eigentlich nichts anfangen. Von Deinen damaligen Vorlesungen sind mir Themen wie die verschiedenen Schichten eines Werkes, die Bedeutung von Spiegelungen (über den Quadrupel) und eine Landkarte, die genauso groß wie das Land selber ist, hängengeblieben. Themen, die erst mit der digitalen Revolution, Mitte der 90er Jahre, wirklich wichtig wurden. Ich will aber zu Beginn unseres Interviews lieber in den 80er Jahren bleiben. Es war für mich die analoge Zeit, bei der es zwar schon digitale Steuerungselemente bei Videoinstallationen gab, diese aber in Ausstellungen nur bedingt funktionierten, man musste immer eine »Backuplösung« im Gepäck haben.
Es ging aber um Ideen und um die Möglichkeiten, die sich durch die neuen Medien auftaten. Ich habe diese Jahre als eine Zeit mit Utopie wahrgenommen.
Was mich interessieren würde: Sind diese Themen, die ich zuerst angeschnitten habe, irgendwo nachzulesen? Ich habe vor kurzem im Netz recherchiert - aber aus diesem Zeitabschnitt wenig gefunden.


Peter Weibel: Lieber Xaver, als Du Anfang der 1980er-Jahre an die damalige Hochschule für angewandte Kunst nach Wien kamst, hatte ich gerade die erste Meisterklasse für Medienkunst Europas gegründet, wahrscheinlich auch der Welt, initiiert von dem damaligen Rektor Oswald Oberhuber. Interessant ist der damalige Name, nämlich »Meisterklasse für visuelle Mediengestaltung«, der ein Vorschlag der Hochschule und nicht von mir war. Mir hätte genügt: »Visuelle Medien«, weil man ja auch nicht Malereigestaltung oder Skulpturgestaltung sagt, denn der Gestaltungsbegriff ist inhärent. Wir wissen, dass bis ins 19. Jahrhundert die Akademien der Kunst Académie des Beaux-Arts hießen, Akademien der schönen Künste. Erst mit dem Auftauchen des Materialbegriffs und dem Begriff der Gestaltung des Materials trat der Begriff Gestalt an die Stelle der Schönheit. Der Österreicher Christian von Ehrenfels hat 1890 den Gestaltbegriff als wissenschaftlichen Begriff ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Jahrzehnte später hießen die Bauhausbücher bezeichnenderweise Lehrbücher von der Gestaltung. Seitdem heißen die Akademien der Künste Hochschulen für Gestaltung, wenn sie sich auf zeitgenössische Kunstpraktiken konzentrieren wollen, z. B. die HfG Ulm (seit 1953), die HfG in Offenbach am Main, Schwäbisch Gmünd und in Karlsruhe (seit 1992). Alte Kunst wie Malerei oder Architektur konnte bei dem alten Namen bleiben, aber zeitgenössische Kunstpraktiken, insbesondere Medien, standen im Verdacht gar nicht kunstfähig zu sein. Deswegen konnte man nicht hinschreiben »Meisterklasse für Medienkunst«. Klar war allerdings, dass nach dem Material auch die Medien gestaltungsfähig waren. Weil es überall schon Hochschulen für Gestaltung gab, nannte man die Klasse »Visuelle Mediengestaltung«. Jetzt, nach Jahrzehnten meiner Lehrtätigkeit, erlebe ich den Triumph, dass es nicht nur an der Angewandten, sondern überall Meisterklassen und Institute für Medienkunst und Medientheorie, sogar für Digitale Kunst, gibt. Ich habe ja 1984 das erste Buch zur Ästhetik der Digitalen Kunst produziert, also im gleichen Jahr der Gründung der Meisterklasse für visuelle Mediengestaltung. Das Problem ist allerdings, dass heute das Wort »visuelle Medien« nicht mehr geläufig ist. Eine Zeit lang dominierten Buchtitel mit visual media. Der Triumph der visuellen Medien war sogar so groß, dass die neue Disziplin der visual culture studies besonders in den USA und in England entstand. Diese visual culture wurde als akademische Disziplin zum Konkurrenten der visual art. Visual art grenzte sich auf Malerei ein, aber alles, was darüber hinausging, von Fotografie bis Film, wurde als nicht kunstfähig aus der Kunst herausgedrängt und landete bei visual culture. Diese drehte den Spieß um und gliederte sich ein in die neue akademische Disziplin der cultural studies, weil sie zurecht behaupten konnten, visual art ist erstens nur ein Teil der visual culture und die visual culture wiederum nur ein Teil der allgemeinen culture. So wurden visual culture und cultural studies (Stuart Hall, Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der Universität Birmingham, 1964) zu den eigentlichen Königsdisziplinen. Visual culture behandelte also nicht nur Malerei, sondern alle neuen Bildmedien, daher die Betonung auf visuellen Medien und dann auf Gestaltung. Heute allerdings spricht man von social media und ich persönlich würde anstelle der Gestaltung der Medien ausgehen vom Gebrauch der Medien und deswegen von performative media statt visual media sprechen. Du siehst, es gibt eine Menge Verwirrung um die Theorie und Praxis der Neuen Medien. Leider hat diese Entwicklung bisher niemand untersucht und auch meine Ressourcen sind begrenzt, sodass ich nicht alleine alle die Aufsätze schreiben kann, die die Welt eigentlich braucht, aber ich bin dabei, eine Sammlung meiner wichtigsten Schriften zur Medienkunst und -theorie unter dem Titel Enzyklopädie der Medien (sechs bis acht Bände) ab dem Frühjahr 2015 bei Hatje Cantz herauszugeben. Dort findest Du Material zu den Themen, die wir in den 1980er-Jahren behandelt haben.

