»Über Pop-Musik« ist mit seinen knapp 500 Seiten genau jene Schwarte, die es braucht, um sich dem Thema überhaupt nähern zu können. Danach brummt erst einmal der Kopf. Weniger wegen einer wie auch immer unterstellten Unlesbarkeit, sondern weil Diederichsen als ausgewiesener »Sopranos«-Fan eine verschlungene elliptische Erzählstruktur gewählt hat, wo aus immer wieder neuen und anderen Blickwinkeln und Perspektiven auf dieses Ding namens Pop-Musik geschaut wird. Das mag verwirren, wenn an sich schon verschlungene Gedankengänge auch mal ins Nichts führen, abbrechen oder plötzlich die Richtung ändern. Aber hier geht es auch um das Nachzeichnen eines Denkens über Pop, bei dem »Kritik« immer auch die Aufgabe hat, Bruchstellen (auch in der eigenen Denk-Biografie) zu benennen.
»Über Pop-Musik« lässt uns daher auch immer wieder in Löcher fallen, lässt blinde Flecken und Lücken zu, die entweder selber aufgefüllt werden können, oder die an anderer Stelle unter anderen Vorzeichen erneut zur Disposition gestellt werden. In diesem Sinne ist Diederichsen auch wirklich ein Stück Pop gelungen, bei dem sich die behandelten Themen und die Art, wie das passiert, als Wiederholungen, Loops, Breaks (des Denkens, der Theorien, der Leidenschaften, des Begehrens) zwingend ergänzen.
Gerade weil Pop-Musik ein Thema ist, bei dem alle mitreden können (ähnlich wie Fußball), stellt sich aber auch die Frage, worum geht es eigentlich?
»Pop-Musik«, so stellt Diederichsen gleich zu Beginn fest, ist »eine andere Sorte Gegenstand«, zusammengebastelt aus »aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen«, wobei die einzelnen Elemente (anders als etwa bei Kino und Literatur) jedoch durch »kein einheitliches Medium« mehr verbunden sind. Erst »die Hörer, die Fans, die Kunden von Pop-Musik selbst sorgen für diesen Zusammenhang«. Kurz: Pop-Musik beginnt sich dort zu ereignen, wo Black Vinyl und Silver Screen plus TV-Set aufeinander treffen.
Es beginnt meist mit dem Posen vor dem Spiegel, wo mittels Luftgitarren oder imaginären Mikrophonen Pop-Musik (nach-)gespielt wird. Nicht nur, weil Pop-Star spielen Spaß macht, sondern weil hier noch ganz andere Dinge schlummern. Ein anderes Denken, andere Beziehungs-, Kommunikations- und Verabredungsformen. Und vielleicht wird schon in diesem »Spiegelstadium« (Diederichsen entnimmt diesen Begriff mit allen Konsequenzen bewusst direkt bei Lacan) etwas klar: »Es ist konstitutiv für alle Pop-Musik, dass in keinem performativen Moment klar sein darf, ob eine Rolle oder eine reale Person spricht. Dies ist eine entscheidende Spielregel.«
Pop-Musik produziert gleichsam seit den Anfängen in den 1950ern (und später speziell seit den 1960ern) Prosumer avant la lettre, die ihrerseits diese »andere Sorte Gegenstand« herstellen. »Der Witz des kulturindustriellen und künstlerischen Formats Pop-Musik ist, dass sie von allen Beteiligten immer wieder aktiv zusammengesetzt werden muss.« Von daher unterscheidet sich Pop-Musik radikal von »Musik-Musik« (bei der die »Musikalität« im Vordergrund steht) wie von populärer Musik, der »das Statische zugewiesen ist«, unterhält jedoch mit beiden mal mehr, mal weniger verwuselte Beziehungen.
