Je suis Charlie oder Wir sind das Volk

Über die Großkundgebungen von Leviathan und Behemoth.

Bei der Berliner Mahnwache für die Attentatsopfer von Paris war es einzig Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der bei dieser Gelegenheit auf den Antisemitismus unter Muslimen und auf die Hassparolen der Anti-Israel-Demonstrationen vom Sommer 2014 zu sprechen kam. Dass er aber diese Gelegenheit immerhin ergreifen konnte, ohne sogleich als ‚islamophob‘ beschimpft zu werden, verweist indirekt auch auf eine gewisse Entlastung Israels an der Front der europäischen Öffentlichkeit. Umso hellsichtiger von Benjamin Netanjahu, dass er sich selbst zu dem großen »Trauermarsch« eingeladen hatte, der davor bereits in Paris stattfand. Mit diesem Auftritt wie auch mit Netanjahus Aufruf an die Juden, nach Israel zu kommen, den er dann nach dem Attentat auf die Synagoge in Kopenhagen wiederholte, zeigt sich unmittelbar die Bedeutung, die dem jüdische Staat an jedem Ort der Welt zukommt, wo auch immer man nach der Ermordung von Juden einfach zur Tagesordnung übergehen und den antisemitischen Charakter des Terrors einfach ignorieren möchte. Und wenn es heute zur finstersten Seite deutscher Ideologie rechnet, das neue Europa gegenüber Israel als die bessere Antwort auf Auschwitz auszugeben, also insinuiert wird, es bedürfe eines jüdischen Staats im Nahen Osten eigentlich gar nicht – dann präsentiert ihr beizeiten der Souverän gerade dieses Staats die Rechnung.

Da Präsident Hollande Netanjahus Teilnahme am Trauermarsch nicht verhindern konnte, wurde kurzerhand auch noch Palästinenserpräsident Abbas als eine Art Gegengewicht mitaufgenommen. Diese reflexhafte Handlung warf bereits die Frage auf, wie lange wohl jene Entlastung Israels andauern werde. Man konnte jedenfalls schon froh sein, in der ersten Reihe der Staatoberhäupter (der Botschafter Saudi Arabiens war etwas weiter hinten ebenfalls dabei) nicht auch einen Mullah aus dem Iran mitmarschieren zu sehen – eingehängt etwa zwischen Merkel und Abbas. Tatsächlich versuchte ja die Islamische Republik Iran die Attentate von Paris propagandistisch für sich genau so zu nutzen wie im Nahen Osten das Auftreten des IS. Der Terror wurde verurteilt, um wenig später einen Wettbewerb für Holocaust-Karikaturen auszuloben.

Der französische Staat hat unter dem Banner des Laizismus die Säkularisierung wohl am weitesten vorangetrieben – eben auch gegen den Widerstand des Islam. So werden die ermordeten Journalisten aus gutem und zugleich schlechtem Grund wie Kämpfer der Résistance geehrt: Sie hatten tatsächlich lange schon der Gefahr ins Auge gesehen, vor der Wahl stehend, ihre Arbeit angesichts der Gefahr fortzusetzen oder nicht. Die Juden aber, die in Toulouse im März 2012 oder im koscheren Supermarkt in Paris unmittelbar nach dem Attentat auf Charlie Hebdo ermordet wurden, hatten auch diese Wahl nicht, sie mussten, weil sie Juden waren, von vornherein der Gefahr ins Auge blicken. Und gerade in dieser Hinsicht schien es, dass man nun, angesichts der Koinzidenz der beiden Attentate im Januar 2015, über den Horizont der Résistance-Ideologie, zu der es eben gehört, die Situation der Juden zu verdrängen, auch hinausging: Wenn nach den Anschlägen die verschärften Sicherheitsmaßnahmen in besonderem Maß jüdische Institutionen einschlossen; wenn man den berüchtigten Komiker Dieudonné in Polizeigewahrsam nahm, weil er die Attentate benützt hatte, seine antisemitische Hetze per Facebook fortzusetzen (»Je suis Charlie Coulibaly«), dann glaubte man darin eine neue Justierung innerhalb der staatlichen Behörden zu erkennen. Auch der Präsident und der Ministerpräsident hoben den antisemitischen Charakter der Anschläge zunächst in ihren Ansprachen ausdrücklich hervor – wenngleich hier eine Relativierung nicht lange auf sich warten ließ: In derselben Rede vor der Nationalversammlung erklärte Valls eilends, einer seiner engsten Freunde sei gläubiger Moslem und habe ihm mit Tränen in den Augen gesagt, dass er sich schäme für die Morde, die im Namen des Islam begangen wurden, und der Ministerpräsident beteuerte: er wolle weder, dass Muslime sich schämen noch dass Juden Angst haben müssen. Solche Parallelisierung ist symptomatisch für das Bedürfnis, die alte Politik besinnungslos fortzusetzen, wie Tjark Kunstreich deutlich gemacht hat – »als bestünde nicht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Angst französischer Juden um das eigene Leben und der Scham einiger Muslime, die nur allzu sehr an die deutsche erinnert und die zu empfinden ja nicht nur einen Makel darstellt« (Jungle World, 22. 1. 2015).

