Der 1932 geborene Hans G Helms überlebte den Nationalsozialismus unter anderem in Berlin mit gefälschten Papieren. Nach '45 weilte er mit einem Nansen-Pass an verschiedenen Orten außerhalb Deutschlands, kehrte schließlich zurück und war in den 1960ern »so eine Art Privatschüler von Adorno und Horkheimer.« Aus einem Privatseminar über Max Stirner entstand »Die Ideologie der anonymen Gesellschaft«.1 Dabei verfasste er nach Marx und Engels zum zweiten Mal eine Kritik von Max Stirners »Der Einzige und sein Eigentum«, die ausführlicher war, als das kritisierte Werk selbst. Stirners Werk hatte laut Helms »durchaus kontinuierliche Wirkung, sie war mittelbar, deswegen nicht weniger intensiv«, und habe sich vor allem in pädagogischen Journalen sowie in Journalismus, Film und Kunst entfaltet. Schließlich konkretisiert er, »die Ideologie Stirners« sei vor allem zu verstehen »als Vorbereitung auf faschistische Praxis.«
»Die Ideologie der anonymen Gesellschaft« besteht aus zwei Strängen, welche beständig Bezug aufeinander nehmen: Zum einen aus dem Nachvollzug der Hauptströmungen der Wirkung Stirners bis in die Gegenwart. Zu Stirners euphorischen Lesern zählten nicht nur Mussolini und der Hitler-Mentor Dietrich Eckart, sondern auch Martin Heidegger, Georges Sorel, Silvio Gesell, Carl Schmitt und Richard Wagner sowie Rudolf Steiner, Max Adler, Dostojewski, B. Traven, Wedekind und Shaw, Ernst Jünger sowie Spengler und Hartmann. Hans G Helms scheint geahnt zu haben, dass seine Analyse nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen werden wird, und begegnete dem schon im Voraus mit einer gehörigen Redlichkeit. Neunzig Seiten Literaturverzeichnis und 1358 Fußnoten stehen zur Überprüfung für Kritiker bereit, die sich bisher jedoch alle davor gedrückt haben. Diese Fleißarbeit wäre schon bemerkenswert genug. Rückgebunden wird jedoch immer an den zweiten Strang der Arbeit, in welchem die zur Rezeption Stirners parallele Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, dabei besonders die Entwicklung des Mittelstandes und Kleinbürgertums »als Klasse« nachvollzogen werden. Es geht somit um die Frage, wie jenes »Wir«, das bei Stirner allem radikalen Individualismus zum Trotz auch schon immer präsent ist, in der späteren Folge komplett freigesetzt werden konnte. So schreibt Helms auch über Marx und Engels: »Wäre es ihnen gegeben gewesen, die Wege zu erforschen, die der ‚Einzige‘ seitdem gegangen ist, der Spott wäre ihnen vergangen.«
Helms geht davon aus, dass die Proletarisierung der Angestellten nicht stattgefunden habe. Im Zuge der »Anonymisierung der Eigentums-verhältnisse und Verfügungsgewalten« und der »Arbeitsteilung von Kapitalbesitz und Kapitalkontrolle« übernahmen sie vielmehr vollständig die Kontrolle und wurden zur »in Stellvertretung herrschende Klasse.« Sie sind Charaktermasken, die weder Arbeit (im industriellen oder produktiven Sinne) noch Kapital verkörpern, sondern das Feld der Dienstleistungen. Dabei kommt ihnen vor allem die »Kommunikation zwischen Proletariat und Eigentümern« zu. Ihre Tätigkeit trägt somit den »Charakter von Klassenkitt.« Und damit sind sie es, »die die heutige klassenlose Gesellschaft in ihren Kreisen vorweggenommen haben.« Auch die Angestellten sind eben keineswegs die neuen Herren. Es »herrschen« eher »ihre Kontroll-, Vermittlungs-, und Verfügungs-, also kommunikativen Funktionen, die ausgeübt werden, ohne dass die Funktionäre der Verfügungsgewalt real inne wären. [Diese] gehört den Institutionen an, nicht deren Verwesern.