Zudem stellt Pop-Musik die alte Hierarchie zwischen den »markierten und unmarkierten Zeichen« radikal um. Denn die genuine Pop-Musik-Erfahrung ist ja nicht das kleine Lied, das nachgesummt wird, sondern es sind jene »Totemsounds«, die nicht mehr nachgesummt werden können, bzw. die erst für Aufmerksamkeit sorgen, weshalb es dann auch genau jene kleinen, simplen Lieder sind, die mit jeder Menge sonischen Wahnsinns daherkommen, die Pop-Musik-Fans zu jenen neuen Hörerfahrungen verhelfen, von denen die Avantgarden immer dachten, sie würden sich nur dort einstellen, wo alles aus sonischem Wahnsinn besteht.
Als ein Kennzeichen von Pop-Musik macht Diederichsen dann auch die Entwendung, den Gebrauch wie auch die Raubzüge der Pop-Musik durch den Fundus »herabgesunkener Zeichen« aus.
»Pop-Musik wäre im Verhältnis zu den ruinierten Zeichen und Komponenten dieser heruntergekommenen populären Kultur ein Neuanfang, der aus Trümmern und Ruinen einer entleerten Musik und Sprache etwas Neues beginnt.«
Das lässt sich von Elvis bis zum hauntologischen Hypnagogic-Pop beobachten. Jedoch gibt es seit den Nuller-Jahren Verschiebungen, die weniger bei den »ruinierten Zeichen« und deren jeweiligen Entwendungs- und Verwendungs-techniken zu suchen sind, sondern bei den ruinierten »sozialen Formaten der Partizipation«. So blühend diverse Nischen auch sein mögen, der Unterschied zu früher besteht, wie Diederichsen in einem Radiointerview anmerkt, darin, dass »die Nischen untereinander nicht mehr miteinander kommunizieren«, es zu keinen größeren Transfers zwischen Extrempositionen mehr kommt, die dann auch auf die Pop-Musik als Ganzes einwirken.
Wie Owen Heatherley in seinem Essay über Pulp »These Glory Days« (2012), Berthold Seliger in »Das Geschäft mit Musik« (2013) und Marc Fisher in »Kapitalistischer Realismus ohne Alternative« (2013) betrachtet und analysiert auch Diederichsen (infra-)strukturelle Veränderungen (des Marktes, der Ökonomie, des Sozialen, der Kommunikationsmittel) als hauptauschlaggebend für Veränderungen innerhalb der Pop-Musik. Etwa wenn er Pop-Musik in eine »heroische«, eine »weniger heroische« und eine »postheroische« Phase einteilt und damit nicht meint, dass die Musik nach der »heroischen Phase« mehr Scheiße als zuvor, aber zumindest weniger als danach gewesen sei, sondern dass sich ab dem Zeitpunkt, wo sich ein »Gegenkulturalismus ohne Gegenkultur« diagnostizieren lässt, die »heroische Phase« zu etwas anderem geworden ist.
Veränderungen in der Popmusik sind bei Diederichsen (und hierbei unterscheidet er sich erheblich von Kulturpessimisten wie Simon Reynolds) daher zuerst einmal weder per se schlecht noch gut. Sie künden etwas anderes an (markieren einen Bruch, der auch als solcher markiert sein will) und haben vielleicht sogar wieder mal ein Paar neue Ohren im Angebot. Wir können sowieso erst Jahre (bzw. Jahrzehnte) später konkretere Aussagen darüber treffen, was da nun los war.
So fungieren auch die (teilweise sehr langen und ausführlichen) biografischen Einschübe als exemplarische Stationen eines Werdens, eines immer wieder neuen Eintretens in immer wieder neue symbolische Pop-Musik-(Welt-)Ordnungen. Wobei der Moment solch einer Initiation nie im Voraus geplant werden kann.
