»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus«

Die Schauspielerin Sophie Rois über die Volksbühne Berlin, das Theater als Gegenbühne und den Ausverkauf der Intimität im Gespräch mit Jakob Hayner

Sophie Rois, Du bist seit 1993 fest an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Du hast, ich übertreibe ein wenig, dein halbes Leben hier verbracht. Wie kam es dazu? Ein glücklicher, ein lebensprägender Zufall?

Du übertreibst nicht, es waren die entscheidenden Jahre meines Erwachsenenlebens. Ein Zufall war es wohl nicht, denn ich habe so ein Theater gesucht wie der Hund die Wurst, mit der Nase. Aber, ja, Glück muss man haben und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Vielleicht ist das auch Teil der Begabung, jedenfalls Frank Castorfs Begabung, der nach dieser sogenannten Wende an diese Volksbühne kam, an dieses spezielle Theater, schon in seiner architektonischen Erscheinung, mit der riesigen Bühne, dem nicht hierarchischen Zuschauerraum ohne Logen, mit Marmor aus der Reichskanzlei im Foyer, am Rosa-Luxemburg-Platz, vormals Horst-Wessel-Platz, historisch enorm aufgeladenes Gelände, wo Erich Mielke 1931 zwei Polizisten erschossen hat. Da hat Castorf 1992 angefangen unter dem Motto: in drei Jahren berühmt oder tot. Und das war kein launiger Spruch, das war eine Haltung. Todesverachtung und Arroganz sind unterschätzte Tugenden.
Aus der ersten Produktion bin ich dann gleich ausgestiegen. Nicht leichtfertig und mit gutem Grund, aber als Anfänger macht man sich damit nicht grade beliebt. Matthias Lilienthal (der damalige Chef-dramaturg) hat mir später erzählt, dass er zu Castorf gegangen sei und sagte, schmeiß die raus, die macht nur Ärger. Castorf war zwar ebenfalls nicht begeistert, aber er beließ es dabei. Und das war beispielhaft für eine bestimmte Praxis hier am Haus: Man muss die Menschen, mit denen man arbeitet, nicht unbedingt verstehen, um sie zu respektieren.

An der Volksbühne gab es also ein Recht auf Eigensinn?

Wenn man möchte, dass die Leute so spielen, wie sie hier spielen, und so arbeiten, wie sie hier arbeiten, kann man nicht so einen Kadavergehorsam verlangen. Aber das ist am Theater meist anders. Da herrscht strikter Gehorsam, aber auf der Bühne soll man natürlich total irre und anarchisch sein und sich dann auch gleich noch zum Golfkrieg verhalten. Und alles soll ganz wichtig sein. Wobei, wichtig ist da ja erstmal überhaupt nichts. Ich glaube nicht an eine ausgeschriebene Wichtigkeit des Theaters, das immer reagieren muss auf die nächste Schlagzeile. In dem Moment, wo man etwas auf der Bühne macht, ist es natürlich sehr wichtig, es gibt überhaupt nichts Wichtigeres. Aber zugleich ist es ganz unwichtig. Und das ist das Beste an der Sache. In ihrer ganzen Geschichte, seit ihrem Bestehen war die Volksbühne – im Gegensatz z.B. zum Deutschen Theater, nie der Ort, wo der Schauspieler an die Rampe tritt mit dieser a priori gesetzten Bedeutung. Das Kasperlhafte, das Boulevard, der blühende Blödsinn, das ist Volksbühne. Wir operieren nicht am offenen Herzen und hier wird auch niemand sterben – wenn ihm nicht gerade ein Scheinwerfer auf den Kopf fällt. Das macht den Eigensinn des Theaters aus. Dass im Theater so eine studienratsmäßige Wichtigkeit beschworen wird, ging mir schon immer wahnsinnig auf die Nerven. Was wirklich spezifisch war für die Ära Castorf und nicht zu unterschätzen ist: Es gab in der Zusammenarbeit eine Kontinuität und Verbindlichkeit, die über den kurzfristigen Erfolg hinausging. Jenseits der Inszenierungen von Castorf konnte ich mit René Pollesch und Bert Neumann was völlig Eigenständiges entwickeln. Und das ist nur gelungen, weil ich eben nicht – wie das an jedem anderen Theater wäre – mich  alle sechs Wochen als Material für einen anderen Regisseur zur Verfügung stellen muss. Das heißt, ich konnte entscheiden, mit wem ich arbeite, was ja auch angemessen ist für einen erwachsenen Menschen. Wir konnten ausprobieren. Es war nicht diese neoliberale Angstmache, wo Furcht vor dem kleinsten Fehler und unaufhörliche Selbstoptimierung zusammenfallen.

