Um die Praxis der Sprachkritik stand es schon besser: In seiner Besprechung von Karl Kraus »Sittlichkeit und Kriminalität« bezeichnete Theodor W. Adorno diesen insofern als Hegelianer contre cœur, als Kraus Verfahren immanenter Kritik entspräche. Diese sei bei ihm mehr als Methode und »stets die Rache des Alten an dem, was daraus wurde, stellvertretend für ein Besseres, das noch nicht ist« und möglich, da »eine Sache, die selber redet, unvergleichlich mehr Gewalt hat als hinzugefügte Meinung und Reflexion.« Wer gesellschaftliche Totalität kritisieren will, hat es schwer; nicht nur aufgrund unvermeidlicher eigener Verstrickung in den Gegenstand, sondern weil sie – wie fragmentarisch auch immer – auf den Begriff zu bringen ist. Sowohl Richard Schuberth, als auch Magnus Klaue nehmen auf je eigene Weise den sprachkritischen Impetus sowohl von Adorno als auch Kraus auf und begreifen Sprache nicht als bloßes Werkzeug oder »Diskursnetz«, sondern als etwas, in dem Erfahrungen sedimentieren.
Richard Schuberth versammelt in seinem Band »Das neue Wörterbuch des Teufels« nicht nur die gesammelten – gezählten 718 – aphoristischen Anstrengungen einiger Jahre, die sich allerdings nicht wie solche lesen, sondern wie geglückte Momente der Inspiration, die sich dank konvenabler Umstände in Papier gefallen. Diesen – in geschliffener, aber nicht abgegriffener Sprache geschriebenen – Kleinoden(1) sind drei äußerst lesenswerte Aufsätze angefügt: Im ersten Text portraitiert Schuberth Ambrose Bierce und dessen »Devil‘s Dictionary«, wobei er Parallelen zu Karl Kraus zieht, mit welchem ersterer die Ehre teilte, »einer der meistgefürchteten und -gehassten Männer seiner Zeit gewesen zu sein«. Bierce konsequenter Negativismus war Methode, dessen kathartische Wirkung einen Unterschied ums Ganze zu »Halblustigen unserer Tage, die sich bemüht politically incorrect geben« ausmache. Er spielte die Rolle des »bissigen Grantscherbens, der an der Welt kein gutes Haar lässt«, was »wie ein dämonischer Zerrspiegel«, wirke, »der versteckte, verdrängte Wahrheit entblößt.« Das anschließende »Plädoyer für den Aphorismus«, jenes »kleinste mögliche Ganze« (Musil), streicht dessen »Potenz, mehrere Bedeutungen gleichzeitig auszudrücken, ohne sich in Beliebigkeit zu verlieren« hervor, die »weder Ausdruck positiver Wahrheit noch verbindlicher Meinung« sei, »sondern Konzentrat gedanklicher Widersprüche, das sich bewusst der analytischen Erklärung entzieht.« Im umkreisten, aber nie endgültig fixierten Punkt, in dem – nach positivistischen Vorstellungen – eine Sache definitiv ihr Ende finden sollte, findet sich auch die Anstrengung wieder, vermittels des Begriffs über diesen hinauszugelangen: »Das kategorisierende Denken tut der flatterhaften Wirklichkeit Gewalt an, indem es diese wie Schmetterlingsleiber aufspießt, während aphoristisches Denken sie liebe- und respektvoller mit seinen Über- und Untertreibungen im Fluge umspielt und somit seinen Beitrag leistet zu einer tieferen philosophischen Humanität.«(2) Im programmatischen Aufsatz »Schaum und Blasen«, legt Schuberth offen, was er als seine Aufgabe begreift: »Miniaturgemeinheiten zum Andenken gegen die Gemeinheit der Welt.« zu produzieren. Als die besten Aphorismen bezeichnet er jene »die man noch nicht versteht, aber zu verstehen glaubt«. Das Verständnis für diese wachse jedoch erst mit Sprach- und Denkerfahrungen; aphoristisches Denken bedeute in und nicht mit der Sprache zu denken. Es gehe ums Unbegriffene, das sich nicht »mit den Kategorien des Bekannten« kolonisieren lässt: »Begreifen projiziert das bereits Begriffene ins Neue, noch nicht Vertraute und zwängt dieses dann in seine gewohnten Begriffe«. Im gesellschaftskritischen Aphorismus zeige sich hingegen, »dass die Wahrheit sich ihm nur in der Negation der Unwahrheit zeigt, als positive Setzung aber eine Chimäre bleibt.« Die Unwahrheit vermittels der Taktik des Tabubruchs zur Kenntlichkeit bringen zu wollen, geht aber fehl: Wie probat schwarzer Humor und provokative Obszönität als »subversive Waffengattung« gewesen sein mögen, fest stehe, dass sie heute – ihres Objekts verlustig – ins Leere schlagen und zur einer Attitüde verkommen seien, als deren degoutanteste aktuelle Spielart das Bemühen der »political incorrectness« gelten kann. Diese bezeichnet Schuberth im nämlichen Aphorismus als »Hi-Hi-ismus der kleinen Scheißer. Dümmliches Schmarotzen der Schnösel an der mitunter dümmlichen politischen Korrektheit, deren mitunter berechtigte Provokation bei ihnen zu nicht mehr reicht als dem Nachäffen der allgemeinen Demütigung von Minderheiten und Schwachen.« Sich aber im Umkehrschluss dem zu verschreiben, was »politische Korrektheit« genannt wird, bleibe als »der deutsche Michel unter den geistigen Möglichkeiten« ebenso der Oberfläche verhaftet, da sie nach wie vor unhaltbare Zustände lediglich durch das Aufstellen rigider Sprachregelungen behübsche.