Diederichsen passiert solch ein Ereignis als Teenager 1972 bei einem Johnny-Winter-Konzert. Jetzt gäbe es sicher etwas mit mehr Sophistication, aber darum geht es nicht. Auch deshalb schreibt er über »Das zweite Mal«, wo nun Kraftwerk und Cluster auf der Bühne stehen. Die ersteren »Witzfiguren, die einen Jugendlichen damals nicht beeindrucken, aber immerhin amüsieren konnten«, die zweiteren »machten einen langsam anschwellenden Lärm, der mit keiner Idee von Musik, die ich damals kannte, etwas zu tun hatte.«
Zwar wird sich hier unter Gruppenzwang »verarscht« gefühlt, dennoch ereignet sich etwas, weil Diederichsen Cluster doch irgendwie »cool« findet: Pop-Sensibilität im Stadium des Vorbewußten.
Anders gesagt: »Pop-Musik ist immer so gut wie die Fragen, die zu stellen sie ermöglicht.« Und auch die Frage »Was ist das für ein Typ?« bei der in Sachen Pop-Musik immer ein Dreistufenplan in Kraft tritt (»1. So will ich sein. 2. Den / die will ich haben. 3. Da will ich hin.«) geht in diese Richtung. Denn es geht nicht nur bei Diederichsen neben den neuen Hörerfahrungen auch immer um ein neues Denken mit und über Pop-Musik, das jedoch nie nur auf Pop-Musik beschränkt ist.
Ebenso wie Pop-Musik jede Menge Schmuggelwaren von den »Schwarzmärkten der Ideen« (Zizek) zirkulieren lässt, so betreibt Diederichsen Theorietransformationen (etwa aus der Bildenden Kunst oder der Semiotik) um von diesen - eigentlich Pop-Musik-fremden Territorien - einen umso schärferen Blick auf diese »andere Sorte Gegenstand« werfen zu können.
Speziell die Re-Lektüre von Adorno (vgl. dazu auch »Pop mit Adorno« in Versorgerin #96) zeigt, wie eine Aktualisierung der Kritischen Theorie von statten gehen kann. Dabei muss nicht erneut das Jazz-Missverständnis unproduktiv hochgekocht werden. Viel wichtiger ist, und darauf weist Diederichsen ja auch schon seit Jahren hin, dass Adorno jemand war, der in seinen Analysen der Kulturindustrie als einer der wenigen Pop überhaupt ernst genommen hat. Zwar bereiteten ihm neben Jazz auch die Operette (und Stravinsky) wegen ihrer für ihn schier unerträglichen Körperlichkeit Alpträume (»Wir kommen unter Autos, weil wir’s unachtsam summen, beim Einschlafen verwirrt es sich mit den Bildern unserer Begierde“, so Adorno 1932 in seinen »Arabesken zur Operette«), aber ist es nicht genau das, was Pop-Musik zu diesem begehrenswerten »Anderen« macht? Markieren Adornos homophobe Ausfälle gegen den Jazz (effeminierte Männer!!!) nicht genau das, was sich Pop-Musik u.a. von Jazz als Pose geholt hat (Stichwort Cab Calloway)?
Diese Re-Lektüre geschieht zudem vor dem Hintergrund von Jazz als afro-amerikanischen »Ausgangspunkt einer anderen Moderne« in der das »Jazz-Subjekt« durch »Double Consciousness« geprägt ist und die Erfahrungen dieses »Doppelbewusstseins«, gerade weil diese »immer schon postmodern« waren, eine nicht bzw. nur schwer überbrückbare Differenz zur klassischen Moderne und dem »Primitivmus«-Hype der europäischen Avantgarden darstellt (weshalb auch viele Crossover-Projekte zwischen Neuer Musik und Jazz per se zum Scheitern verurteilt sind). Es gibt in »Über Pop-Musik« einige solche Stellen, die sich gleichsam wie ein zweites Buch lesen lassen (u.a. eines, bei dem sich Foucault und Adorno heimlich austauschen).
Und auch darum geht es: Das Andere, von Pop-Musik (radikal) getrennte, als »Anderes« zu genießen und dieses Genießen jedoch nicht als Abkehr von Pop-Musik zu verstehen, sondern gleichsam als fröhliche Klausur zu betreiben, um von dort aus die Potentiale von Pop-Musik neu erkennen zu können.
Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Kiepenheuer & Witsch, 2014.