Franz Xaver: Ja, ja, ist nicht so einfach mit all den Begriffen und vor allem wie sich ein Begriff dann etabliert. Als ich vor einigen Jahren die Begriffe Medienkunst, media-art bzw. net-art in Wikipedia nachschlug, hat es mir die Haare aufgestellt. Inzwischen sind zum Glück einige Korrekturen vorgenommen worden. Überhaupt, all diese Begriffe »Medienkunst«, »Netzkunst«, »new media« oder »digitale Kunst« bringen mich zum Verzweifeln. Ich sehe eine der Ursachen in der Information und in Informationsmedien selbst – weil es in dieser Landkarte, die so groß ist wie das Original selbst, keine Positionen von »Außen« mehr gibt. Als das Internet Mitte der 90er Jahre auf all unsere Kunstschaffenden aufschlug, änderte sich sicher einiges. JedeR KünstlerIn konnte die Medien nun selber gestalten und mit dem Web 2.0 dann selbst führen. In der Werbebranche unterschied man sofort zwischen dem Begriff der Push- und den Pull-Medien – leider nur in der Werbebranche. Ich habe damals den Begriff der Netzkunst, bei dem jedeR KünstlerIn, der oder die mit diesen Medien spielte und dadurch automatisch MedienkünstlerIn war, nicht ernst nehmen können. Du weißt, für mich geht der Kunstkontext da zu weit in die Technologie hinein. Diese Zeit hat mir nicht wegen der Technologie, sondern wegen des Kunstkontexts zu schaffen gemacht. Alle KünstlerInnen arbeiteten für mich am gleichen Thema, und alles passierte immer nur am obersten gestalterischen Layer. Die Internettechnologie funktioniert aber über mehrere Layer. Die Kunst kratzte also nur mehr an der Oberfläche und hatte keinen Biss mehr. Der Kunstkontext sollte immer eine Position von außen liefern können. Es kommt mir auch so vor, als ob sich seit diesem Zeitpunkt der Intellekt des Menschen zurückentwickelt. Neulich hab ich ein ca. neunzehnjähriges Mädchen beobachtet, als es versuchte Wasser von der Donau in eine Flasche einzufüllen. Sie hat mich dann in normalem Deutsch und mit richtigen Sätzen gefragt, wie sie Wasser in die Flasche bringt. Ich habe es ihr gezeigt und sie hat sich mit normalen Worten und Sätzen bedankt. Wahrscheinlich kann sie auch perfekt mit ihrem iPhone umgehen.
Zurück zum Zeitpunkt als alles begann – so Mitte der 90er. Eine spannende Zeit, als es mit dieser virtuellen Welt ernst wurde. Die digitale Welt wurde Spiegel der Realität. Die Karte genauso groß wie das Original. Für mich war es eine Aufbruchsstimmung, ein Goldgräberfeeling – die freien Betriebssysteme, die gemeinsame Arbeit im Netz und die Hackerszene. Nun, 20 Jahre danach, fragt man sich, wo das hinführen soll. Für Dich waren ja die Mitte-90er auch sehr turbulent?