« Der Mittelstand verfügt über »das administrativ koordinierte Kollektiv lebendiger Quantitäten«, und genau solche »quantitative Existenz ist anonyme Existenz.« Diese statistische Anonymität verdeutlicht sich am krassesten im Aktenzeichen, zu dem alle degradiert werden, letztlich auch der Verwalter selbst in seiner eigenen Personalakte. Der Mittelstand steht zwischen Kapital und dem möglichen Streik. Er »hat nur seine Ideologie.« Wichtiger als die Stellung im Klassenkampf ist Helms die Anfälligkeit für Ideologie, denn diese »fungiert als primäres Instrument des zum Interessenkampf verluderten Klassenkampf.« Es geht also vor allem um jene Angestellten, die gerade deshalb niemals streiken würden, weil dann andere merken könnten, dass ihre Arbeit völlig überflüssig ist und von niemandem vermisst wird. Am Schlimmsten betroffen sind jene aus dem weiten Bereich der Kommunikation, die am stärksten an ihrer eigenen, von ihnen immer wieder selbst mit produzierten Ideologie hängen, wie vormals nur der Bauer an seiner Scholle. Besonders in dieser Gruppe vollzieht sich die Produktion der Ideologie als »Verwandlung der Sachverhalte in Sprachverhalte.«
Helms skizzierte ein sehr feines Portrait des kleinbürgerlichen Charaktertypus bis in die 60er Jahre. Ausgehend von dem Postulat, dass für den neuen Mittelstand »Vermassung etwas anderes als für das Proletariat« darstellt, sieht Helms in eben dieser Vermassung, die sich in »Verwaltungspalästen« in Form der Wolkenkratzer manifestieren und der Konkurrenz durch Bürogeräte, die die Konkurrenz unter den Mittelständlern enorm verschärfte, Grundmotive des neuen kleinbürgerlichen Charaktertypus. Dieser hat vor allem »seine private Philosophie«, denn »mit ihr schützt er sich vor Erfahrung und Vernunft, die ihm bewiesen, dass seine Ohnmacht Ohnmacht ist.« Es ist fast immer eine Form der Lebensphilosophie – eine »Vertauschung gesellschaftlicher Fakten mit subjektiven Gefühlen.« Dabei ist er überaus flexibel und »übersetzt mit Leichtigkeit die veralteten Vokabeln in den aktuellen Jargon.« Es ist eine Bewusstseinsstruktur, die zwischen Vorfreude als schönster Freude, die im Mittelstand kein Zustand der Weihnachtszeit, sondern ein permanenter Zustand ist, auf der einen Seite und Mensch-ärger-dich-nicht, auf der anderen schwankt. Dabei ist solche repressive Ambivalenz den objektiven Bedingungen des Kleineigentümers durchaus adäquat, denn sein »Eigentum an Konsumgütern« kann nie recht übertünchen, dass er eben keines an Produktionsmitteln innehat bzw. trotz ein paar Telekom-Aktien keinerlei Einfluss auf das Treiben dieses Ladens ausübt. Sein Reich ist sein »Wohnzimmer« – von Helms völlig richtig beschrieben als »eine Mischung aus großbürgerlichem Salon und dem Allzweckgemach der Eigentumslosen.« In Konsequenz ist »das Eigenheim [nur] das selbstständig gewordene Wohnzimmer«. Es ist dabei eben so wenig Grundeigentum wie das Wohnzimmer Salon. Dass sich in diesen Wohnzimmern nicht wohnen lässt, beweist das massive Bedürfnis nach Urlaub und »Tapetenwechsel.