Das neoliberale Konzept funktioniert ja auch nicht. Wenn man sagt, dass schon der kleinste Fehler das völlige Versagen und quasi gleich das Weltende sei, dann gibt es keine Quelle von Erfahrung mehr. Es mag ja sein, dass die eine Inszenierung misslingt, aber wenn man damit umgehen kann, wird die nächste vielleicht doppelt so gut, weil die Erfahrung des Scheiterns da mit eingegangen ist. Dafür braucht es aber Kontinuität und Verbindlichkeit, wie Du gesagt hast.

Wenn die Richtigmacher anfangen zu produzieren, ist es sowieso vorbei. Das ist auch für mich als Schauspielerin entscheidend, denn ich kann oft nicht rechtfertigen, warum ich etwas wie mache. ich probiere etwas aus – aber beim nächsten Mal mache ich es vielleicht ganz anders.

Über Frank Castorf hast Du mal gesagt, er sei ein Mensch ohne Angst, und das habe dir gefallen. Deine Beschreibung der Volksbühne macht den Eindruck, dass etwas von dieser Angstfreiheit auch die Grundlage des Arbeitens gebildet hat.

Es ist äußerst angenehm einen Chef zu haben, der keine Angst hat. Frank Castorf operiert nicht mit Angst. Ihm gefällt das selbst nicht, wenn Menschen auf der Bühne stehen, die Angst haben. Da kommt die Arroganz wieder ins Spiel, ohne die es nicht geht. Es gibt so eine merkwürdig wahnhafte Erscheinung in der Showbranche. Bei der letzten Preisverleihung, die ich im Fernsehen gesehen habe, fielen dauernd die Worte »uneitel« und »bescheiden«. Und jene, die einen Preis bekamen, brachen in Tränen aus, stammelten und konnten ihr Glück nicht fassen. Nun ist ein Preis immer eine schöne Sache, aber bitte!

Ist das auch ein bisschen Weltverachtung? Um etwas von Bedeutung zu machen, braucht es etwas Anmaßung. Die Bühne ist quasi bedeutender als die Welt, es kann neben ihr nichts anderes geben.