Peter Weibel: Ja, die 1990er-Jahre waren auch für mich turbulent. Das war ja die Zeit, als ich in Frankfurt auf Einladung des damaligen Rektors der Städelschule, Kasper König, das Institut für Neue Medien gründete und aufbaute, das ich von 1989–1995 gemeinsam mit Ulrike Rieger, eine Säule meines Imperiums, leitete. Damals wurden ja gerade Cyberspace und Virtual Reality, Datenhandschuhe und Interface-Technologie, Interaktivität und Schnittstellentechnologie entdeckt. Ich entwickelte die Formel von der Variabilität, Virtualität und Viabilität. Die Bildinhalte digitaler Bilder sind wegen ihrer elektronischen Speicherkonfiguration ja variabel. Jedes Pixel ist in Echtzeit veränderbar. Deswegen ist es auch möglich, virtuelle Welten zu schaffen, die auf die Eingabe des Betrachters durch eine Schnittstelle, sei es ein Datenhandschuh, sei es ein Fahrrad, sei es eine Pflanze, seien es Knöpfe, reagieren. Die drei entscheidenden Werke Legible City (1988–1991) von Jeffrey Shaw, Zur Rechtfertigung der hypothetischen Natur der Kunst und der Nicht-Identität in der Objektwelt (1992) von Peter Weibel und The Interactive Plant Growing (1993) von Laurent Mignonneau und Christa Sommerer entstanden ja in meinem Institut in Frankfurt. Die Arbeit, die ich in Wien im Institut für Visuelle Mediengestaltung an der Hochschule für angewandte Kunst ab 1984 leistete, und die Österreichs beste MedienkünstlerInnen wie Dich, Constanze Ruhm, Ruth Schnell und andere hervorbrachte, konnte ich in Frankfurt mit digitaler Technologie fortsetzen.
Allerdings waren in meinen Augen die Gründerjahre der Medienkunst, nämlich Foto, Film, Video, also die 1960er-Jahre noch viel turbulenter als die 1990er-Jahre. Die ganze Utopie der Medienkunst brach ja 1979 durch die enthusiastisch begrüßte Rückkehr der Malerei zusammen. Die gesamte Medienkunst wurde für eine Dekade aus den Galerien und Museen verbannt und von den Kuratoren und Kritikern bekämpft. So musste ich nach Amerika fliehen und nach Deutschland, um mich weiter entwickeln zu können. Als Leiter des Center for Media Study an der State University of New York, in Buffalo von 1984 bis 1989 und Professor für Fotografie an der Gesamthochschule in Kassel im gleichen Zeitraum – meine heroische Epoche mit drei Professuren in drei verschiedenen Ländern gleichzeitig, die leider und vielleicht zwangsläufig 1991 mit einem Herzinfarkt auf dem Frankfurter Flughafen endete – konnte ich mich als Künstler und Theoretiker weiter entwickeln. In Österreich hätte man mich zermanschkert. Die neuen Medienkünstler der 1990er-Jahre waren clever. Sie haben gesehen, dass die Medienkünstler der ersten Generation zu kritisch waren und zu medienspezifisch und dass sie deswegen gescheitert sind, das heißt im Betriebssystem Kunst von Museen bis Galerien nicht Fuß fassen konnten. Genau aus den Gründen, die Du anführst, weil sie nicht an der Oberfläche blieben und weil sie zu technisch waren. Die zweite Generation der Medienkunst hielt sich daher an die Oberfläche der Bilder wie die Maler und der Kommerzfilm und blieben technisch sehr anspruchslos. Sie imitierten entweder die Malerei, Farbräusche etc. wie Pipilotti Rist oder sie imitierten den Hollywoodfilm wie zum Beispiel Douglas Gordon mit seinen Remakes von Psycho (von Alfred Hitchcock): 24 Hour Psycho und The Searchers (John Ford): 5 year drive by. Die Medienkunst zementierte sich also als Fortsetzung des malerischen »Hunger nach Bildern« (Wolfgang Max Faust, 1982). In der Regel haben also die Medienkünstler der 1990er-Jahre die apparative Kunst wieder auf eine Bildkunst zurückgeschraubt, auf die Kunst der bewegten Bilder. Mit wenigen Ausnahmen haben sie nicht die Technologie als Exteriorisation der Organe und als Reprogrammierung der Sinne weiterentwickelt, wie es eigentlich von den Medientheoretikern vorgesehen war. Wir müssen also unterscheiden zwischen einer Engineering Culture der Medien, also Künstler wie Du, die auch technisch innovativ sind, und einer Image Culture der Medien, so die Mehrheit der Medienkünstler, die vorgefertigte Industriemaschinen benützen, um schöne Bilder herzustellen. Die besseren in der letzten Kategorie haben dann die medienspezifischen Errungenschaften der Film- und Videoavantgarde der 1960er- und 70er-Jahre auf das Mainstreamkino angewandt.
