1995 haben die Ortsschilder von Oberwart Trauerflor getragen. »Wir haben den Vorhang im OHO abgenommen und daraus Schleifen gemacht.«, erzählt Horst Horvath. Er war damals im OHO, dem Offenen Haus Oberwart, aktiv; heute leitet er die Volkshochschule Roma und das kleine Verlagshaus »lex liszt 12«. Wir treffen Horst Horvath und Andreas Lehner in ihrem Büro, das voll ist mit Büchern und Ordnern, mit Verweisen und Archivmaterial. An der wenigen Wandfläche, die zwischen den Regalen frei ist, hängen gerahmte Bilder, darunter eine Fotografie von dem Staatsbe-gräbnis, das im Winter 1995 in Oberwart stattfand.
Am 4. Februar 1995 wurden am Ortsrand von Oberwart, dort, wo sich seit den 1970er Jahren die (zum dritten Mal umgeparkte) Romasiedlung befindet, vier junge Männer ermordet. Männer, die in der Siedlung aufgewachsen waren und dem gezielten Anschlag eines Rechtsradikalen zum Opfer fielen. Das OHO wurde im Februar 1995 zum zentralen Treffpunkt einer aufgebrachten Stadt. Journalist_innen aus aller Welt waren angereist, um auf der Suche nach »authentischen« Bildern den Ort des Geschehens zu überrennen – eine echte Romasiedlung mitten in einem Wohlfahrtsstaat (!), wer hätte geahnt, dass es so etwas gibt. Die lokale Politik war überfordert, um Trauer und Angst der Hinterbliebenen kümmerte sich niemand, die Polizei machte Hausdurchsuchungen bei den Opfern, anstatt die Spuren des Täters zu sichern. Das alles geschah im Klima fortwährender Ausgrenzung. Ein »Leben im Verborgenen«, wie es die meisten Befragten im Gespräch nennen, wurde mit einem Mal sichtbar. »Die Mehrheitsbevölkerung hat über die Roma nur gewusst, was ihnen von zu Hause mitgegeben worden ist, und das waren Vorurteile.«, sagt Charly Gärtner-Horvath, der vor Ort den Verein »Roma Service« leitet. »Ich habe mich gefragt, glauben die jetzt wirklich, dass jeder Rom Geige spielen kann?«, und wie um sicher zu gehen, dass ich diesem Irrtum nicht auch aufsitze, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu: »Das ist nicht der Fall.«
»Das Attentat«, sagt Stefan Horvath, der 1995 einen Sohn verloren hat, »hat die Dämme gebrochen. Jetzt musste man miteinander über die Probleme reden.« Die Probleme waren: das automatisierte Abschieben der Kinder in die Sonderschule, der verweigerte Arbeitsmarktzugang (als Horst Horvath in den 1990er Jahren noch als Arbeitsmarktbetreuer gearbeitet hat, sei es, so erzählt er, gang und gäbe gewesen, die Dateien der Arbeitssuchenden mit »Zigeuner« zu markieren), die Diskriminierung, die auf den Fuß folgte, wenn jemand seine Wohnadresse in der Siedlung (Am Anger) oder seinen Namen (etwa Horvath) nannte. Egal, was in Oberwart vorgefallen war, zu allererst wurden »die Roma« verdächtigt. Stefan Horvath formuliert es als traurigen Witz: »Was machen Polizisten, wenn sie einen Bären fangen wollen? Sie holen einen Hasen aus dem Stall und prügeln ihn, bis er zugibt, dass er ein Bär ist.«
Zwanzig Jahre und eine Anerkennung als Volksgruppe später haben sich die Verhältnisse geändert. Zwar nimmt es wenig Wunder, dass Rassismuser-fahrungen nach wie vor gemacht werden – »Ich glaube, mit rassistischen Äußerungen müssen wir immer rechnen, weil wir halt immer eine Minderheit sein werden.«, kommentiert die junge Romni-Aktivistin Manuela Horvath recht unaufgeregt – aber die ersten »Siedlungskinder« machen ihre Universitätsabschlüsse, an der Volkshochschule wird Romanes unterrichtet und wenn die Kinder in der Schule mit Diskriminierung konfrontiert werden, »gibt es gesetzliche Möglichkeiten, damit ich als Elternteil etwas dagegen tun kann«, sagt Charly Gärtner-Horvath und nickt zufrieden ob dieser offensichtlichen Fortschritte, die die Volksgruppenanerkennung gebracht hat. Anerkannt wurde 1993 – und je nachdem, wen man um Auskunft bittet, klingt einmal mehr der zähe und siegreiche Kampf der Volksgruppen durch, dann wieder der Verdacht reiner Geldbeschaffungsmaßnahmen für die Vereinslandschaft, und wieder ein anderes Mal die Geschichte einer billig erkauften politischen Geste des österreichischen Staates, der, selbstgeschädigt von der Waldheim-Affäre, im Ausland Kredibilitäten sammeln musste, um kurz vor dem EU-Beitritt nicht als Minderheitenvernachlässiger zu gelten. Wie dem auch sei: Im Dezember 1993 wurden die Roma als sechste österreichische Volksgruppe anerkannt.
»Zigeuner are the best«, steht mit Kreide auf die Wand der Unterführung geschrieben, die von der Gedenkstätte weg und aus dem Ortsgebiet rausführt. Die Gedenkfeierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag sind vorbei, die staatstragenden Limousinen wieder abgefahren aus der Oberwarter Roma-siedlung, die, wenn es nach Stefan Horvath ginge, zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden würde: »Es gibt nichts Vergleichbares in Europa«, sagt er, der sich die Siedlung lebhafter wünscht, mit mehr Mut für Zukunftsvisionen. Nach dem Festakt kommt man in einem Zelt zusammen, um bei Glühwein und Tee noch ein Weilchen nachzubesprechen. Erschöpfte Erwachsene wärmen sich auf, kleine Kinder verteilen Kärtchen zum Gedenken an die vier ermordeten Söhne ihrer Stadt. Von den feierlichen Reden ist hängengeblieben, was sich über den Tellerrand der Floskelsuppe hinauswagte. Ein Landtagsabgeordneter – man kennt seine Motive nicht – sprach mit leichter Themenverfehlung vom drohenden Terror des Islamischen Staates, Heinz Fischer schien ganz vergessen zu haben, dass sich alles Rechtsradikale, zu dessen Bekämpfung er sich bekannte, fünf Tage vorher in der Hofburg ein Stelldichein gegeben hatte. Aber es wurde der vier Männer auch sehr würdevoll gedacht; Manuela Horvath, die 1995 ein Kind war und heute längst erwachsen ist, die das Attentat erst viel später reflektieren konnte, die heute Workshops gegen Antiziganismus abhält und an Ausstellungen und Studien mitarbeitet, verlas vor den versammelten Gästen, die geduldig froren und Kerzen in den Händen hielten, die Biographien von Josef Simon, Peter Sarközi, Karl und Erwin Horvath, die es genauso wie ihren Tod zu erinnern gelte: »Denn bevor sie ermordet wurden«, sagte sie einleitend, »haben sie gelebt.«