»Die Kraft des Geistes ist nur so stark als ihre Äußerung«
G.W.F. Hegel
Psychosomatische Beschwerden werden im Allgemeinen unbestimmte physische Beschwerden genannt, für welche die Schulmedizin keine klaren und ernsthaften medizinischen Ursachen nennen kann. Ein Spezialfall psychosomatischer Beschwerden sind ernsthafte physische Erkrankungen, welche in enger Beziehung zu einer psychischen Krankheit stehen. Klassische psychosomatische Beschwerden sind u.a. Störungen des Verdauungssystems, welche bis zu schmerzhaften Krämpfen reichen können, hartnäckige Erkältungserkrankungen bzw. Erkrankungen im HNO-Bereich und Hauterkrankungen.
Psychosomatische Beschwerden können in jedem Alter auftreten, doch als ausgebildete neurotische Erkrankung dürften diese, wie die Neurose, erst in den mittleren Lebensjahrzehnten erscheinen. Oftmals können auch die physischen Symptome eine regelrechte Entwicklung durchlaufen, deren Anfangsphase oft von sekundären, temporären Alltags-Erkrankungen praktisch nicht zu unterscheiden ist. Die psychosomatische Erkrankung kann auch bestehende Neurosen ablösen. In jedem Fall besitzt der Betroffene eine Disposition zur Psychosomatik, d.h. eine Anfälligkeit eine psychische Erkrankung auch körperlich zu äußern. Verschiedene Individuen reagieren daher unterschiedlich auf ähnliche pathogene Faktoren. Was dem Einen auf den Magen schlägt, lässt den Anderen zwar nicht kalt. Doch dieser bildet schlicht keine somatischen Symptome.
Latente Phasen, welche wohl auch bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht unüblich sind, können bereits negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden der Betroffenen haben. Diese Verstimmungen werden jedoch allein als notwendiger Effekt der physischen Störungen verstanden. Die Konzentration der vormals latenten Störungen zur chronischen Erkrankung, bzw. die daraus resultierenden sich steigernden physischen und psychischen Beschwerden führen zu einer Art Ersatz-Krankheitseinsicht, welche jedoch mit schlafwandlerischer Sicherheit selbst in eine Kompensation, d.h. ein Krankheitssymptom, umschlägt.
Die ausschlaggebende Selbsttäuschung der psychosomatischen Abwehr, ihr blinder Fleck, liegt darin, die Psychodynamik der Erkrankung zugunsten einer Reduktion derselben auf die physischen Erscheinungen (damit auch zu Ungunsten einer Linderung) zu unterschlagen. Mit anderen Worten: depressive Zustände, Unbehagen, Aggressionen etc., welche im Laufe der Erkrankung sich oft unauflöslich mit den physischen Beschwerden und Schmerzen amalgamieren, sodass physischer und psychischer Affekt kaum mehr zu unterscheiden sind, werden nicht als elementares Moment der Erkrankung erkannt.
Diese fatale Fehleinschätzung wird noch dadurch unterstützt, dass, anders als gemeinhin angenommen, psychosomatische Beschwerden keine »eingebildeten« Störungen und Schmerzen sind, sondern eher als destruktive, symbiotische Beziehung zwischen einer psychischen Erkrankung und einer physischen Grunderkrankung zu begreifen sind. Wie so oft bei psychischen Erkrankungen besetzen pathologische Abwehrreaktionen/psychosoziale Konstellationen objektive Konflikte und Beziehungen und erschweren daher deren Kritik. Die Tatsache, das die Mehrheit der Psychosomatiker durchaus an einer medizinisch feststellbaren physischen Krankheit oder Störung leiden, bestärkt sie in ihrem Drang, die unhaltbaren Zustände, sozusagen unter Preisgabe ihrer physischen Gesundheit, zu externalisieren und somit Ich-fremd zu halten.
So werden beispielsweise bei Betroffenen mit ernsthaften Störungen im Verdauungssystem regelmäßig Nahrungsmittelallergien, Bakterienbefall im Magen oder ähnliche physische Unregelmäßigkeiten, welche kaum den Namen Krankheit verdienen, diagnostiziert. Den Betroffenen, welche zum Teil bereits mehrere Ärzte aufgesucht haben, erscheinen diese Diagnosen als lange erwartete Antwort und Ausweg aus einem zusehends prekärer werdenden Zustand. Nichts erscheint verführerischer als sich der quälenden Beschwerden durch simple Einnahme von Medikamenten zu entledigen.