So nimmt es nicht wunder, dass heute ehemalige Videokünstler wie Steve McQueen einen Film-Oscar gewinnen.

Franz Xaver: Zermanschkert ist ein super Wort. Zerquetscht wird man durch Stillstand. Entweder, wenn man in denselben Schemen bleibt, oder auch, wenn man sich zu weit in die Kunstmaschine einlässt und Synonym für ein Werk wird. Der/die KünstlerIn wird schnell mit einem Werk verwechselt und wenn ein Marktwert dazukommt ist die Gacke schon am dampfen, man wird Gefangener seiner eigenen Werke und kann nichts Neues mehr machen – also Stillstand. In diesem Fall muss man bis zum Lebensende immer das Gleiche produzieren – ein schrecklicher Gedanke. Du hast Dich ja da immer sehr gekonnt aus dieser Affäre gezogen – mir kommt vor, Du hast Dir irgendwie Deine Freiheiten erhalten, viele verschiedene Orte und immer neue Patronen im Revolver. Spaß beiseite – jeder denkende Mensch, der sich ein Bild von seiner Umgebung macht und dadurch ja etwas Künstliches schafft, zählt für mich zu den KünstlerInnen. Man muss auch die Technologie, die aus sich heraus ja schon künstlich ist, also genauso reflektieren, wie soziale Situationen und Ereignisse. Oops, jetzt darf ich nicht zu sehr abgleiten, was ich sagen will: Medien und ihre Technologie muss man auch schon mal kritisch betrachten dürfen. In den letzten Jahren beschäftige ich mich nicht mehr so viel mit der Technologie, da diese eigentlich mit dieser Internet-Layertechnik universal geworden ist. Da sind keine Freiheiten mehr drin. Bei der Informationstechnologie, die mich und mein Bild der Welt prägt, stell ich mir immer häufiger die Frage, was hat es denn überhaupt mit dieser Information auf sich?... Heinz von Förster hat da ein paar gescheite Sachen abgelassen, die Du ja auch immer wieder referenzierst.
In dieser logisch rationalen Welt, die von dieser globalen Informationsmaschinerie marktwirtschaftlich geprägt ist, stellt sich die Frage, wo das neue Künstliche, wo die neuen KünstlerInnen zu finden sind. Letztlich bin ich froh, dass mich diese vergammelte Kunstwelt in Wien nicht aufgefressen hat, und ich mir nach wie vor Fragen zur Gegenwart stellen kann.
Deine Gedanken und Analysen sind meist unkonventionell und dadurch beeindruckend, deswegen hast Du meist einen kleinen Informations- und Sympathievorsprung. Die Informationstechnologie und -gesellschaft ist aber so konstruiert, dass sich Informationsvorsprünge möglichst rasch global nivellieren. Sie arbeitet also eigentlich gegen Dich. Ich beschäftige mich im Moment viel mit dem Zufall, dieser wird immer wichtiger in der Kryptografie für das Individuum im Netz, ist aber auch ein wichtiges Thema beim Begriff des freien Willens. Dein innerer Zufallsgenerator müsste demnach ja eigentlich noch ganz gut funktionieren, da Dir immer wieder was Neues einfällt.