« Die »Ferien vom Ich« sind eher Ferien vom Über-Ich, zu dem das Wohnzimmer wurde, indem es mit Autorität ausgestattet wurde – besonders wichtig die literarischen Klassiker, während die Bücher, welche man wirklich liest, im intimen Schlafzimmer liegen. Will man sich aller Lumpen entledigen, wie es Stirner fordert, steht die Freikörperkultur zur Verfügung. All dies ist eine individuelle, auf Kleineigentum bauende, Schein-Souveränität, die die reelle Machtlosigkeit übertüncht, wie die ostentative Verachtung für Materielles, das man nicht hat, den Neid. Mitreden-Können sowie Bescheid- und Besserwissen erhält zunehmend eine enorme Bedeutung in der Weimarer Republik, als in nicht gekanntem Maße Stellen nach Parteibuch vergeben wurden: »Politische Überzeugungen wurden hauptsächliches Tauschobjekt mittelständischen Feilschens.«
»Die Kritik an Stirners Ideologie hätte aus dem Mittelstand kommen müssen, doch dort ist sie jauchzend aufgenommen worden.« Was sich liest wie die Forderung nach einem Klassenbewusstsein im revolutionären Sinne oder Standpunktdenken ist nur die Erkenntnis, dass der Mittelstand seine Stellung hätte reflektieren müssen, um nicht penetrant antirevolutionär zu agieren, wie er es schließlich tat. Helms suchte die wichtigen Akteure der Verbreitung der Ideologie vor allem auch in der SPD und den Gewerkschaften mit ihrer »Politik der kleinen Forderungen und winzigen Lohnerhöhungen«, denn ohne Kollaboration dieser beiden Großrackets hätte die kleinbürgerliche Ideologie niemals eine solch immense Wirkung aufweisen können. Helms beschrieb die ideologischen Aussagen und Botschaften der Schrift(en) Stirners als »Hohlformen«, die sich rasch »von ihrem Herkunftsort abgelöst hatten und neue Verbindungen eingegangen waren.« Eben diese völlige Fungibilität der Inhalte ist das Gefährliche dieses sonst völlig absurden Schreiberlings. Was letztlich vom »Einzigen« übrig bleibt, ist nur die von Stirner in Buchform vorgezeichnete »Bewusstseinsstruktur des Mittelstandes […], die konstante Bereitschaft zur Empörung. […] Die permanente Revolution aus der Mitte ist die statistisch gebündelte und straff organisierte Empörung der einzelnen Mittelständler.« Dabei ist es Stirner selbst äußerst wichtig gewesen, dass die Leser ja nicht Revolution und Empörung verwechseln. Der Akt der Empörung ist Selbsttherapie und Aufstiegssehnsucht in einem. »Empörung ist eine Untertanentugend [und] Stirner lehrte die Einzigen, sich zu empören«, heißt es bei Helms. Laut Marx ist die Empörung schlicht »die Aufkündigung des Respekts gegen das Heilige.«2 Sie ist also scheinbar sündhafter Trotz, der sich in sich selbst gefällt, und damit ein gutes Stück weit entfernt, von dem absoluten Gehorsam, welcher irrtümlich als Grundtugend des Kleinbürgers gilt. Psychoanalytisch wäre Stirner der Philosoph des schwachen Ichs, der gegen das nie recht internalisierte Über-Ich pöbelt und sein kaum vorhandenes Ich diskursiv oder auch tätlich erhöhen muss. Helms historische Betrachtung bricht um 1957 mit einer kurzen Betrachtung des Existentialismus ab, er nimmt sie jedoch in seinem späteren Essayband »Fetisch Revolution« im Jahre 1969 wieder auf. Ernst wie es ihm war, gab er jedoch 1968 vorerst die gesammelten Schriften Stirners heraus, die entgegen gewissen Kritiken gerade in ihrer tendenziösen Kürzung das Wesen dieser Philosophie sehr gut erfasst, und mit einem ausführlichen Nachwort versehen waren. Makabererweise hatte er jedoch mit dieser Veröffentlichung zumindest Anteil an einer neuen Stirner-Welle, gegen die er sich vor allem mit »Fetisch Revolution« sofort wendete, womit er eine der frühsten Kritiken der Studentenbewegung verfasste.