Fiktion Freier Markt

Armin Medosch über den ungarisch-österreichischen Wirtschafts- und Sozialwissenschafter Karl Polanyi.

Als am 12. Februar 1934 um circa halb 12 die große Uhr am Praterstern stehen bleibt, verändert sich für Kari Polanyi-Levitt,  damals gerade 10 Jahre alt, die Welt. Mit dem Abschalten des Stroms signalisieren die Mitarbeiter der E-Werke den Beginn eines Generalstreiks und Aufstands gegen den Austrofaschismus. Ihr Vater, Karl Polanyi, hatte bereits ein Jahr zuvor Österreich Richtung England verlassen. Von 1923 bis 1933 war er leitender Redakteur der Zeitschrift Österreichischer Volkswirt gewesen, eine Wochenzeitung, die man heute mit dem Economist vergleichen könnte. Schon nach der Auflösung des Nationalrats im März 1933 und der Errichtung eines autoritären Regimes war die leitende Redakteursposition Polanyis als Sozialist und Jude unhaltbar geworden. Seine Frau, Ilona Duczynska und deren gemeinsame Tochter Kari blieben jedoch vorerst in Österreich. Nach den Ereignissen des Februars 1934 wurde Kari nach England geschickt. Die Mutter, Ilona Duczynska, blieb alleine in Österreich zurück, um im Untergrund den Widerstand des Schutzbunds zu organisieren.

»The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen« von Karl Polanyi, veröffentlicht im Jahr 1944, ist eines der wichtigsten geschichtsphilosophischen und ökonomischen Bücher des 20. Jahrhunderts. »Manche glauben, der Titel bezieht sich auf die industrielle Revolution und den Industriekapitalismus. Ich glaube aber nicht, dass das korrekt ist. In Wahrheit bezieht er sich auf das Ende des Glaubens an Laissez-faire, das Ende des langen 19. Jahrhunderts im Jahr 1914 oder 1929, suchen Sie sich das Datum aus,« erklärt Kari Polanyi-Levitt. Die 91-jährige Tochter des Autors, emeritierte Professorin am Department of Economics, an der McGill University in Montreal, Kanada, und Ehrenpräsidentin des Polanyi-Instituts für politische Ökonomie, hatte lange Zeit nicht gedacht, von den Ideen ihres Vaters besonders beeinflusst zu sein. Was die Politik betrifft, sei ihre aktivistische Mutter ein viel stärkerer Einfluss gewesen. Erst nach dem Tod ihrer Mutter, 1978, als sie die Verantwortung für das Archiv ihres Vaters übernahm, wurde ihr die Bedeutung seiner Ideen bewusst.

Karl Polanyi, beschäftigte die Frage, wie es kommen konnte, dass etwas, das so dauerhaft erschien wie die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts so plötzlich zu Ende ging. Er wollte eine befriedigende Erklärung dafür finden, wie eine Gesellschaftsordnung, die über 100 Jahre für relativ stabile Verhältnisse gesorgt hatte, in das Zeitalter der Katastrophen mündete – den Ersten Weltkrieg und alles was darauf folgte. The Great Transformation ist ein intellektueller Dauerbrenner. Es ist kein marktschreierisches Buch, kein Bestseller, aber auch ein Buch, das nicht weggeht und von jeder Generation immer wieder neu entdeckt wird. Fertig geschrieben im Exil in den USA, auf Vorarbeiten in England in den 1930er Jahren basierend, nahm Polanyi entscheidende Einflüsse während seiner Zeit im Roten Wien der 1920er Jahre auf.