Man bildet eine Gegenrealität. Man verhält sich zur Realität, wie man sie wahrnimmt, aber indem man dann Bilder macht, Versatzstücke montiert, kulturelle Versatzstücke zumeist aus anderen Texten, Filmen oder Musik, kreiert man etwas Anderes. Ein Realismus, der nur abbildhaft funktioniert, sagt mir nichts, weil mir das auch kein ästhetisches Vergnügen bereitet. Und ich muss ja nicht das, worunter ich schon in der Realität leide oder was ich in der Realität ablehne, dann nochmal abbilden. Als Kritik an Gewalt gegen Frauen auf der Bühne eine Frau zu verprügeln, hat nur eine Konsequenz, nämlich, dass wieder eine Frau verprügelt wird. In Zürich haben wir gerade »Bühne frei für Mick Levčik« gemacht, in der Regie von René Pollesch mit einem Bühnenbild des verstorbenen Bert Neumann. Das ist gebaut nach dem Modell von Caspar Neher für die Uraufführung von Bertolt Brechts »Antigone« 1948 in Chur. Und Neumann kannte dieses Modell und hat es rekonstruiert. Brecht wollte das Stück eigentlich in Zürich aufführen und das ging nicht und so sagte Bert, dass wir dem Bühnenbild nun zu seinem späten Recht verhelfen. Das war in der Zusammenarbeit mit Bert und René immer so, dass es erst das Bühnenbild gab – und die Besetzung vielleicht noch – und dann entwickelte man den Stoff. Ich liebe das, etwas vorgesetzt zu bekommen, das dann den Ausgangspunkt bildet. Und dann habe ich das Bühnenbild von Bert gesehen und ich bin schier ausgeflippt vor Vergnügen. Ich habe mir dann das Brecht-Buch zum Antigone-Modell besorgt, der bestdokumentierte Theaterflop aller Zeiten. Das ist wirklich hochinteressant, wie die  vorgegangen sind und welche Fragen sie sich gestellt haben. Als Vorlage ist es grandios, als dialektisches Modell. Wir hatten ja das weitverbreitete Vorurteil, auch René Pollesch, dass ein Brecht-Modell etwas sei, was man nur nachzubeten hätte. Aber Brecht sagte, dass es etwas unbedingt zu Veränderndes sei, weil nur daran erkennt man die historische Differenz, was sich verändert hat und die eigene geschichtliche Situation. Das Modell in Frage zu stellen, ist die Arbeit. Unser Probenprozess war eine solche Infragestellung. Ich meine damit nicht ironische Fragen, sondern ernsthafte Fragen. Wofür stirbt Antigone, zum Beispiel, warum macht die das? Das ist nicht geklärt. Und Brecht hat noch ein Vorspiel dazu verfasst, das spielt 1945, bei Tagesanbruch in Berlin. Antigone und Ismene kommen aus dem Luftschutzkeller und finden Speck und Brot und das ist ein Zeichen, dass ihr Bruder aus dem Krieg zurück ist und da freuen sie sich. Dann müssen sie aber feststellen, dass der Bruder gerade von der SS aufgehängt wird, weil er nämlich desertiert ist. Die eine Schwester sagt, jetzt ist er tot, machen wir bloß keinen Ärger, aber die andere sagt, ist mir scheißegal, die SS-Typen schlitze ich jetzt auf – ganz grob gesagt. Ich denke also an das antike Stück, ich denke aber auch an Mel Brooks Nazikomödie »Frühling für Hitler«. Und als die Schwestern Brot und Speck finden, fiel mir eine Szene von den Marx-Brothers ein, wo sie aus einem Mantel Diebesgut hervorholen. Sie machen das mit einer falschen Wand, so dass am Ende ein riesiger Berg von Sachen und lebendige Tiere aus diesem Mantel hervorbefördert wurden. Und dann haben wir das auch so gespielt: »Schau, ein Brotlaib. Und ein ganzer Speck. Und ein Schlitten. Und ein Toaster.« Und dann sagte ein Kollege, das geht nicht, ihr weicht vom Modell ab. Und anhand dessen haben wir diskutiert, was es bedeutet, anhand eines Modells zu arbeiten. Dass es darum geht, das Modell zu erweitern. Reaktionen gab es vom Publikum, weil wir so albernes Zeug mit den Nazis auf der Bühne machten, mit den SS-Kostümen. Nun, wenn schon Nazis auf der Bühne, tue ich ihnen doch nicht die Ehre an und lass sie wieder Leute treten und schlagen und umbringen und Juden verfolgen. Dann sollen sie heulen, weil sie nicht die alten Frauen spielen wollen. Das hat eben auch etwas mit der Frage nach Realität und Abbildung zu tun.

Es kann ja nicht um Verdopplung gehen. Jeder Mensch weiß, dass Nazis brutal und böse sind. Zu behaupten, dass das jetzt eine neue Erkenntnis wäre und gleich eine Kritik der Sache, ist ja naiv. Aber so wird gerade viel Theater gemacht. Das ist auch aus einem weiteren Grund sehr eigenartig, weil es voraussetzt, dass das Publikum im Grunde nichts weiß. Die Leute kommen aber mit Vorwissen ins Theater, die haben ja auch Gedanken.