Der ersehnte medizinische Befreiungsschlag entpuppt sich freilich bald als beliebige Station der psychosomatischen Karriere. In vielen Fällen entsprechen die zugrundeliegenden physischen Erkrankungen und Störungen nicht lokal eingrenzbaren und spezifischen medizinischen Krankheiten, weshalb seriöse Schulmediziner auf die reale Möglichkeit einer psychosomatischen Erkrankung verweisen müssen oder zumindest offenlegen sollten, allein Symptome zu behandeln, deren genaue Ursache ungeklärt ist.
Eine berechtigte Kritik an der Schulmedizin kann hier schnell in eine gesundheitliche Gralssuche umschlagen. Der Vertrauensverlust in die etablierte Medizin führt vielfach allein in ein unkritisches Vertrauen in ganzheitliche und esoterische Behandlungsmöglichkeiten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Naturheilgewerbes und der Esoterik dürfte von Betroffenen psychosmatischer Erkrankungen und deren Neigung nach Externalisierung bzw. Verdinglichung der Ursache ihrer Beschwerden profitieren.
Hier kann auch der Umschlag der Ersatz-Krankheitseinsicht in ein regelrechtes Krankheitssymptom erfolgen, der die Psychodynamik dieser Erkrankung beispielhaft darlegt. Der berechtige Wunsch nach Heilung offenbart sich hier als rigide Maßnahme, Kontrollverlust zu bekämpfen, Körper und Es zu disziplinieren und zu manipulieren. Vermeintlich gesundheitliche Praktiken nehmen dann selbst die Form zwanghafter Verhaltensformen und Vermeidungsstrategien an. Die in den psychosomatischen Beschwerden offenbare krankhafte, unvermittelte Trennung von Körper und Geist wird durch diese Illusion fortgeschrieben.
Ein möglicher Ausweg aus dieser Misere liegt darin, die durch die physischen Beschwerden ausgelösten psychischen Krisen und Affekte selbst als originäres Moment der Erkrankung zu begreifen. Dies bedeutet, beispielsweise Aggressionen und Selbstzweifel nicht als sekundäre und beliebige Folge der körperlichen Zustände abzuspalten, sondern umgekehrt das physische Unbehagen als Moment unhaltbarer psychischer Zustände anzuerkennen. Die kritische Reflexion auf Verhaltensformen und Konfliktstrategien im Umgang mit den Symptomen und der physischen Krise kann erste wichtige Hinweise auf die Natur der verdeckten psychischen Erkrankung liefern.
Letztlich kann allein der Betroffene den wichtigen Schritt zu einer echten Krankheitseinsicht unternehmen. Die Vielzahl an zum Teil schwer eingrenzbaren systemischen physischen Erkrankungen, deren Krankheitsverlauf und -symptomatik selbst unter Medizinern nicht eindeutig geklärt ist, und objektive Hinweise auf eine physische Erkrankung fördern die Neigung der Betroffenen, der notwendigen Krankheitseinsicht auszuweichen und die Krise allein als medizinische Frage zu fassen. Jeder zusätzliche Laborbefund, der die physische Grunderkrankung bestätigt, jede Aussicht auf neue methodische Ansätze zu einer vermeintlich endgültigen Lösung der physischen Erkrankung verstärkt die Neigung zur Abwehr. Im vollständigen Gegensatz zum medizinischen Arzt-Patient Verhältnis muss hier in gewisser Weise der Patient selbst die Diagnose treffen. Es gibt keine objektive Methode eine psychosomatische Erkrankung festzustellen. Der Betroffene muss vor sich selbst die chronische psychische Erkrankung offenlegen, welche auf die damit verwobene psychosomatische Erkrankung verweist. Der Körper ist stumm, der Geist muss sich artikulieren.
Der unbedingt erforderliche nächste Schritt zu einer adäquaten und professionellen Hilfe bringt jedoch selten die ersehnte Erlösung. Vielmehr ist sie erst der Beginn einer jahrelangen und schwierigen Auseinandersetzung, an deren Ende selten eine vollständige Befreiung von den körperlichen Beschwerden, dafür jedoch vielfach eine bedeutende Linderung derselben steht.