Damals stand Polanyi in einem Nahverhältnis zu Größen des Austromarxismus wie Otto Bauer und Max Adler, orientierte sich aber in einigen Punkten auch an der marktliberalen Preistheorie der österreichischen Schule, deren wichtigste Aushängeschilder, Ludwig von Mises und insbesondere Friedrich Hayek, zu seinen lebenslangen Gegenspielern zählten. In Wien erlebte Polanyi sozusagen erste Reihe fußfrei, was er theoretisch als den Widerspruch zwischen Kapitalismus und Demokratie zu fassen suchte. Der Anspruch der Arbeiterklasse auf politische Emanzipation war nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr aufzuhalten gewesen. Mit der Erteilung des allgemeinen Wahlrechts und der zahlenmäßigen Überlegenheit der arbeitenden Menschen war es klar, dass die sozialistischen und kommunistischen Parteien bei Wahlen – vor allem in den Städten – das Übergewicht hatten. Die wirtschaftliche Macht konzentrierte sich jedoch in den Händen der liberalen Eliten. Deren Versuch, ihre wirtschaftliche Macht um jeden Preis zu schützen, führte zunächst zur Schwächung und schließlich zur Ausschaltung der Demokratie. Eine weitere große Rolle spielten dabei der Finanzcrash von 1929 und die Versuche, den Goldstandard wieder einzuführen. Die Bindung der Währungen an den Goldpreis, um Völkerbund, Weltbank und internationale Investoren zu befriedigen, verunmöglichte es den ohnehin bereits geschwächten Volkswirtschaften, sich durch Abwertung selbst aus dem wirtschaftlichen Morast zu befreien. Die Hartwährungspolitik erlegte den Menschen solche Opfer auf, dass der soziale Zusammenhalt zerriss und die extreme Rechte und Linke Zulauf erhielten. Nach mehreren Jahren der Weltwirtschaftskrise schnappte schließlich das elastische Band, das alles zusammenhielt, analysiert Polanyi in The Great Transformation.  

Analogien zur Gegenwart sind zulässig, meint Kari Polanyi Levitt. Sie hat 2013 ein Buch herausgegeben mit dem Titel From the Great Transformation to the Great Financialisation. In dieser Sammlung von Aufsätzen, die über mehrere Jahre entstanden sind, geht sie den Parallelen zwischen der Analyse der Zwischenkriegszeit und der heutigen, von der Finanzkrise 2008 und deren Folgen geprägten Zeit nach. Die Ursache für die jetzige Malaise sieht Polanyi-Levitt in der Ideologie des Neoliberalismus und dem, was man Finanziali-sierung nennt, die Verlagerung von immer mehr wirtschaftlicher Macht auf die Finanzmärkte. Wirtschaftliche Macht ist aber auch politische Macht und so kommen sich Kapitalismus und Demokratie erneut in die Quere. Die von Brüssel und der Europäischen Zentralbank verordnete Sparpolitik im Namen der Rettung des Euros – als eine Art Goldstandard ohne Gold –, noch dazu per Gesetz mit Verfassungsrang festgeschrieben, engt den Handlungsspielraum demokratisch gewählter Parlamente ein. Besonders krass ist das in Ländern, die sich unter dem sogenannten Eurorettungsschirm befinden, wie Portugal, Spanien und Griechenland. So ist es kein Zufall, dass dort neofaschistische Parteien Zulauf finden, wenn der Eindruck erweckt wird, die Demokratie könne nichts mehr für die Menschen tun.

Die Stärke von Karl Polanyis The Great Transformation ist es, den großen geschichtlichen Bogen hinter solchen Entwicklungen zu zeigen. Der Zusammenbruch der liberalen Demokratien in den 1930er Jahren ist für ihn eine Spätfolge des extremen Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts. Polanyi untersucht die Ursprünge und Wurzeln des Systems des 19. Jahrhunderts und findet diese im England der klassischen Nationalökonomie von David Ricardo. Seine große These ist, dass die Idee eines freien Markts – eines Markts, der von keinen anderen Kräften reguliert wird, seien es politische, kulturelle oder religiöse – eine gefährliche Fiktion ist. Dieser entfesselte Markt stellt menschheitsgeschichtlich betrachtet eine Anomalie dar. Märkte hat es zwar schon seit langer Zeit und in vielen verschiedenen Gesellschaftssystemen gegeben, doch selten wurde es dem Markt erlaubt, alles andere zu dominieren. Ein »freier Markt« bedeutet Unfreiheit für alles andere, ob Mensch oder Natur.