Es gibt aber auch ein Publikum, das mit einer eigenartigen Haltung ins Theater geht, nämlich sich das, was man schon weiß und denkt, nochmal abzuholen. Das ist Bestätigungstheater, also unkritisches Theater. Vielleicht ist die Verwirrung über unsere Realität oder wie man sich darin bewegt, so groß, dass man eine Sehnsucht nach moralischer Einfachheit hat. Die vergewaltigte Zwölfjährige auf der Bühne, da hat man das Opfer und das absolut Böse, die Welt ist wieder klar und deutlich gemacht worden. Und das schaut man sich dann an und findet es ganz schlimm. Und sich selbst ganz toll. Ein Schweizer Film- und Fernsehregisseur hat einmal eine Kritik über ein Pollesch-Stück geschrieben. Der Inhalt war grob, dass das ja alles Unfug wäre. Dann sei er nach Hause gegangen und habe sich etwas über misshandelte bulgarische Prostituierte angeschaut, da sei es ihm wieder gutgegangen. Man sieht massenweise geschändete Weiblichkeit unter dem Banner der moralischen Anklage. Und es gibt keine Ambivalenzen, sondern nur das reine Opfer – im Gegensatz beispielsweise zu den Filmen von Sam Peckinpah. Moralische Anklage interessiert mich nicht. Gymnasialer Eifer, gibt es auch sehr viel am Theater, kann ich mir auch nicht anschauen. Zusammengefasst ist das Theater als Evangelischer Kirchentag. Und davon sind wir umstellt. Deswegen gehe ich auch so selten ins Theater.

Was Du beschreibst, verweist auch darauf, dass sich im Theater eine im Grunde theaterfeindliche Haltung durchsetzt. Theater bedeutet ja, die Welt überspielen, übertreffen zu wollen, das ist die Kritik des Theaters an der Unzulänglichkeit der Welt. Und dafür braucht man das Theater als Gegenbühne und nicht als Ort moralischer Selbstvergewisserung.

Erstaunlicherweise haben die Leute dann schon auch Spaß, wenn man so etwas macht, eine Gegenrealität. Ich freue mich, wenn mir mit meinen Kollegen so etwas gelingt. Meistens ist es ja so im Leben, dass man sich etwas wünscht und dann bekommt man das nicht oder nur eine schlechte Version davon oder so. Was das Theater betrifft, ist es für mich so, dass ich mir das noch nicht einmal hätte ausmalen können, wie schön und befriedigend das dann geworden ist, diese Zusammenarbeit. Da ist – gerade zwischen Neumann, Pollesch und mir – etwas entstanden, was keiner von uns alleine so hätte machen können. Das ist überhaupt das Schönste an der Sache.

Die Unklarheit, was man eigentlich mit dem Theater noch will, betrifft nach meinem Eindruck auch oder in besonderem Maße die Schauspieler.

Die Unsicherheit geht natürlich auch über das Theater hinaus, das ist etwas sehr Grundsätzliches. Wenn ich mir anschaue, dass Filmschauspieler heute Preise bekommen, weil sie sich tagelang durch Matsch und Eiseskälte gequält oder sich dreißig Kilo heruntergehungert haben, dann ist das die Reduktion auf pure Biologie. Deswegen wollen auch alle so alt wie möglich werden, unter den furchtbarsten Umständen. Bei Brecht gibt es den schönen Satz, der besagt, nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod. Das ist ein guter, ein kluger Satz, denn er geht nicht Richtung Heroik oder Opferkult. Er beinhaltet auch die Todesverachtung, aus der heraus man agieren kann, weil man schlechtes Leben eben mehr fürchtet. Man will ja etwas, nicht den Tod, sondern das gute Leben. Wenn es aber nur noch ums Durchhalten geht – wie beispielsweise Leonardo di Caprio in »The Revenant«, der einen Oscar bekommt, weil er sich als mehrfacher Millionär nicht zu schade war, bei Minus dreißig Grad durch die Scheiße zu robben –, dann bleibt auch nur noch das Schinden der eigenen Biologie. Diese Art von Leistungsbereitschaft wird honoriert. Wenn man aber nichts mehr zu sagen hat, als dass man fürchterlich gefroren hat, kann man es sich auch sparen. Schauspieler bilden sich natürlich auch etwas darauf ein, sich selbst zum Material zu machen.

Das ist diese eigenartige Vorstellung von Schauspielerei als Ausstellung von Leidensfähigkeit. Inzwischen ist es ja auch populär, das zudem mit der eigenen Biographie zu unterlegen. Auch an den Formaten des Privatfernsehens kann man ganz gut eine Entwicklung sehen, die ich für bezeichnend halte: die Enttabuisierung der Scham und somit Scham- und Distanzlosigkeit als Ideal. Dabei sind die Rolle und die Verstellung Errungenschaften, die der individuellen Freiheit dienen: nicht sein zu müssen, wer man ist.