In Deutschland hingegen gab es nach den Anschlägen von Paris überhaupt nur business as usual: Die Terroristen seien gar keine Muslime gewesen, sagte etwa SPD-Fraktionschef Oppermann, und Bundeskanzler-Stellvertreter Gabriel forderte sogleich eine Großdemonstration gegen »Muslimfeindlichkeit und Intoleranz«. In dem Aufruf der islamischen Verbände zu jener Berliner Kundgebung wurde nicht nur verschwiegen, dass der Terror neben Charlie Hebdo auch den Juden galt, an der Kundgebung selbst konnten auch Vertreter einer Organisation der Muslimbrüder teilnehmen: »Wir alle sind Deutschland!« verkündete Joachim Gauck.

Noch weiter ging solche Geschlossenheit naturgemäß in Wien, wie Doron Rabinovici auf Facebook zu berichten wusste: Die Worte, die in den offiziellen Rede nicht vorkamen: »Islamismus, Dschihadismus, Antisemitismus … Nicht einmal die Worte: Charlie Hebdo, Karikaturen, Mohamed. … Ein Teil der Rede spricht von den Opfern: von Journalis-tinnen und Journalisten, von Polizistinnen und Polizisten, und von ,Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlichster Konfessionen, die offenbar nur zum falschen Zeitpunkt an den Orten des Terrors waren‘. Diese dritte Kategorie meint: Juden, Kunden eines koscheren Supermarktes. Sie zu benennen, war wohl zu viel für die Regierung dieses Landes. … Das Motto der Erklärung der Bundesregierung war offenkundig nicht, ‚Je suis Charlie‘, sondern, wie auf Facebook auch schon Davies Guttmann feststellte: ‚Je suis Herr Karl‘.«[1]

Dresdner Fasching

»Jeder drohende gesellschaftliche Zwist soll im Keim erstickt werden – auch wenn es die Lebensversicherung einer wirklich freien Gesellschaft wäre, ihn politisch auszutragen. Nicht die freie, sondern eine befriedete Gesellschaft ist das Ziel dieser Herren.« So hat der Blogger Arthur Buckow (arthurbuckow.wordpress.com) die offiziellen Reaktionen in Deutschland charakterisiert. Diese Herren jedoch können per se gar kein anderes Ziel haben, soweit sie Staatsmänner sind und sein wollen. Der Leviathan ist nun einmal nichts anderes als die Befriedung der Gesellschaft innerhalb der Staatsgrenzen. Der Unterschied ist nur, dass sie in den Debatten der französischen Öffentlichkeit gewöhnlich konfliktvoller erfolgen kann, weil der Souverän in diesem Land traditionellerweise eine besondere Integrationskraft besitzt, während in Deutschland und gar in Österreich jeder Anschein von Konflikt bereits die Bürgerkriegssituation heraufbeschwört, den Verlust der Einheit und den Zerfall in Rackets. Das Problem der europäischen Einigung ist jedoch, dass sie nur nach Maßgabe dieses deutschen Wegs voranzukommen vermag, hat sie doch den Abbau von Souveränität auf ihre Fahnen geschrieben. In der Zuwanderungspolitik kehrt allerdings der verdrängte Souverän ebenso wieder wie in der Konfrontation mit dem jihadistischen Terror.

In Dresden hatte man einige Monate hindurch diese Rückkehr allwöchentlich als Fastnachtumzug gefeiert. Wenn die Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida), die hier aufmarschierten, offiziell »ein Ende der unkontrollierten Zuwanderung« und die Ausweisung von »Islamisten und religiösen Fanatikern«, sowie mehr Mittel für die Polizei, mehr Volksentscheide fürs Volk und das Ende der »kriegstreibenden Politik gegenüber Russland« forderten, war nur allzu deutlich, dass der Mummenschanz nicht wie die Karikaturen von Charlie Hebdo auf einen laizistischen Staat hinauswill, sondern im Gegenteil den Neid auf den Islam im Gewand des Abendlands organisiert: den Neid, dass die eigene Volksgemeinschaft nicht mehr den Zusammenhalt bieten kann, den diese Glaubensgemeinschaft noch oder wieder verbürgt, das heißt: die ersehnte vollständige Preisgabe des eigenen Ichs an ein repressives Kollektiv. Der Jihad bedeutet für diese Patrioten eine einzige große narzisstische Kränkung, die keine andere der von ihnen verachteten und bedrohten Gruppen, seien es Schwarze oder Asiaten, bereit hält. Sie verteidigen also das ‚schaffende Kapital‘ nicht nur vor dem Ansturm derer, die zu Menschen zweiter Klasse erklärt werden, weil man sie als gleichgestellte Konkurrenten nur allzusehr fürchtet. Sie verteidigen es zugleich vor der wachsenden Macht einer Religion, die als Gemeinschaft gleichermaßen beargwöhnt wie beneidet wird, weil sie ganz ohne eigenes ‚schaffendes Kapital‘ weltweit triumphieren kann.

