Der Dozent und Groll eilten eine Gasse im 18. Wiener Gemeindebezirk entlang. Die Naaffgasse wies eine beträchtliche Steigung auf.
»Wollen Sie mich umbringen? Ich bin doch kein Gebirgsjäger«, protestierte Groll. »Was suchen wir hier überhaupt? Was habe ich, ein Bewohner des Flachlands, hier unter den Dreitausendern verloren? Mir scheint, auch die Luft wird schon bedenklich dünn.«
Er solle nicht übertreiben, erwiderte der Dozent. Der Pötzleinsdorfer Schlosspark vor ihnen übertreffe die siebenhundert Meter Höhenschichtlinie nicht. Schweigend eilten sie weiter. Bis der Dozent halt machte und mit ausgestrecktem Arm auf eine herrschaftliche Villa wies.
»Das ist das Ziel unserer Mission«, sagte er. »Wie angekündigt, will ich mit Ihnen, geschätzter Groll, die Ukraine-Krise erörtern und was eignet sich dazu besser als der Sitz der Ukrainischen Donauschiffahrt UDP.«
»Eine Schiffahrtsagentie in den Bergen? Eine seltsame Ortswahl.« Groll holte sein Fernglas aus dem Rollstuhlnetz und schaute sich um.
»Was sehen Sie?« fragte der Dozent.
»Die Ukrainische Botschaft«, erwiderte Groll. »Und das Konsulat. Und ich weiß, dass die Ukrainische Donaureederei in Izmail an der Mündung des Stroms ins Schwarze Meer drei Häfen, ein Krankenhaus und tausenddreihundert Schiffe unterhält.« Er setzte das Glas ab. »Das Gründungsjahr der Schiffahrtsagentur verweist auf die Geschichte der Ukraine als Teilrepublik der Sowjetunion, die damals aber gemeinsam mit Weißrußland über eine eigene Stimme in der UNO verfügte. 1948 waren die drei – Weißrußland, die Ukraine und die UdSSR – maßgeblich an der Anerkennung des neugegründeten Staates Israel beteiligt.«
»Später wandten sie sich allerdings vom Staat der aus Europa vertriebenen Juden ab«, wandte der Dozent ein.
»So wie sich die Ukraine nach 1991, dem Jahr ihrer erneuten Unabhängigkeit, sowohl vom Sozialismus als auch vom bürgerlichen Geschäftsleben abwandte und einen oligarchischen Gangsterstaat mit Beteiligung rechtsnationalistischer und faschistischer Gruppen etablierte, in dem der Antisemitismus so stark wurde, daß von den verbliebenen Juden ein Gutteil aus dem Land flüchtete oder dabei ist, es zu tun.«
Der Dozent setzte sich auf einen Mauervorsprung. »Es ist eine Schande, daß die Europäische Union dabei tatenlos zusieht. Wie sie auch nichts dabei findet, ein Land, das eine starke und ungebrochene faschistische Tradition hat, die von der Petljura-Truppe Anfang der zwanziger Jahre über die Bandera-Leute in den vierziger Jahren reicht, als Demokratie zu bezeichnen und zu unterstützen. Die Massenerschießungen der Juden fanden unter tatkräftiger Mithilfe zehntausender Ukrainer statt, es gab sogar eine ukrainische SS-Division. Und eben jener Stepan Bandera ist heute der Held der Westukraine und von Teilen der Maidan-Jugend(1). Daß der Mann mit den Nazis kollaborierte, stört seine heutigen Jünger keineswegs, sie finden es durchaus in Ordnung, den alten terminatorischen Antisemitismus wieder aus der Mottenkiste der Geschichte zu holen«, sagte der Dozent bitter.
Groll nickte, der Dozent fuhr erregt fort. »Immerhin vier Minister und ein Teil des Sicherheitsapparats sind Funktionäre der extremen Rechten. Das offizielle Europa findet nichts dabei. Im Gegenteil, die kalten Krieger und Russenhasser aller Fraktionen wollen den Zweiten Weltkrieg doch noch gewinnen.«
Er habe im Grundsatz recht, erwiderte Groll. Dennoch dürfe man, was die Ukraine anlangt, die soziale Frage nicht hinter die nationalistische reihen.