»Wir vertreten die These, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutete. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten.« (Karl Polanyi, The Great Transformation)

Deshalb, so Polanyi, entstand eine Doppelbewegung. Die Gesellschaften, die sich dem freien Markt ausgesetzt fanden, versuchten sich gegen diesen zu schützen. Das wiederum führte zu politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Die Gegenbewegung – Arbeiterklasse aber auch sozialkonservative Kräfte, Naturschützer, Grundbesitzer – wurde wiederum von den Kapital besitzenden Klassen und dem von ihnen beherrschten Staat bekämpft. Diese Doppelbewegung  prägte die politische Landschaft des 19. Jahrhunderts.
Dazu kamen ein liberaler, auf das notwendige Minimum beschränkter Staat, der Goldstandard als Mittel für internationalen Finanzausgleich, und ein Kräftegleichgewicht im von Großbritannien dominierten Weltsystem – so fasste Polanyi das lange 19. Jahrhundert zusammen, das vom Ende der napoleonischen Kriege bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dauerte. In dieser Zeit gab es in Europa keine größeren Kriege und eine lang anhaltende Phase steigender Prosperität, was sich etwa in Wiens Gründerzeitfas-saden widerspiegelt. Kriege gab es allerdings sehr wohl in den Kolonien, wo auch Ausbeutung und Unterdrückung besonders grausam waren, was auch als eine Art Ventil für soziale Spannungen in Europa diente, wie Kari Polanyi-Levitt hervorhebt. Die Tochter des wichtigen Autors hat sich lebenslang mit Entwicklungsökonwomie beschäftigt.

Polanyis Ansatz hat in der Nationalökonomie keine große Rolle gespielt, er gilt vor allem als Geschichts- und Sozialphilosoph. Wichtig ist er hingegen in der sogenannten Institutionenökonomik und der ökonomischen Anthropologie. Mit der Idee, dass Ökonomie immer eingebettet in ein gesellschaftliches System zu denken ist, war er seiner Zeit weit voraus, auch mit seinen Arbeiten zu Ökonomien außerhalb des kapitalistischen Europas. Seine Sensibilität für organische Zusammenhänge, für eine Totalität aus Mensch und Natur macht ihn auch zum Vordenker für Solidarökonomie und Ökologie.

Karl Polanyi wurde 1886 in Wien geboren, wuchs aber in Budapest auf.  Schon in jungen Jahren gründete er den Galilei-Kreis, eine Bewegung, die sich der Modernisierung Ungarns verschrieben hatte. Zu seinem Umfeld zählten damals eine Reihe sehr wichtiger Intellektueller und Künstler, wie z.B. der marxistische Theoretiker György Lukacs oder der Komponist Bela Bartok. Polanyi kämpfte im Ersten Weltkrieg und erkrankte gegen Ende des Kriegs an Typhus. Nach dem Scheitern der sogenannten Astern-Revolution und der kurzlebigen Räterepublik 1918-19 kam er zur Rekonvaleszenz nach Wien, wo er und seine Familie bis 1933, bzw. 1934 lebten. In London in den 1930er Jahren war er in der Arbeiterbildung tätig. Als er 1947 an der Columbia University, New York, seine erste akademische Anstellung erhielt, war er bereits 61 Jahre alt, also kurz vor dem Pensionsalter. Seine Frau, die Revolutionärin Ilona Duscynska erhielt in den USA in der Ära des Kalten Kriegs kein Einreisevisum, weshalb sich die Familie in Kanada nieder ließ. Der deutsche und der österreichische Verband der Soziologen engagieren sich dafür, dass am Haus Vorgartenstraße 203 in Wiens 2. Bezirk, wo die Polanyis lange lebten, eine Plakette zur Würdigung von Polanyi und Duczynska angebracht wird, bislang ohne Erfolg. Die Stadt Wien fühlt sich nicht zuständig.

Literatur:

Polanyi, Karl. The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Translated by Heinrich Jelinek. Auflage: 10. Frankfurt (Main): Suhrkamp Verlag, 1973.
Levitt, Kari. From the Great Transformation to the Great Financialization: On Karl Polanyi and Other Essays. London; New York: Zed Books, 2013.
Polanyi, Karl. Chronik der großen Transformation: Menschliche Freiheit, politische Demokratie und die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Faschismus. Metropolis-Verlag, 2005.
Levitt, Kari, and Kenneth McRobbie. Karl Polanyi in Vienna: The Contemporary Significance of The Great Transformation. Black Rose Books Ltd., 2006.
Dale, Gareth. Karl Polanyi: The Limits of the Market. John Wiley & Sons, 2013.