Auch Magnus Klaue beschäftigt sich mit Regulierungen im Medium der Sprache: Der Text »Das sogenannte Ich. Zur Sprachkritik der Political Correctness« handelt in Rezensionsform(3) vom »Sprachreformismus« jener, die Sprache nicht als »Ausdrucksform, in der sich die Erfahrung einer widersprüchlichen Wirklichkeit kristallisiert« begreifen, sondern an ihr als »Konstruktion« so lange herum laborieren, »bis sie der vermeintlich korrekten Gesinnung entspricht, deren sprachlichen Niederschlag man dann mit jener Realität verwechselt, die man längst nicht mehr zur Kenntnis nimmt.«(4) Die Differenz von Wesen und Erscheinung, in der Gesellschaftskritik einzuhaken hätte, wird in der – als vorgängig begriffenen – Sprache negiert, in der sich statt Antagonismen »Spannungsfelder« auftun. In »Farblose Fantasien« kritisiert Klaue die »kindgerechte Deformation« von Kinderbüchern; deren Anpassung und Revision unter dem Ziel der Integration möglichst vieler »Menschenschablonen«, während sich Kinder in guten Büchern durchaus mit Figuren identifizieren könnten, »die ein anderes Geschlecht und eine andere Hautfarbe haben als sie selbst, weil ästhetische Erfahrung erst dort beginnt, wo nicht einfach die Wirklichkeit verdoppelt, sondern eine andere geschaffen wird, die zugleich fremder und vertrauter ist als die empirische.« Der Titel seines Buches »Verschenkte Gelegenheiten« verdankt sich Magnus Klaue zufolge dem Umstand, dass es sich bei der darin enthaltenen Zusammenstellung eher um Gebrauchstexte handelt, die einer Selbstverständigung darüber dienen, mit welchen Themen er sich anlässlich bestimmter Gelegenheiten beschäftigt hat.(5) Obwohl die Texte »keiner strikten thematischen Ordnung und Chronologie« folgen, lassen sich trotzdem »vielleicht Konturen eines Zusammenhangs ablesen, den sie eher darstellen als bündig entwickeln.« »Die Bauchredner des Affekts« hebt an mit dem Verhältnis von Rhetorik und Poesie und leitet derart zur negativen Aufhebung ihrer Widersprüche in der Rehabilitation von Wut als politischer und sprachlicher Kategorie über: So meint der Ausdruck »Wutbürger« nicht, dass sich die Menschen »Inhumanität und Gewalt nicht länger bieten lassen wollen«, sondern dass sie offen die Bereitschaft bekunden, jederzeit gegen vermeintliche Feinde loszuschlagen. Dies zeugt also weniger von Beteiligung an öffentlicher Auseinandersetzung, sondern vom Misslingen zivilisatorischer Bemühungen; jene Wut, die zum »affektiven Kulturgut« geadelt wird, »ist nichts als die nach innen gestaute, stumm und böse gewordene Trauer über den Tod, den man längst gestorben ist.«(6) Die dichteste Auseinandersetzung mit »postmodernen Transgressionen« in – sich als kritisch verstehenden »Bewegungen« oder akademischen Zirkeln – leistet Klaue im Text »Performative Mobilmachung«. Anhand der Schlagworte »Travestie«, »Performanz« und »Inszenierung« – kritisiert er die Fixierung bewegungslinker Gruppen auf die Sphäre des Ästhetischen und die damit einhergehende »negative Aufhebung des Gegensatzes von Kunst und Politik« in Form der »Parade«. Diese Nivellierung drücke sich auch im Ressentiment gegen zivilisatorische Errungenschaften in der Subjektkonstitution aus, welches in letzter Konsequenz auf eine barbarische Verwirklichung von Nietzsches Diktum »Was fällt, das soll man stoßen« hinausläuft. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in seiner Analyse des Manifests »Der kommende Aufstand«. Bei diesem – zu verhindernden – Programm handle es sich letztlich um einen regressiven Entwurf, bei dem mit den menschenunwürdigen Zuständen zugleich alle Restbestände von Sozietät entsorgt werden sollen. Weitere Texte skandalisieren den Geist geistloser Zustände an anderen Phänomenen: Die deutsche Reformpädagogik am Beispiel der Odenwaldschule, die »neuchristlich fundierte Knuddelbegeisterung« in ihrer spezifisch deutschen Ausformung (»Der Angriff der Kuschel-Guerilla«); Liebesunfähigkeit anhand der »Liebesschlösser«. Diese kurzen, glossenhaften Texte greifen verschiedene kulturelle Erscheinungen und Moden pointiert als Abhub sozialer Zustände auf. Wem an profunden, brilliant formulierten Reflexionen gelegen ist, und keine gedankenarmen Streicheleinheiten fürs linke Ego erwartet, seien beide Bücher an Herz und Hirn gelegt.
Magnus Klaue: »Verschenkte Gelegenheiten. Polemiken, Glossen, Essays«; ça ira Verlag; 2014
Richard Schuberth: »Das neue Wörterbuch des Teufels«; Klever Verlag; 2014