Peter Weibel: Die Kryptografie wird in der Tat die wichtigste Wissenschaft im beginnenden Zeitalter der Infosphäre. Neben der Atmosphäre, die unabdingbar für das Leben der Menschen auf dieser Erde als biologische Wesen ist, zeigt sich, dass für das Zusammenleben von 7 Milliarden Menschen als soziale Wesen auch eine Infosphäre notwendig ist: ein weltweit umspannendes Netzwerk von drahtlosen Funkverbindungen via elektromagnetischen Wellen (Radio, Fernseher, Telefon, Satelliten, Internet etc.). Diese orbitale Hülle garantiert den globalen Datenaustausch und die Organisation von Gütern durch Datenverkehr. Alle sprechen vom Anthropozän, aber die Zukunft der Menschheit liegt in der Infosphäre, denn ohne diese werden 7 Milliarden soziale Wesen nicht als biologische Wesen in der Atmosphäre überleben können. Die Theoretiker des Anthropozän sehen als Apokalyptiker das Ende der Menschen in der Zerstörung der Atmo- und Biosphäre. Ich als Theoretiker der von mir geschaffenen Idee der Infosphäre sehe die Zukunft der Menschheit im freiheitlichen Aufbau der Infosphäre zum Nutzen aller Individuen. Der Begriff »Individuum« kommt ja von lat. in-dividere, das Nicht-teilbare. Individuen sind gewissermaßen soziale Atome, deren energetischer Kreislauf einer thermodynamischen Stabilität bedarf. Ausgerechnet die politischen Institutionen wie der Staat, die das Individuum schützen sollen, haben die Tendenz, diese Individualität zu unterdrücken und zu zerstören. Im 20. Jahrhundert gab es von Hitler bis Mao, von Stalin bis Franco 250 Millionen politisch motivierte Morde, ein Exzess der extremen Menschenverachtung. Diese totalitären Tendenzen haben immer einen Slogan: Sterben ja, leben nein. Die Frage ist nun, ist Technologie lebensfeindlich und todesbejahend oder lebensbejahend und todesverneinend, Eros oder Thanatos? Meine Hoffnung ist, da wir bis 1800 eine Milliarde Menschen auf der Erde hatten und nun nach 200 Jahren 7 Milliarden Menschen auf der Erde haben, also im Zeitalter der industriellen und postindustriellen Revolution die Menschheit sich beschleunigt vermehrte, dass die Technologie ein lebensbejahendes Medium ist, unabhängig von Religion, Sprache und Volk, also eine universelle Sprache. Deswegen beschäftige ich mich mit Medienkunst. Im Zeitalter des globalen Datenaustausches sind wir selber Datenträger und Datenjäger. Wir hinterlassen Spuren und folgen Spuren. Wir suchen und werden gefunden, wir sind lokalisierbar, wir steuern und werden gesteuert. Im universalen Informationsraum bildet die Kryptografie die Inseln der Individualität. Der Zufall wird in der Tat der entscheidende Faktor. Bisher war der Zufall ein Prozess der Natur: Das Individuum, ein genetischer Würfelwurf, das zufällige Produkt von Chromosomen und Genen. Nun wird der Zufall ein Prozess der Gesellschaft. In der Natur war der Zufall entweder ein Unfall oder ein Glücksfall. In der Gesellschaft wird der Zufall durch Institutionen der Versicherung, der Absicherungen, der Finanz- und Transaktionstechniken bekämpft. Im totalen Sicherheitsstaat soll er abgeschafft werden. Nichts fürchtet die NSA mehr als den Zufall. Daher ist im totalen Staat der Zufall ein Feind des Staates und ein Freund des Individuums. Im Gefängnis, und Du weißt ja, ich habe wegen meines abweichenden Verhaltens und meiner Auffassung der Kunst als Störung der öffentlichen Ordnung, gute Bekanntschaft mit den Gefängnis gemacht, heißt es: »Jede geheime Sprache ist verboten.« In einer freien Gesellschaft ist eine Geheimsprache nicht verboten, weil sie gar nicht notwendig ist. Nur in einer Phobokratie hat man Angst vor Geheimsprachen. Dass Amerika eine National Security Agency hat, beweist, dass es ein phobokratischer Staat ist. Der Staat, der eine Geheimsprache verbietet, ist per definitionem ein Gefängnis. Da wir also in keiner freien Gesellschaft leben, auch nicht in einem kalten Krieg, sondern in einem Krieg alle gegen alle, muss die Kryptografie erlaubt sein. In einem Staat, der sich selbst anmaßt, nicht einmal dem Parlament Rede und Antwort zu stehen, der ständig Geheimbeschlüsse tätigt und sogar einen Geheimdienst unterhält, bleibt dem Bürger nichts anderes übrig, als selbst eine Geheimsprache zur Verteidigung zu entwickeln, wie z. B. in totalitären Systemen. Das Internet und die sozialen Medien sind der Schauplatz dieses Kampfes zwischen verschlüsselten Botschaften der Individuen und des Staates, zwischen den Hackern und Codebrechern einerseits und den Experten von Firewalls, den Sicherheits- und Überwachungsparanoikern, dem neuen Security Military Complex, der den alten Industrial Military Complex ablöst.

Franz Xaver: Danke vorerst für Deine Antworten. Da ich mit Deinen Statements diese Interview-Reihe zu Ende bringen will und Du ja leider einer der wenigen Denker und Kunstpolitiker in diesem so wichtigen Zeitalter bist, werde ich in der nächsten Ausgabe versuchen, gemeinsam mit einer letzten Frage einen persönlichen Abschluss zu diesem Mythos der Medienkunst zu finden.