Es ist nachvollziehbar, wenn Arthur Buckow fordert, dass ein Aufstand der Anständigen sich nicht gegen diese Patrioten des Abendlands, sondern gegen dessen Grenzschutzmaßnahmen und Zuwanderungs-politik wenden sollte. Doch ein solcher Aufstand dagegen, dass tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, wäre etwas, das den Anstand von Aufständischen auf eine härtere Probe stellte: Er müsste für nichts Geringeres sorgen, als dass der Rechtsstaat sich erübrigte, weil dem kategorischen Imperativ von Marx, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein ausgebeutetes und erniedrigtes Wesen ist, endlich Folge geleistet würde; er müsste mit einem Wort eine wirklich freie Gesellschaft erst hervorbringen. Was hingegen im Rahmen staatlicher Strukturen verbessert werden kann, ist eben immer nur die Quoten flexibler zu gestalten und in dem einen und dem anderen Fall doch noch etwas mehr Flüchtlinge aus den Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten wie aus den miserabelsten Elendsvierteln der Erde ins Schengenland hereinzulassen, wobei die Grenzen aus den von den Unternehmen zwingend benötigten Arbeits-kräfte-Potential immer neu gesetzt werden. Aber das Engagement für eine solche ‚fortschrittliche‘ Einwanderungspolitik kann unzweideutig nur in dem Bewusstsein geschehen, dass der Staat an sich – die Einheit, die in der Form des rule of law gegen den jihadistischen Terror beschworen werden muss, um das Schlimmste zu verhindern – darauf beruht, Menschen auszuschließen und überall dort rücksichtslos zu Grunde gehen zu lassen, wo die Fragen seiner Herrschaft und Legitimation nicht berührt werden.

Aus der Forderung nach möglichster Flexibilität der Quoten lässt sich jedoch wenig Pathos gewinnen, sie taugt nicht dazu, politisches Engagement großartig zu inszenieren. Deshalb ist die Linke in Deutschland auch so begierig, dass immer wieder jener Mummenschanz der Souveränität stattfindet, denn im Protest dagegen können die Anständigen sich selber feiern – und haben doch einen Großteil der Inhalte, vom Antiamerikanismus bis zum Israelhass, mit dem Gegner gemein.

Henryk M. Broder, dem diese Selbstinszenierung der Anständigen verständlicherweise zuwider ist, schreibt, die Leute von Pegida hätten hingegen »ein Gespür für das Falsche, Pathetische, Verlogene«; das nur vermeintlich dumme Volk demonstriere hier »stumm gegen seine Entmachtung« (Die Welt, 20. 12. 2014). Diesem Wohlwollen haftet tatsächlich so etwas wie eine »reflexhafte Gegenparteinahme« (Arthur Buckow) an, aber die Kritik an ihr rechtfertigt andererseits nicht die Gleichsetzung von Pegida und Jihad. Es sind die Proportionen, die für politische Urteilskraft entscheidend sein können: Broder weiß, und er wusste es lange vor den Anschlägen in Paris und Kopenhagen, von wem er sich hier und jetzt, sobald er etwa in einen koscheren Supermarkt einkaufen oder vor einer Synagoge stehen sollte, mit seinem Leben unmittelbar bedroht fühlen muss.

[1] »Herr Karl« ist eine von Helmut Qualtinger und Carl Merz geschaffene satirische Figur, die gewissermaßen die österreichische Vergangenheitsbewältigung verkörpert und das ungebrochene Fortleben des Antisemitismus in der ostentativen Selbstgerechtigkeit eines ehemaligen Nationalsozialisten vorführt.

Ein ausführlicher Kommentar des Autors zu den Reaktionen auf die Attentate von Paris und Kopenhagen wird im Frühjahrsheft der sans phrase 6/2015 erscheinen, zusammen mit anderen Beiträgen zu Charlie Hebdo und Michel Houllebecq. www.sansphrase.org

Gerhard Scheit lebt als freier Autor in Wien. Er ist Mitbegründer der ideologiekritischen Zeitschrift sans phrase und veröffentlicht zu zahlreichen Themen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie, darunter besonders zur Kritik der politischen Gewalt, der Kritik der politischen Ökonomie und der Kritik des Antisemitismus. Im August 2022 erschien sein neues Buch »Mit Marx. 12 zum Teil scholastische Versuche zur Kritik der politischen Ökonomie« im ça ira-Verlag.