Das ist der Ausverkauf der Intimität und des Privaten. Etwas anderes haben wir uns wohl nicht mehr zu geben. Es ist völlig abstrakt. Wir alle gehen aufs Klo, weinen, kotzen, haben Sex. Und das für den Ausweis tiefster Individualität zu halten, ist ja komisch – als ob man jemanden so erkennen könnte. Der Akt der Preisgabe verändert die Dinge, die man preisgibt. Die Sachen verändern sich, wenn man sie ausspricht, wenn man sie mitteilbar macht. Wir haben das auch thematisch gemacht in dem Stück »Mädchen in Uniform« von René Pollesch. Die leidenschaftliche Liebe wird vor jeder Kamera beteuert, aber kaum ist man getrennt, kommt die Verlautbarung, dass es eben doch nicht der richtige Partner war und dann wird einen Tag später der nächste präsentiert und das Spiel beginnt von vorn. Aber wer sich heute aus Liebe umbringen würde, den hält man für verrückt, der war nicht genug beim Psychotherapeuten. Aber entweder ist die Liebe das Größte oder sie ist es nicht. Aber wenn sie es nicht ist, dann können wir auch aufhören, diese ganzen Bücher und Filme darüber zu machen und andauernd darüber zu sprechen.

Das war ja auch ein Thema der Volksbühne. Ich erinnere mich, wie Wolfgang Pohrt 2012 einen Vortrag im Sternfoyer gehalten hat, wo er auf Balzac zu sprechen kam. Und Pollesch machte dann Balzacs »Glanz und Elend der Kurtisanen« mit Bezug auf Richard Sennett und Robert Pfaller. Es ging um die Frage, wie sich Individualität, Rolle und Spiel zueinander verhalten und ob nicht eine symbolische Ordnung gerade freiheitliche Momente hat, indem sie Verhalten ermöglicht, was man nicht aus diesen ominösen Tiefen des ebenso ominösen Ich schöpfen muss.

Selbstentblößung hat keinen Ausdruck, sie ist auch nicht kommunikativ. Mir imponieren Kulturen, die das Spiel der Geschlechter stark kultiviert haben. Wenn die in Italien miteinander tanzen, Paartanz – das ist so schön, weil die geschlechtliche Spannung aufgehoben ist in einer Form. Und egal, wie die Leute beschaffen sind und wie sie aussehen, sie sind schön. Es ist die Form, in der sie sich bewegen, die ihnen diese Würde gibt. Ich bin allerdings in den sechziger Jahren aufgewachsen, da gab es eine starke Stimmung, dass man das alles wegschmeißen, sich nicht schämen und sich befreien müsse. Ich war mit meinen Eltern immer beim FKK – und ich habe es gehasst. Ich dachte immer, ich wäre der Fehler, weil alle anderen sich ja so pudelwohl fühlten oder immerhin so taten. Und als Kind hat man natürlich den Fokus voll auf die Körpermitte der Erwachsenen, das sind auch keine schönen Ausblicke. Bei der Vorstellung, dass man die Verklemmung so überwinden müsste, um zu seinem Lustgewinn zu kommen, hatte ich schon immer den Verdacht, dass es das Dahinter, was sich zeigen soll, wenn man die spießige Form wegwirft, gar nicht gibt. Das hatte ich auch an der Schauspielschule: Diese Übungen, bei denen man so ganz persönlich sein sollte, das ausdrücken was in einem ist – das war der Horror! Aber gab man mir eine Krone und ich konnte sagen, »Werft ihn den Krokodilen vor!«, damit konnte ich was anfangen. Was hat das jetzt mit der Sophie aus Ottensheim zu tun? Keine Ahnung! I couldn‘t care less!

Noch einmal zur Volksbühne: Frank Castorf muss jetzt als Intendant aufhören, Bert Neumann ist vor zwei Jahren gestorben, das ist das Ende einer bestimmten Konstellation. In Castorfs Abschiedsinszenierung »Faust« hast Du einen Auftritt, wo Du »Der Leiermann« aus Schuberts »Winterreise« singst.

(singt) Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus. Lass es mich mit Wolfgang Pohrt sagen: Was ewig währt, kann man immer haben, was man immer haben kann, wird nicht kostbar sein.

Early Eighties Sophie

In Kühnen, 94 von Christoph Schlingensief

Mit Martin Wuttke