»Seit der Ausrufung staatlicher Eigenständigkeit 1991 wurde die Ukraine von den westlichen und östlichen Eliten systematisch zugrunde gerichtet. Die Infrastruktur des an sich reichen Lands mit Schwerindustrie im Osten und US-ähnlicher Agrarproduktion im Westen stammt noch aus der Sowjetzeit. Öffentliche Verkehrsmittel, Schulen und Krankenhäuser sind vorsintflutlich und abrissreif. Ähnlich wie in Ungarn wurde in die Infrastruktur nicht nur nichts investiert, im Gegenteil: was noch irgendeinen Wert hatte, wurde privatisiert und ausgeplündert. Dafür ist die Ukraine jenes Land mit der höchsten Maybach- und Supersportwagen-Dichte Europas. Die Fußball-WM war ein Maybach-Festival(2). In den Logen wurden Champagner und Kaviar aufgefahren, und vor den Stadien warteten Dutzende Chauffeure neben ihren deutschen Repräsentationskutschen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ein Freund von mir leitete das Catering, es stammte aus Österreich, von Do & Co.«
»Sie waren ja vor nicht langer Zeit selber in der Ukraine …«
»Ich war in Jalta auf der Krim und in Odessa«, bestätigte Groll. »Und was ich dort gesehen und erlebt habe, lässt mich für die Zukunft der Ukraine schwarz sehen. Das einst mondäne Seebad auf der Krim entpuppte sich als Ansammlung verfallener Häuser und Gemeinschaftseinrichtungen. Über all dem erhoben sich Ruinen von neu erbauten Hochhäusern, die vor Jahren aufgegeben wurden. Auf der verfallenden Mole rosteten Ausflugsschiffe und Tragflügelboote vor sich hin. Der Beton der Kais und Gehwege war tausendfach gebrochen, das Gehen oder Befahren mit dem Rollstuhl geriet zu einem Spießrutenlauf. Stufen ähnelten Klettersteigen, Handläufe und Relings waren unbenutzbar, auf Schritt und Tritt reckte sich einem geborstenes, scharfkantiges Eisen entgegen. Die großzügigen Plätze mit den riesigen Lichtspieltheatern und Schauspielhäusern aus der sowjetischen Zeit konnten kaum überquert werden, überall knietiefe Löcher, Abfall, Exkremente. Wohlgemerkt, ich spreche hier vom zentralen Platz Jaltas, unmittelbar hinter der Schwarzmeerpromenade. Polizisten, Kioskbetreiber und Fremdenführer erwiesen sich als muffige, unfreundliche und abweisende Zeitgenossen. Kein freundliches Wort, aber jede Menge feindseliger Blicke. Dafür aggressives Feilbieten minderjähriger Prostituierter, die bei vier Grad Kälte im Minikleid und mit Stöckelschuhen vor den wenigen Touristen einherstolzierten, bewacht von den Zwei-Meter-Hünen mit Doc Martens-Stiefeln, Schweinsaugen und Glatze. In die Kinos und Theater hatten sich hunderte Minigeschäfte hineingezwängt, drei Viertel waren mit Brettern verbarrikadiert. Es gab nur einige wenige Restaurants, auch da waren fast alle geschlossen; vor den Eingängen standen schwarze Mercedes G Geländewagen, getunt von der Firma AMG, mit zwölf Zylindern und sechshundertfünfzig PS oder Porsche Cayennes, auch in schwarz, auch mit verdunkelten Seitenfenstern. Allgegenwärtig auch hier schwarzlederne Hünen mit Glatze, die Heloten der modernen Ukraine, die jedem Politgangster die Drecksarbeit machen, ob er nun Juschtschewitsch, Timoschenko oder Janukowitsch heißt.«
Er frage sich, was unter derartigen Bedingungen Wahlen bewirken könnten, murmelte der Dozent. Und Groll fuhr fort:
»In dem devastierten Busbahnhof befand sich ein ausgedehnter Barackenmarkt, in dem kranke Tiere in engen Käfigen ohne Wasser und Nahrung feilgeboten wurden – von Katzen und Hunden über Hühner, Ziegen, Schweine bis zu Ponys und Esel. Die Tiere verdreckt und abgemagert, viele mit schwärenden Wunden. Verkauft wird alles, was die Märkte Asiens und des Vorderen Orients hergeben: gefälschte Kleidung, Uhren, elektronische Geräte, Rauschgift. Vor dem Markt bieten Rentnerinnen Kartonverpackungen von Elektrogeräten und Einkaufssäckchen feil, sie tragen zerschlissene Pullover und dicke Parkas, die Jahrzehnte auf dem Buckel haben. Ich erinnere mich an einen zirka zehnjährigen schmalen Buben, der seine Schätze auf dem verdreckten Gehsteig zum Verkauf aufgereiht hatte – ein Paar in Auflösung begriffene Turnschuhe, ein Matchbox-Auto mit nur wenigen Farbresten, zwei Bleistifte, eine kleine blaue Badezimmerente. Mit einem Wort: Das St. Tropez der Krim, der einstige Kurort der Werktätigen und Künstler, präsentierte sich als Vorhölle.«
»Und wie war es in Odessa?«
Ein Sicherheitsbeamter der Botschaft war auf die beiden aufmerksam geworden. Der Dozent erhob sich. Groll fuhr fort:
»In Odessa war es noch schlimmer. Selbst große Durchzugsstraßen mit Schlaglöchern übersät, die breiten Gehsteige zugeparkt, so daß man in die Mitte der Straße, nur dort waren keine Schlaglöcher, ausweichen mußte. Die Autofahrer schoßen so knapp vorbei, dass ich um das Leben meiner Frau fürchtete, die mich schob. Kommunale Autobusse aus den fünfziger Jahren, teilweise ohne Fensterscheiben – und das bei winterlicher Kälte! – jedes zweite Haus eine Ruine. Nirgendwo ein Cafe, wo man sich aufwärmen konnte. Nur der Hafen modern und geschäftig. Er gehört längst der Hamburger Hafen AG.
Wir sahen wie ein knieender alter Mann den Marmorboden vor Boutiquen mit einem Handbesen säuberte, streng überwacht von der in Pelz gehüllten Patronin. Vor dem »Hotel Mozart« beim Opernhaus schrubbte eine leicht bekleidete Kellnerin mit einer Zahnbürste die Fugen des Eingangsbereichs. Auch sie wurde überwacht, von zwei Schlägern in Black.«
»Wer ein Land so verkommen läßt, braucht sich über nichts zu wundern«, sagte der Dozent dumpf. »Wie wird das weitergehen?«
»Zu erwarten ist ein zäher Stellungskrieg und ein weiterer Verfall des Landes. Und in der Folge Flüchtlingstrecks, die von der EU nicht eingelassen werden.«
Der Sicherheitsbeamte kam auf die beiden zu. Er sprach in ein Funkgerät, das er um den Hals hängen hatte. Groll und der Dozent machten sich aus dem Staub. Ob der Dozent wisse, wer der Namensgeber der Naaffgasse gewesen sei, wollte Groll wissen. Ein deutschnationaler Schriftsteller und Journalist, erwiderte der Dozent. Dann seien die ukrainischen Diplomaten ja unter Freunden, sagte Groll und lächelte.